OGH 4Ob88/18x

OGH4Ob88/18x11.6.2018

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.‑Prof. Dr. Brenn, Dr. Rassi und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei F***** Unternehmen *****, Russland, vertreten durch Binder Grösswang Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei S***** B. V., *****, Luxemburg, vertreten durch Brauneis Klauser Prändl Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Unterlassung, Beseitigung, Urteilsveröffentlichung und Rechnungslegung (Streitwert 112.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 5. Februar 2018, GZ 2 R 172/14y‑413, mit dem das Urteil des Landesgerichts Linz vom 12. August 2014, GZ 5 Cg 206/04w‑168, (im zweiten Rechtsgang) abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:0040OB00088.18X.0611.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Das Urteil des Berufungsgerichts wird als nichtig aufgehoben. Die Rechtssache wird an das Berufungsgericht zurückverwiesen und diesem die neuerliche Entscheidung über die Berufung der beklagten Partei aufgetragen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

 

Begründung:

Die Parteien streiten im zweiten Rechtsgang (zum vorangegangenen Verfahrensablauf vgl auch 4 Ob 30/15p) um die Rechte an den (österreichischen) Marken „Moskovskaja“ und „Stolichnaja“ für Wodka. Inhaber der Marken war ursprünglich ein russischer Staatsbetrieb. Im Zusammenhang mit dessen Privatisierung Anfang der 1990er‑Jahre und deren Rückgängigmachung ab dem Jahr 2000 stellt sich zur Klärung der Frage, welche der Parteien materiell Berechtigte aus den strittigen Marken ist, die Vorfrage, welches Unternehmen Rechtsnachfolger des russischen Staatsbetriebs ist.

Am 5. September 1991 fand die eigentliche Gründungsversammlung jener russischen Handelsgesellschaft statt, auf deren Markenrechte sich die Beklagte (als deren Rechtsnachfolgerin) beruft und dessen Gründung nach dem Standpunkt der Klägerin nach den in Russland damals in Geltung gestandenen Rechtsvorschriften ungültig gewesen sein soll. Am 20. Jänner 1992 wurde dieses Unternehmen in das Moskauer Handelsregister und am 24. Juni 1992 in das staatliche russische Register der Aktiengesellschaften eingetragen. Am 19. April 1994 beantragte das Unternehmen beim Österreichischen Patentamt, die Änderung des Namens der Inhaberin der hier gegenständlichen Marken im Markenregister ersichtlich zu machen; dies erfolgte mit Beschluss vom 8. Juni 1994.

Beginnend mit dem Jahr 2000 wurden in der Russischen Föderation Maßnahmen zur Wiedereingliederung privatisierten Staatseigentums eingeleitet. Aufgrund einer im November 2000 vom stellvertretenden Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation eingebrachten Klage gegen das privatisierte Unternehmen wurde ein Verfahren zur Frage der Gültigkeit der Satzungsbestimmungen vor dem Schiedsgericht der Stadt Moskau eingeleitet. Mit Urteil vom 21. Dezember 2000 erklärte das Schiedsgericht die Rechtsnachfolgeklausel hinsichtlich des privatisierten Unternehmens für ungültig. Das Präsidium des Obersten Schiedsgerichts der Russischen Föderation bestätigte mit Beschluss vom 16. Oktober 2001 letztlich dieses Urteil.

Die Klägerin hat schon vor den niederländischen Gerichten gegen die Beklagte ein Verfahren betreffend die Inhaberschaft und die Verletzung von Benelux‑Marken geführt. Dazu ist im vorliegenden Verfahren strittig, ob die im dortigen Verfahren ergangenen Entscheidungen der niederländischen Gerichte vor allem zu der hier gegenständlichen Verjährungsfrage (Verjährung der Geltendmachung der Nichtigkeit der russischen Umwandlung durch die Klägerin) nach den einschlägigen Normen des Unionsrechts für die österreichischen Gerichte bindend sind.

