OGH 7Ob145/18a

OGH7Ob145/18a26.9.2018

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen L* I*, geboren am * 2013, vertreten durch die Mutter H* I*, vertreten durch Dr. Marco Nademleinsky, Rechtsanwalt in Wien, Vater S* A*, vertreten durch Mag. Brigitta Hülle, Rechtsanwältin in Wien, wegen Unterhalt, über den Revisionsrekurs der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 22. September 2016, GZ 45 R 375/16d, 45 R 492/16k‑59, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Fünfhaus vom 31. Mai 2016, GZ 15 Pu 252/15m‑40, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 2. Juni 2016, GZ 15 Pu 252/15m‑43, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:E123523

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

I. Das mit Beschluss vom 25. Jänner 2017, AZ 7 Ob 208/16p, gemäß § 90a GOG ausgesetzte Verfahren wird fortgesetzt.

II. Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

Die Eltern und die Minderjährige sind deutsche Staatsbürger. Sie lebten bis 27. 5. 2015 in Deutschland. Am 28. 5. 2015 übersiedelten die Mutter und die Minderjährige nach Österreich, wo sie seither ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben.

Mit Antrag vom 18. 5. 2016 dehnte die Minderjährige, vertreten durch ihre Mutter, ihren Antrag vom 18. 5. 2015 dahin aus, dass sie vom Vater – soweit hier von Bedeutung – auch die Leistung eines rückwirkenden Unterhalts für den Zeitraum 1. 6. 2013 bis 31. 5. 2015 begehrt. Es gelte nach Art 3 Abs 1 des Haager Protokolls über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht 2007 [HUP] deutsches Unterhaltsrecht. Die Minderjährige könne von ihrem Vater keinen Unterhalt verlangen, weil die Voraussetzungen zur Geltendmachung rückständigen Unterhalts nach deutschem Recht (§ 1613 BGB) nicht erfüllt seien. Nach dem Günstigkeitsprinzip des Art 4 Abs 2 HUP gelange daher österreichisches Recht zur Anwendung, das eine derartige Verfristung nicht vorsehe.

Der Vater hält dem entgegen, dass Art 4 Abs 2 HUP nicht auf Fälle, in denen einzelne Unterhaltsbeträge verjährt oder verfristet seien, zur Anwendung gelange. Hinzu komme, dass die subsidiäre Anwendung des am Ort des angerufenen Gerichts geltenden Rechts nach Art 4 Abs 2 HUP nur in Betracht kommen könne, wenn das Verfahren von der verpflichteten Partei eingeleitet oder wenn die angerufene Behörde die Behörde des Staats sei, in dem keine der Parteien ihren Aufenthalt hätte. Hier habe die Berechtigte das Gericht ihres nunmehrigen gewöhnlichen Aufenthalts angerufen. Weiters könne insbesondere in Fällen eines möglichen rückwirkenden Unterhaltsanspruchs nach einem Umzug der berechtigten Person nicht von der Anwendbarkeit des Art 4 Abs 2 HUP ausgegangen werden. Es bleibe bei der Beurteilung nach deutschem Recht.

Das Erstgericht wies den Antrag der Minderjährigen, den Vater zu einem rückwirkenden Unterhalt für die Zeit von 1. 6. 2013 bis 31. 5. 2015 zu verpflichten, ab. Gemäß Art 3 HUP sei für die Zeit bis Ende Mai 2015 deutsches Recht anzuwenden. Nach deutschem Recht seien die Voraussetzungen zur Geltendmachung rückständigen Unterhalts bis Ende Mai 2015 nicht gegeben. Art 4 Abs 2 HUP beziehe sich nur auf Ansprüche, die seit Begründung des neuen gewöhnlichen Aufenthalts entstanden seien, frühere Ansprüche seien dagegen weiterhin nach Art 3 Abs 1 HUP zu beurteilen, soweit für diesen Zeitraum überhaupt eine internationale Zuständigkeit im Sinn des Art 3 der Europäischen Unterhaltsverordnung (EuUVO) gegeben sei.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und folgte der Begründung des Erstgerichts.

Es sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil Rechtsprechung des Höchstgerichts zu der Frage, ob aufgrund des Umstands, dass Unterhaltsbeträge nach dem nach Art 3 HUP materiell berufenen Recht verjährt oder verfristet wären, ein Anwendungsfall von Art 4 Abs 2 HUP begründet sein könnte, sowie zu der Frage, ob die Anwendung deutschen Unterhaltsrechts, nach dem Unterhaltsansprüche für die Vergangenheit ausgeschlossen seien, dem österreichischen ordre public widerspreche, nicht vorliege.

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Revisionsrekurs der Minderjährigen mit einem Aufhebungsantrag.

Der Vater begehrt, den Revisionsrekurs zurückzuweisen, hilfsweise ihm keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Aufgrund des Revisionsrekurses hat der Senat mit Beschluss vom 25. Jänner 2017, AZ 7 Ob 208/16p, dem EuGH gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist die Subsidiaritätsanordnung des Art 4 Abs 2 des Haager Protokolls über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht 2007 so auszulegen, dass diese nur zur Anwendung gelangt, wenn der das Unterhaltsverfahren einleitende Antrag in einem anderen Staat als dem des gewöhnlichen Aufenthalts des Unterhaltsberechtigten eingebracht wird?

Wird diese Frage verneint:

2. Ist Art 4 Abs 2 des Haager Protokolls über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht 2007 dahin auszulegen, dass sich die Wendung „kein Unterhalt“ auch auf Fälle bezieht, in denen das Recht des bisherigen Aufenthaltsorts bloß mangels Einhaltung bestimmter gesetzlicher Voraussetzungen keinen Unterhaltsanspruch für die Vergangenheit vorsieht?

