OGH 9Ob1/19s

OGH9Ob1/19s24.1.2019

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Dehn, Dr. Hargassner, Mag. Korn und Dr. Stefula in der Rechtssache der klagenden Partei ***** W*****, vertreten durch Mag. Werner Diebald, Rechtsanwalt in Köflach, gegen die beklagte Partei ***** G*****, vertreten durch Mag. Kurt Kulac, Rechtsanwalt in Graz, wegen 10.000 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Berufungsgericht vom 11. Oktober 2018, GZ 3 R 130/18m‑16, mit dem der Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Bezirksgerichts Voitsberg vom 2. August 2018, GZ 3 C 59/18p‑12, nicht Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0090OB00001.19S.0124.000

 

Spruch:

Die Revision der klagenden Partei wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 833,52 EUR (darin 138,92 EUR) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zur Frage der Ersatzfähigkeit von Schockschäden naher Angehöriger bei Missbrauchshandlungen an Minderjährigen zu.

Die Revision ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Zulassungsausspruch aufgrund bereits vorhandener Rechtsprechung zu Schockschäden naher Angehöriger unzulässig . Die Zurückweisung einer ordentlichen Revision wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage (§ 502 Abs 1 ZPO) kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 Satz 4 ZPO).

1.  Nach ständiger Rechtsprechung gebührt nahen Angehörigen eines Getöteten für den ihnen verursachten „Schockschaden“ mit Krankheitswert Schmerzengeld, weil diese „Dritten“ durch das Erleiden eines Nervenschadens in ihrem absolut geschützten Recht auf körperliche Unversehrtheit beeinträchtigt und als unmittelbar Geschädigte anzusehen sind. Die Rechtswidrigkeit einer solchen Körperverletzung wird dabei nicht aus dem Schutzzweck der Verhaltensvorschrift, die die Erstverletzung verhindern soll, sondern aus der bei Verletzung absolut geschützter Rechte gebotenen Interessenabwägung abgeleitet. Die Gefahr einer unzumutbaren Ausweitung der Haftung wird dadurch eingegrenzt, dass es eines besonders starken Zurechnungsgrundes bedarf, also die Verletzungshandlung gegenüber dem Angehörigen in hohem Maß geeignet erscheinen muss, einen Schockschaden herbeizuführen (s RIS‑Justiz RS0116865, RS0116866, RS0117794 ua).

2.  Der Ersatz eines Schockschadens mit Krankheitswert wird über Tötungsdelikte hinaus insbesondere auch bei schwerster Verletzung naher Angehöriger bejaht (RIS-Justiz RS0116965 [T9, T11]; RS0031111 [T13, T18] ua). Voraussetzung ist aber auch hier, dass die Verletzungshandlung – im Rahmen einer typisierten Betrachtung – in hohem Maße geeignet erschien, einen solchen Schockschaden herbeizuführen (RIS-Justiz RS0031111 [T22], RS0116865 [T9, T11], vgl 2 Ob 53/05s: keine „schwerste“ Verletzung bei posttraumatischem Belastungssyndrom). Schwerste Verletzungen sind solche, bei denen die Nachricht auf den nahen Angehörigen typischerweise ähnlich wie eine Todesnachricht wirkt (RIS‑Justiz RS0031111 [T29] = RS0116865 [T20]). Die Verletzungen des Opfers müssen im Zeitpunkt der Nachricht von einer solchen Schwere sein, dass entweder akute Lebensgefahr oder die konkrete Gefahr dauernder Pflegebedürftigkeit besteht (RIS-Justiz RS0127926, RS0031111 [T32], 2 Ob 136/11f). Andere schwere Verletzungen, die nicht einem Pflegefall gleichkommen, werden in der Regel nicht als haftungsbegründend anerkannt (vgl 2 Ob 70/14d). Insoweit hält die Rechtsprechung an den stets betonten engen Grenzen der Ersatzfähigkeit von Schockschäden fest (2 Ob 136/11f).

3.  Als Tathandlung für den Ersatz krankheitswertiger Schockschäden naher Angehöriger kommen aber nicht nur Tötungsdelikte und Delikte mit schwersten Verletzungsfolgen des Erstgeschädigten in Betracht. Wertungsmäßig vergleichbare massivste Beeinträchtigungen der immateriellen Interessen naher Angehöriger wurden etwa auch bei Vertauschung eines neugeborenen Kindes auf der Geburtenstation (4 Ob 208/17t = RIS-Justiz RS0132001) anerkannt.