Im 2003 anhängig gemachten niederländischen Verfahren wurde zunächst am 14. Juni 2006 von der Rechtbank Rotterdam ein „Zwischenurteil“ (dabei handelt es sich um eine Entscheidung zu bestimmten Vorfragen) gefällt. In dieser Entscheidung wurde ausgesprochen, dass die fraglichen Benelux‑Marken im Eigentum des russischen Staatsbetriebs verblieben sind. Das Berufungsgericht (Gerechtshof ´s-Gravenhage) hat mit Urteil vom 24. Juli 2012 dieses erstinstanzliche Zwischenurteil inhaltlich bestätigt und beurteilt, dass die Privatisierung nicht wirksam gewesen sei, die Klägerin im Markenstreit aktiv legitimiert sei und der Verjährungseinwand der Beklagten (gegen die Geltendmachung der Nichtigkeit der russischen Umwandlung) nicht stichhaltig sei. Der Hoge Raad der Nederlanden hat am 20. Dezember 2013 der Revision der Beklagten nicht Folge gegeben. In dieser Entscheidung wurde ausgesprochen, dass die Verjährung der Möglichkeit, sich auf die Ungültigkeit der russischen Umwandlung zu berufen, nicht zum Erwerb der Markenrechte führe und die Verjährungsfrage für die Aktivlegitimation daher nicht relevant sei, sowie dass die fraglichen Benelux‑Marken nicht auf dem Weg der Gesamtrechtsnachfolge auf die privatisierte Handelsgesellschaft übergegangen seien.

Am 25. März 2015 hat das Erstgericht (Rechtbank Rotterdam) das Endurteil im niederländischen Verfahren gefällt. Darin hat es ausgesprochen, dass 1. keine rechtsgültige Umwandlung stattgefunden habe und die Markenrechte nicht im Weg der Gesamtrechtsnachfolge auf die privatisierte Handelsgesellschaft (und damit auch nicht auf die Beklagte) übergegangen seien, 2. die Klägerin klageberechtigt sei, 3. die Beklagte beim Erwerb der Markenrechte von der Handelsgesellschaft nicht gutgläubig gewesen sei und 4. die Klage (Geltendmachung der Nichtigkeit der Umwandlung durch die Klägerin) nicht verjährt sei. In der Begründung dieser Entscheidung wurde ausgeführt, dass kein Grund für ein Abgehen von der bisherigen Beurteilung bestehe, weil die Rechtbank Rotterdam an die bisher im Verfahren geäußerten Ansichten gebunden sei. Das Berufungsgericht bestätigte mit Urteil vom 9. Jänner 2018 diese Entscheidung in den hier fraglichen Punkten. Die Revisionsfrist gegen das Endurteil des Berufungsgerichts ist (nach dem Rechtsgutachten und auch nach der Angabe der Beklagten) am 9. April 2018 abgelaufen; die Beklagte bringt dazu vor, von der Möglichkeit der Revision Gebrauch gemacht zu haben.

Nach Art 236 Abs 1 des niederländischen Zivilprozessgesetzes haben Entscheidungen, die das streitgegenständliche Rechtsverhältnis betreffen und in einem rechtskräftig gewordenen Urteil ergangen sind, in einer anderen Rechtssache zwischen denselben Parteien bindende Wirkung. Die objektive Wirkung der materiellen Rechtskraft beschränkt sich nach niederländischem Recht nicht nur auf die Entscheidungen, die im Urteilsspruch enthalten sind, sondern umfasst auch die dem Urteil zugrundeliegenden Erwägungen im Sinn von Vorfragen. Die Bindungswirkung der materiellen Rechtskraft erstreckt sich daher nicht nur auf den Spruch, sondern auch auf Vorfrageentscheidungen. Eine Vorfrageentscheidung muss eine („tragende“) Entscheidung sein, die das streitgegenständliche Rechtsverhältnis betrifft. Voraussetzung für den Eintritt der Bindungswirkung ist die formelle Rechtskraft. Es können daher nur Endurteile bzw Vorfrageentscheidungen in einem Endurteil oder aber Teilurteile bzw Vorfrageentscheidungen in einem Teilurteil, die nicht mehr mit ordentlichen Rechtsmitteln (Widerspruch, Berufung, Revision) angefochten werden können, materielle Rechtskraft entfalten. Vorfrageentscheidungen in einem „Zwischenurteil“ können daher erst dann materielle Rechtskraft und damit Bindungswirkung entfalten, wenn ein dem Zwischenurteil nachfolgendes Endurteil oder Teilurteil in formelle Rechtskraft erwachsen ist. Es können aber einzelne Vorfrageentscheidungen in einem Endurteil (oder Teilurteil) auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten formell rechtskräftig werden, nämlich dann, wenn die Parteien eine solche Vorfrageentscheidung entweder tatsächlich nicht anfechten oder nicht mehr anfechten können. Von der Bindungswirkung ist die Bindung an eine Entscheidung im selben Verfahren zu unterscheiden. Im Verhältnis von Zwischenurteil und darauffolgendem Endurteil gilt Folgendes: Ein Zwischenurteil (Vorfrageentscheidung) darf nur einmal (mit Berufung und Revision) angefochten werden, und zwar entweder „zwischenzeitlich“ mit Genehmigung des Gerichts (Rechtsmittel gegen das Zwischenurteil) oder gleichzeitig mit der Anfechtung gegen das Endurteil bzw Teilurteil (Rechtsmittel gegen die endgültige Entscheidung).