Der EuGH hat mit Urteil vom 7. Juni 2018, C‑83/17 , wie folgt geantwortet:

1. Art 4 Abs 2 des Haager Protokolls vom 23. November 2007 über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht, das mit dem Beschluss 2009/141/EG des Rates vom 30. November 2009 im Namen der Europäischen Gemeinschaft gebilligt wurde, ist dahin auszulegen, dass

‑ der Umstand, dass der Staat des angerufenen Gerichts jenem entspricht, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, der Anwendung dieser Bestimmung nicht entgegensteht, wenn durch die in dieser Bestimmung vorgesehene subsidiäre Anknüpfungsregel ein anderes Recht bestimmt wird als durch die in Art 3 des Haager Protokolls vorgesehene primäre Anknüpfungsregel;

‑ auf einen Fall, in dem die unterhaltsberechtigte Person, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt gewechselt hat, bei den Gerichten des Staats ihres neuen gewöhnlichen Aufenthalts gegen die verpflichtete Person einen Antrag auf Zahlung von Unterhalt für einen vergangenen Zeitraum stellt, in dem sie sich in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht, das auch das Recht des Staats ihres neuen gewöhnlichen Aufenthalts ist, Anwendung finden kann, wenn die Gerichte des Mitgliedstaats des angerufenen Gerichts für Unterhaltsstreitigkeiten, die diese Parteien betreffen und sich auf den genannten Zeitraum beziehen, zuständig waren.

2. Die in Art 4 Abs 2 des Haager Protokolls vom 23. November 2007 enthaltene Wendung „kann ... keinen Unterhalt erhalten“ ist dahin auszulegen, dass sie auch den Fall erfasst, dass die berechtigte Person nach dem Recht des Staates, in dem sie früher ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, keinen Unterhalt erhalten kann, weil sie bestimmte nach diesem Recht bestehende Voraussetzungen nicht erfüllt.

Nach Vorliegen der Vorabentscheidung ist das Revisionsrekursverfahren fortzusetzen.

In der Sache ist der Revisionsrekurs zulässig; er ist aber nicht berechtigt.

1. Aufgrund der Vorabentscheidung ist davon auszugehen, dass österreichisches Recht auf den hier geltend gemachten Unterhaltsanspruch nur dann Anwendung findet, wenn österreichische Gerichte für die Unterhaltsstreitigkeiten zwischen den Parteien zuständig waren.

Die Minderjährige und ihre Eltern – alle deutsche Staatsbürger – hatten auch ihren Wohnsitz bis Ende Mai 2015 in Deutschland. Vor Übersiedlung der Minderjährigen nach Österreich bestanden somit keine die Zuständigkeit österreichischer Gerichte begründenden Umstände im Sinne der Art 3 ff der Verordnung (EG) 2009/4 des Rates vom 18. 12. 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (EuUVO). Daraus folgt, dass Art 4 Abs 2 HUP im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung gelangt. Vielmehr bleibt es für die Beurteilung des anzuwendenden Rechts bei der allgemeinen Regel des Art 3 HUP.

2.1 Gemäß Art 3 Abs 2 HUP ist das österreichische Recht erst ab dem Zeitpunkt anzuwenden, zu dem die Minderjährige ihren Aufenthalt in Österreich begründet hat. Für den vorliegenden Zeitraum von Juni 2013 bis Mai 2015 ist das Recht des Staats anzuwenden, in dem die Minderjährige damals ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte und somit deutsches Recht.

2.2 Im deutschen Unterhaltsrecht besteht das allgemeine Prinzip, dass ein Unterhaltsanspruch für die Vergangenheit nicht geltend gemacht werden kann. Der hier interessierende § 1613 Abs 1 BGB beschränkt sich darauf, die Ausnahmen von diesem Grundsatz zu regeln, nämlich bei Aufforderung zur Auskunftserteilung, Schuldnerverzug nach Inverzugsetzung oder Rechtsanhängigkeit des Unterhaltsanspruchs. Unstrittig liegt eine der genannten Ausnahmen nicht vor, weshalb die Parteien auch übereinstimmend davon ausgehen, dass für den gegenständlichen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach deutschem Recht ein Unterhaltsanspruch nicht besteht.

3.1 Weil die ordre public‑Klausel eine systemwidrige Ausnahme darstellt, wird allgemein deren sparsamster Gebrauch gefordert (RIS‑Justiz RS0110743, RS0077010), eine schlichte Unbilligkeit des Ergebnisses genügt ebensowenig wie der bloße Widerspruch zu zwingenden österreichischen Vorschriften. Gegenstand der Verletzung müssen vielmehr Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung sein. Zweite wesentliche Voraussetzung für das Eingreifen der Vorbehaltsklausel ist, dass das Ergebnis der Anwendung fremden Sachrechts und nicht bloß dieses selbst anstößig ist und überdies eine ausreichende Inlandsbeziehung besteht (RIS‑Justiz RS0110743). Dass die Geltendmachung von Unterhalt für die Vergangenheit einen in § 1613 Abs 1 BGB genannten Ausnahmefall voraussetzt, ist nicht bedenklich. Außerdem sieht auch das österreichische Recht in § 72 EheG eine vergleichbare Regelung vor (vgl RIS‑Justiz RS0122059, RS0106452, RS0057365).

4. Damit ist dem Revisionsrekurs keine Folge zu geben.

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