4.  Davon ausgehend kann nicht zweifelhaft sein, dass auch die Verletzung des absolut geschützten Persönlichkeitsrechts der geschlechtlichen Selbstbestimmung (s § 1328 ABGB) und insbesondere auch sexueller Missbrauch von Minderjährigen grundsätzlich eine Tathandlung ist, die – in der Regel abhängig von ihrem Schweregrad – bei der unmittelbar betroffenen Person schwere psychische und seelische Verletzungen oder Traumatisierungen herbeiführen kann, wegen des besonderen Unrechtsgehalts (Vorsatztat) und der möglichen Auswirkungen in der Folge aber auch bei nahen Angehörigen Schockschäden und Belastungsreaktionen im Sinn von krankheitswertigen seelischen Schmerzen auslösen kann. Nicht anders als bei Körperverletzungshandlungen besteht dagegen kein Grund zur Annahme, dass Missbrauchshandlungen in jedem Fall, dh unabhängig von der jeweiligen Art der Verletzungshandlung, der Schwere der Tat und den konkreten Folgen, Ansprüche naher Angehöriger begründen, weil ihre eigene Beeinträchtigung nur als Reaktion auf eine konkrete Tat und ihre Auswirkungen für das Opfer verstanden werden kann.

5.  Die Frage, ob die physische oder psychische Beeinträchtigung des Opfers ein solches Ausmaß erreicht, dass nach den diesbezüglichen Kriterien Schadenersatz für die dadurch ausgelöste seelische Gesundheitsschädigung eines nahen Angehörigen zuerkannt werden kann, entzieht sich aber einer allgemeinen Aussage des Obersten Gerichtshofs. Entscheidend sind vielmehr die konkreten Umstände des Einzelfalls, sodass in der Regel keine Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zu beantworten ist (RIS-Justiz RS0116865 [T13]).

6.  Hier gingen die Vorinstanzen davon aus, dass die von der Rechtsprechung in Bezug auf die Verletzungen des Opfers geforderte hohe Erheblichkeitsschwelle für Schmerzengeldansprüche Dritter noch nicht erreicht wurde, wofür das Berufungsgericht auch auf die reifere, eigenständigere und selbstbewusstere Reaktion der neuneinhalb Jahre alten Tochter, als es ihrem Alter entspräche, verwies (Abwehr des Beklagten, der ihr bei zwei Vorfällen in die Unterhose gegriffen und sie betastet hatte; umgehendes Verlassen des Tatorts; sofortige Information der Mutter). Ein etwa mit dem Sachverhalt der Entscheidung 13 Os 139/17s (Vollzug des Beischlafs an einer Zweijährigen) vergleichbarer Fall liegt nicht vor. Auch die weiteren von der Klägerin zitierten Entscheidungen legen kein anderes Ergebnis nahe (2 Ob 79/00g: psychische Erkrankung infolge Unfalltod des Sohnes; 9 Ob 83/09k: Schockschaden infolge ärztlichen Kunstfehlers mit Todesfolge; 2 Ob 163/06v: schwerste Verletzungen der Tochter mit Dauerfolgen; 2 Ob 136/11f: familiäre Belastungssituation bei schweren Verletzungen der Ehefrau ohne akute Lebensgefahr nicht ausreichend; 2 Ob 189/16g: schwerste Verletzungen der Tochter; mangels grober Fahrlässigkeit kein Trauerschmerzengeld). Ohne die erlittenen psychischen und seelischen Belastungen der Tochter der Klägerin zu verkennen, haben die Vorinstanzen bei ihrer Entscheidung, dass hier noch keine Beeinträchtigungen vom genannten Schweregrad vorliegen, damit den von der Rechtsprechung gezeichneten Beurteilungsrahmen nicht verlassen.

7.  Sekundäre Feststellungsmängel liegen nicht vor. Die von der Klägerin begehrten Feststellungen bieten keine ausreichenden Anhaltspunkte für solche Tatfolgen, die die dargelegte, an schwersten Verletzungen ausgerichtete Erheblichkeitsschwelle für Schmerzengeldansprüche naher Angehöriger übersteigen würden. Für eine konkrete Gefahr einer dauernden oder zumindest längerfristigen Pflege- oder Behandlungsbedürftigkeit der Tochter wurde kein hinreichendes Vorbringen erstattet. Der Verweis auf Urkunden ist nicht ausreichend (s RIS-Justiz RS0037915, RS0001252 ua). Auf den Gesundheitszustand der Klägerin, zu dem sie ebenso weitere Feststellungen vermisst, kommt es danach nicht entscheidend an.

8.  Mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

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