Die Klägerin macht mit Klage vom 16. Juli 2004 als Rechtsnachfolgerin des ursprünglich berechtigten russischen Staatsbetriebs Unterlassungs-, Beseitigungs-, Urteilsveröffentlichungs- und Rechnungslegungsansprüche aus den erwähnten österreichischen Marken aufgrund von in Österreich gesetzten Benützungs- und Verletzungshandlungen der Beklagten geltend. Sie bringt dazu vor, dass der ihre Rechtsvorgängerin betreffende Privatisierungsvorgang in den Jahren 1990 und 1991 aufgrund verschiedener Mängel zu keiner wirksamen Umwandlung des Staatsbetriebs in die Rechtsvorgängerin der Beklagten geführt habe. Aus diesem Grund sei die materielle Berechtigung aus den fraglichen österreichischen Marken bei der Rechtsvorgängerin der Klägerin verblieben. Zu dieser Frage sei hinsichtlich der fraglichen Benelux‑Marken vor den niederländischen Gerichten bereits ein Verfahren geführt worden, in dem die Umwandlung in die russische Handelsgesellschaft als nichtig sowie die von der Beklagten behauptete Gesamtrechtsnachfolge als rechtsunwirksam festgestellt worden sei. Die österreichischen Gerichte seien an diese Beurteilung gebunden.

Die Beklagte entgegnete, dass sie – aufgrund der wirksamen Gesamtrechtsnachfolge und Markenrechts-übertragung – Inhaberin der fraglichen österreichischen Marken geworden sei; dementsprechend sei sie auch in das Markenregister eingetragen worden. Die Klägerin könne nach Maßgabe der russischen Rechtsvorschriften infolge Verjährung die behaupteten Mängel des Privatisierungsvorgangs nicht mehr geltend machen.

Das Erstgericht gab mit Urteil vom 12. August 2014 den (Haupt-)Klagebegehren statt. Zur Verjährungsfrage (Verjährung der Geltendmachung der Nichtigkeit der russischen Umwandlung bzw der Unwirksamkeit der Gesamtrechtsnachfolge) sehe das russische Recht eine zehnjährige Verjährungsfrist vor. Die Verjährungsfrist habe mit Eintragung der russischen Handelsgesellschaft am 20. Jänner 1992 zu laufen begonnen. Bei Klagsführung des russischen Generalstaatsanwalts im November 2000 auf Nichtig- bzw Unwirksamerklärung der Satzungsbestimmungen sei die Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen gewesen.

Das Berufungsgericht wies mit Urteil vom 5. Februar 2018 (auch im nunmehrigen zweiten Rechtsgang des Berufungsverfahrens nach Aufhebung seines Urteils vom 10. 12. 2014) sämtliche auf die österreichischen Marken gestützten Ansprüche der Klägerin gegen die Beklagte ab. Gleichzeitig sprach es aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 30.000 EUR übersteige und die ordentliche Revision zulässig sei, weil zur Frage, ob die erst während des Rechtsmittelverfahrens eingetretene Bindungswirkung einer präjudiziellen Entscheidung noch zu berücksichtigen ist, höchstgerichtliche Rechtsprechung fehle.

Die Geltendmachung der Nichtigkeit der Umwandlung des russischen Staatsbetriebs in die privatisierte Handelsgesellschaft durch die Klägerin sei verjährt. Ob die Entscheidungen im niederländischen Verfahren in der Verjährungsfrage Bindungswirkung entfalten könnten, hänge davon ab, welcher Prozessstand des niederländischen Verfahrens der Beurteilung zugrunde zu legen sei. Nach Ansicht des Berufungsgerichts sei dafür der Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz im österreichischen Verfahren am 10. 4. 2014 maßgebend. Die Frage, ob eine bestimmte andere Entscheidung vor Schluss der mündlichen Verhandlung ergangen sei, sei nämlich ein Faktum, damit Teil des Sachverhalts und unterliege dem Neuerungsverbot. Diese Prüfung führe zum Ergebnis, dass die Entscheidungen im niederländischen Verfahren nicht zu berücksichtigen seien. Davon abgesehen liege keine (nach der EuGVVO) anerkennungsfähige Entscheidung vor, weil die Entscheidung des Hoge Raad (zum Zwischenurteil) nicht erkennen lasse, dass sich dieses Gericht materiell mit der Verjährung nach russischem Recht befasst habe.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin, die auf eine Wiederherstellung der stattgebenden Entscheidung des Erstgerichts, in eventu auf eine Aufhebung des Urteils des Berufungsgerichts abzielt.

Mit ihrer Revisionsbeantwortung beantragt die Beklagte, die Revision zurückzuweisen, in eventu, dieser den Erfolg zu versagen.

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht gegen die Bindungswirkung der präjudiziellen Entscheidungen im niederländischen Verfahren verstoßen hat. Die Revision ist im Sinn des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Die geltend gemachten Mängel des Berufungsverfahrens liegen nicht vor.

Das Berufungsgericht hat zur Privatisierung des russischen Staatsbetriebs Anfang der 1990iger‑Jahre nicht zusätzliche Feststellungen getroffen, sondern Schlussfolgerungen aus den erstgerichtlichen Feststellungen gezogen (vgl RIS‑Justiz RS0118191). Das Berufungsgericht ist daher nicht von den Feststellungen abgewichen.

Bei einem Rechtsgutachten müssen die Förmlichkeiten der §§ 351 ff ZPO nicht zwingend eingehalten werden (Rechberger in Fasching/Konecny 3 § 271 ZPO Rz 3). Bei der Ermittlung ausländischen Rechts durch – insbesondere ausländische – Sachverständige kann das Gericht daher auch gegen den Willen der Parteien davon absehen, dass der Sachverständige sein Rechtsgutachten in einer mündlichen Verhandlung erörtert (Kralik, Das fremde Recht vor dem Obersten Gerichtshof, FS Fasching 297 [307]).

Auch ein Erörterungsmangel nach § 182a ZPO liegt im gegebenen Zusammenhang nicht vor, weil die Parteien ausgiebig Gelegenheit hatten, sich zu den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen in seinem Rechtsgutachten samt Ergänzungen zu äußern und ergänzende Fragen zu stellen.

2.1 In rechtlicher Hinsicht wirft die Klägerin dem Berufungsgericht vor allem einen Verstoß gegen die Bindungswirkung der Entscheidungen im niederländischen Verfahren vor. Die Bindungswirkung der Entscheidung eines Gerichts in einem anderen EU‑Mitgliedstaat sei in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu berücksichtigen.

Damit ist die Klägerin im Recht.

2.2 Der erkennende Senat hat schon im ersten Rechtsgang geklärt, dass

‑ sich die Frage, ob die Geltendmachung der Nichtigkeit des die Gesamtrechtsnachfolge bewirkenden Rechtsgeschäfts verjährt ist, nach dem Sitzrecht der betroffenen russischen Handelsgesellschaft richtet,

‑ es für die Wahrung der (nach russischem Recht) zehnjährigen Verjährungsfrist grundsätzlich auf die Einbringung der Klage im vorliegenden Verfahren ankommt und

‑ sich das Urteil des russischen Schiedsgerichts auf die Verjährung nicht ausgewirkt, also die Verjährungsfrist nicht unterbrochen hat,

sowie weiters, dass

‑ die objektiven Grenzen der Rechtskraft der niederländischen Gerichtsentscheidungen nach niederländischem Recht zu beurteilen sind und

‑ daher entscheidend ist, ob das niederländische Recht eine erweiterte Rechtskraftwirkung in Bezug auf Vorfragen kennt, weil in diesem Fall die österreichischen Gerichte an die Beurteilung der Verjährungsfrage (Verjährung der Geltendmachung der Nichtigkeit der russischen Umwandlung) in den niederländischen Entscheidungen gebunden sind.

2.3 Zum letzten Punkt ist im Wesentlichen festzuhalten, dass der Grundsatz der entschiedenen Rechtssache auch im internationalen Kontext gilt. Urteile und Beschlüsse ausländischer Gerichte äußern im Inland daher materielle Rechtskraft, wenn sie nach dem internationalen Zivilverfahrensrecht – hier auf Basis der EuGVVO 2001 – im Inland anzuerkennen sind. Art 33 Abs 1 EuGVVO 2001 (Art 36 Abs 1 EuGVVO 2012) geht vom Grundsatz der automatischen Anerkennung aus. Ausländische Entscheidungen im Sinn von Art 32 EuGVVO 2001 (Art 2 lit a EuGVVO 2012) sind in jedem Mitgliedstaat ipso iure ohne weiteres Verfahren anzuerkennen. Die Anerkennung führt zur Wirkungserstreckung. Dies bedeutet, dass der ausländischen Entscheidung im Inland die gleichen rechtlichen Wirkungen wie im Urteilsstaat zukommen (EuGH Rs 145/86, Hoffmann, Rn 11; C‑420/07, Meletis, Rn 66; C‑456/11, Gothaer Allgemeine Versicherung, Rn 34; Leible in Rauscher, EuZPR-EuIPR4 Art 36 Brüssel Ia‑VO Rz 4; Rassi in Fasching/Konecny 2 Art 33 EuGVVO Rz 5).

Die bedeutendste anzuerkennende Urteilswirkung ist jene der materiellen Rechtskraft. Nach dem Grundsatz der Wirkungserstreckung, der den anzuerkennenden Inhalt der Rechtskraftwirkung betrifft, sind die objektiven und subjektiven Grenzen der Rechtskraft dem Recht des Urteilsstaats zu entnehmen (9 Ob 88/10x; 4 Ob 30/15p). Die Anerkennung erstreckt sich sowohl auf die Einmaligkeitswirkung als auch auf die Bindungs- und Präklusionswirkung (Leible in Rauscher 4 Art 36 Brüssel Ia‑VO Rz 5 und 9).

3.1 Zunächst ist zu prüfen, ob das Berufungsgericht die Entscheidungen im niederländischen Verfahren (betreffend die Benelux‑Marken) hätte berücksichtigen müssen. Diese Frage ist zu bejahen.

3.2 Ob die Rechtskraft einer – nach der EuGVVO anzuerkennenden – ausländischen Entscheidung von Amts wegen oder nur auf Einrede zu beachten ist, beurteilt sich nach dem Recht des Anerkennungsstaats. Bei der Art und Weise der Berücksichtigung der Rechtskraft handelt es sich nämlich nicht um eine Frage des Inhalts der Rechtskraftwirkung, sondern um die verfahrensrechtliche Modalität der Anerkennung, für die die lex fori maßgebend ist (Leible in Rauscher 4 Art 36 Brüssel Ia‑VO Rz 7; Rassi in Fasching/Konecny 2 Art 33 EuGVVO Rz 10; Kodek in Czernich/Kodek/Mayr 4 Art 36 EuGVVO Rz 34; Kropholler/von Hain, EuZPR9 Vor Art 33 EuGVO Rz 12; Gottwald in MünchKomm ZPO5 Art 36 EuGVVO Rz 13; E. Peiffer/M. Peiffer in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr, Art 36 EuGVVO Rz 25; P. Oberhammer, Anerkennung ausländischer Entscheidungen und Instanzenzug, ecolex 2018, 323 [324]).

Daraus folgt zunächst, dass auch die Entscheidungen ausländischer Gerichte, die im Inland anzuerkennen sind, Bindungswirkung entfalten; die Bindungswirkung ist von Amts wegen wahrzunehmen (2 Ob 238/13h; 8 Ob 28/15y).

Dieselben Überlegungen gelten für die Bestimmung des Zeitpunkts, bis zu dem im Verfahren im Anerkennungsstaat die Rechtskraftwirkung zu beachten ist. Die Frage, in welchem Verfahrensstadium die Bindungswirkung einer ausländischen Entscheidung geltend gemacht werden kann, richtet sich also ebenfalls nach der lex fori und im Anlassfall damit nach österreichischem Prozessrecht.

3.3 Nach der österreichischen ZPO ist die Rechtskraft einer anderen Entscheidung in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen wahrzunehmen (§ 230 Abs 3, § 411 Abs 2 ZPO); jeder Verstoß gegen die Rechtskraft verwirklicht einen in jeder Lage des Verfahrens auch von Amts wegen zu beachtenden Nichtigkeitsgrund (P. Oberhammer, ecolex 2018, 326; RIS‑Justiz RS0039968; RS0074226). Dies bedeutet, dass auch die Rechtsmittelinstanzen die Rechtskraft einer Entscheidung berücksichtigen müssen, wenn diese während des Rechtsmittelverfahrens eingetreten ist (P. Oberhammer, ecolex 2018, 325).

Die Nichtigkeitssanktion gilt nicht nur für die Einmaligkeitswirkung (RIS‑Justiz RS0008531 [T2, T4]; RS0046564 [T3]; 3 Ob 173/16m), sondern auch für die Bindungswirkung der materiellen Rechtskraft eines präjudiziellen Urteils. Beide Ausprägungen der materiellen Rechtskraft sind prozessual gleich zu behandeln (P. Oberhammer, ecolex 2018, 324 mwN; Fasching/Klicka in Fasching/Konecny 2 § 411 ZPO Rz 134). Dieses Ergebnis entspricht auch der überwiegenden und jüngeren Rechtsprechung (vgl RIS‑Justiz RS0074226; 1 Ob 254/97b; 2 Ob 203/15i; siehe zur Berücksichtigung eines rechtskräftigen Strafurteils im zivilprozessualen Rechtsmittelverfahren 6 Ob 21/13a und 7 Ob 8/15z).

Den gegenteiligen – auf einem Rechtsgutachten basierenden – Ausführungen der Beklagten ist nicht zu folgen. Auch aus dem Hinweis auf § 530 Abs 2 ZPO, wonach eine Wiederaufnahme gemäß § 530 Abs 1 Z 6 ZPO (Verstoß gegen die Rechtskraft einer Vorentscheidung über dieselbe Rechtssache) nur dann möglich ist, wenn die Partei ohne ihr Verschulden außer Stande war, die Rechtskraft der Entscheidung vor Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz geltend zu machen, kann die Beklagte nichts für sich gewinnen. Diese Regelung gilt nämlich speziell für das Wiederaufnahmeverfahren. Dieses Verfahren soll es nur noch in Ausnahmefällen ermöglichen, „endgültige“ Verstöße gegen die Rechtskraft eines Urteils nachträglich (nach Rechtskraft des zweiten Urteils) wahrnehmen zu können. Für die Beachtung der Rechtskraft (hier Bindungswirkung) im noch anhängigen Verfahren gilt diese Regel nicht (vgl dazu P. Oberhammer, ecolex 2018, 325).

3.4 Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass auch die Bindungswirkung einer nach Art 33 Abs 1 EuGVVO 2001 (Art 36 Abs 1 EuGVVO 2012) anzuerkennenden ausländischen Entscheidung auf der Grundlage des anwendbaren österreichischen Rechts als lex fori in jeder Lage des Verfahrens auch von Amts wegen zu beachten ist. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts und der Beklagten unterliegt die Berücksichtigung der Bindungswirkung eines rechtskräftigen (hier anzuerkennenden ausländischen) Urteils im Rechtsmittelverfahren nicht dem Neuerungsverbot, weil es nicht um die Berücksichtigung einer neuen Tatsache oder eines neuen Beweismittels, sondern um die Beachtung der Bindungswirkung der materiellen Rechtskraft (in jeder Lage des Verfahrens auch von Amts wegen) geht. Zweifel an der Richtigkeit der anzuerkennenden rechtskräftigen Entscheidung können nicht gegen die Bindungswirkung ins Treffen geführt werden.

4.1 Weiters ist zu prüfen, ob bzw inwieweit die niederländischen Entscheidungen betreffend die fraglichen Benelux‑Marken rechtskräftig sind, ob sie aufgrund ihres Inhalts für das vorliegende Verfahren Bindungswirkung entfalten und ob die Verjährungsfrage (Verjährung der Geltendmachung der Nichtigkeit der russischen Umwandlung) Gegenstand einer „tragenden“ Vorfrageentscheidung der niederländischen Entscheidungen ist. Auch diese Fragen sind zu bejahen.

4.2 Bei den Entscheidungen der Rechtbank Rotterdam vom 25. März 2015 sowie desGerechtshof´s‑Gravenhage vom 9. Jänner 2018 (Berufungsgericht) handelt es sich um Endurteile im Sinn des Art 236 Abs 1 des niederländischen Zivilprozessgesetzes. Zu den im niederländischen Verfahren entschiedenen Vorfragen gehörte die Beurteilung, dass die Umwandlung des ursprünglichen russischen Staatsbetriebs in die Handelsgesellschaft nicht rechtsgültig war und die Markenrechte daher nicht im Weg der Gesamtrechtsnachfolge auf die Handelsgesellschaft übergegangen sind, sodass die Klägerin in Ansehung der Benelux‑Markenrechte klageberechtigt ist, sowie dass die Klage (hinsichtlich der Geltendmachung der Nichtigkeit der Umwandlung in die russische Handelsgesellschaft) nicht verjährt ist.

Diese Fragen waren bereits Gegenstand eines Zwischenurteils, das von der Beklagten bis zum Hoge Raad angefochten wurde. Aufgrund der „Bindung im selben Verfahren“ nach dem niederländischen Zivilprozessrecht können diese Fragen von der Beklagtennicht neuerlich im Rechtsmittelverfahren gegen das niederländische Endurteil aufgegriffen werden. Ausgehend vom Rechtsgutachten sind diese Fragen – aufgrund des Endurteils der Rechtbank Rotterdam vom 25. März 2015 – formell rechtskräftig (die Beklagte bezeichnet dies als „vorgezogene Rechtskraft“).

Der Umstand, dass die Beklagte zu diesen Vorfragen neuerlich (am 9. April 2018) Revision an den Hoge Raad erhoben hat, ändert an der formellen Rechtskraft des Endurteils des Erstgerichts zu diesen Vorfragen nichts. Ausgehend vom Rechtsgutachten können nach niederländischem Recht unter der Voraussetzung, dass im Anschluss an ein Zwischenurteil ein Endurteil oder Teilurteil gefällt wurde, einzelne Vorfrageentscheidungen (die von der Partei bereits im Rechtsmittelverfahren gegen das Zwischenurteil angefochten wurden) schon mit dem erstgerichtlichen Endurteil formell rechtskräftig werden, weil sie von der fraglichen Partei nicht neuerlich angefochten werden können.

Der gerichtliche Sachverständige hat seine Ausführungen im Rechtsgutachten in Kenntnis der Einwände der Beklagten aufrecht erhalten. Der Hinweis der Beklagten, dass es sich dabei um eine isolierte Privatmeinung des Sachverständigen handle, bietet keinen Anlass, seine mehrfach bekräftigten Ausführungen in Zweifel zu ziehen.

4.3 Bei den im niederländischen Verfahren entschiedenen Vorfragen handelt es sich um präjudizielle Vorfragen, die für die hier zu treffende Entscheidung wesentlich sind und das streitgegenständliche Rechtsverhältnis betreffen. Damit sind alle Voraussetzungen für die nach niederländischem Recht zu beurteilende Bindungswirkung des Endurteils der Rechtbank Rotterdam vom 25. März 2015 erfüllt. Diese Entscheidung ist für die hier zu treffende Entscheidung daher bindend.

5.1 Die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu C‑456/11, Gothaer Allgemeine Versicherung, steht diesem Ergebnis nicht entgegen. In dieser Entscheidung hat der EuGH einen autonomen Rechtskraftbegriff etabliert und ausgesprochen, dass im Unionsrecht der Begriff der Rechtskraft nicht nur den Tenor der fraglichen gerichtlichen (Zuständigkeits‑)Entscheidung, sondern auch deren Gründe (im Sinn von Vorfrageentscheidungen), die den Tenor tragen (im Ausgangsfall das Zustandekommen einer Gerichtsstandsvereinbarung) umfasst (Rn 34 und 42). Diese Entscheidung des EuGH betrifft eine rechtskräftige zuständigkeitsrechtliche Entscheidung bzw ein „Prozessurteil“ nach deutschem Recht. Selbst wenn der EuGH diese Rechtsprechung in Zukunft auch auf andere Bereiche, insbesondere auch auf Sachfragen, ausdehnen sollte (siehe dazu Rn 40; vgl auch Leible in Rauscher 4 Art 36 Brüssel Ia‑VO Rz 4 und 8), bedeutet dies, dass sich die Rechtskraft nicht nur auf den Spruch allein, sondern auch auf Vorfrageentscheidungen erstreckt. Dies entspricht dem hier erzielten Ergebnis auf Basis des niederländischen Rechts.

5.2 Die Anregung der Klägerin zur Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union war nicht aufzugreifen, weil sich die Frage, ob die Bindungswirkung einer rechtskräftigen ausländischen Entscheidung nach Art 33 Abs 1 EuGVVO 2001 (Art 36 Abs 1 EuGVVO 2012) auch noch im Rechtsmittelverfahren zu berücksichtigen ist, nach dem Recht des Prozessstaats (lex fori) richtet.

5.3 Der Einwand der Beklagten, die niederländischen Entscheidungen zur Frage der Verjährung nach russischem Recht fielen nicht in den sachlichen Anwendungsbereich der EuGVVO, weil es bei der Privatisierung/Umwandlung des ursprünglichen Staatsbetriebs in die Handelsgesellschaft um die Wirksamkeit von Hoheitsakten des russischen Staats und daher um keine Zivil- und Handelssache im Sinn von Art 1 EuGVVO handle, ist nicht stichhaltig.

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat sich in der Entscheidung C‑226/13, Fahnenbrock (im Hinblick auf den identen Begriff der Zivil- und Handelssache in Art 1 Abs 1 EuZVO) mit der hier aufgeworfenen Frage befasst. Danach ist für die Beurteilung als Akt „iure imperii“ maßgebend, ob der Staat Befugnisse wahrgenommen hat, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden allgemeinen Regeln abweichen (Rn 51). Der Umstand, dass die Maßnahme durch ein Gesetz eingeführt wurde, ist hingegen nicht ausschlaggebend für den Schluss, dass der Staat seine hoheitlichen Rechte ausgeübt hat (Rn 56). Allgemein sind daher als „acta iure gestionis“ (im Unterschied zu „acta iure imperii“) all jene Maßnahmen anzusehen, die auch ein Privatrechtssubjekt, und zwar ohne Unterschied in den Wirkungen und Konsequenzen, gleichermaßen vornehmen könnte (4 Ob 227/13f; 8 Ob 67/15h; 8 Ob 68/16g).

Bei der Gründung einer Handelsgesellschaft und der Übertragung von Vermögen sowie von Rechten und Pflichten, die bisher einem anderen Rechtsträger zugeordnet waren, auf die neu gegründete Gesellschaft handelt es sich um einen gesellschaftsrechtlichen Vorgang, der nicht notwendigerweise die Wahrnehmung hoheitlicher Sonderbefugnisse voraussetzt, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln abweichen. Der Oberste Gerichtshof kommt daher zum Ergebnis, dass die Geltendmachung der Nichtigkeit der Umwandlung durch die Klägerin, genauer gesagt der Unwirksamkeit der Rechtsnachfolgeklausel zugunsten der privatisierten Handelsgesellschaft, keinen Akt „iure imperii“ und daher eine Zivil- und Handelssache im Sinn der EuGVVO betraf.

6. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Berufungsgericht mit seiner Entscheidung gegen die Bindungswirkung des Endurteils der Rechtbank Rotterdam vom 25. März 2015 hinsichtlich der im niederländischen Verfahren rechtskräftig entschiedenen und hier präjudiziellen Vorfragen verstoßen hat. Der Verstoß des Berufungsgerichts gegen die Bindungswirkung begründet Nichtigkeit der angefochtenen Entscheidung; die Entscheidung des Berufungsgerichts muss daher neuerlich aufgehoben werden.

Im fortgesetzten Verfahren hat das Berufungsgericht von der Bindungswirkung des niederländischen Endurteils und damit von der Aktivlegitimation der Klägerin im vorliegenden Markenrechtsstreit auszugehen. Auf dieser Basis ist über die Berufung der Beklagten gegen die Entscheidung des Erstgerichts nach markenrechtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte