OGH 15Os60/17p

OGH15Os60/17p23.8.2017

Der Oberste Gerichtshof hat am 23. August 2017 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Danek als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in Gegenwart des Richteramtsanwärters Limberger, LL.M., als Schriftführer in der Strafsache gegen Daniela R***** wegen des Verbrechens des räuberischen Diebstahls nach §§ 127, 131 erster Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen der Angeklagten und der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Schöffengericht vom 1. März 2017, GZ 24 Hv 9/17p‑66, sowie über die Beschwerde der Angeklagten gegen den unter einem gefassten Beschluss nach § 494a StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0150OS00060.17P.0823.000

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerden werden zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufungen sowie die Beschwerde werden die Akten dem Oberlandesgericht Innsbruck zugeleitet.

Der Angeklagten fallen die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

Mit dem angefochtenen – auch unbekämpft in Rechtskraft erwachsene Freisprüche enthaltenden – Urteil wurde die Angeklagte des Verbrechens des räuberischen Diebstahls nach (richtig:) §§ 127, 131 erster Fall StGB (1.) und (vgl aber: RIS‑Justiz RS0114927) des Vergehens des Diebstahls nach §§ 127, 15 StGB (2.), der Vergehen der Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB (3.), des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (4.a) und des Vergehens der Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs 1 StGB (4.b) schuldig erkannt.

Danach hat sie

1. am 4. Juli 2016 in H***** Gewahrsamsträgern der H***** KG fremde bewegliche Sachen, nämlich Alkoholika, Toiletteartikel und Gebrauchsgegenstände im Gesamtwert von 26,06 Euro mit dem Vorsatz weggenommen, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, wobei sie bei ihrer Betretung auf frischer Tat Gewalt gegen eine Person anwendete, um sich die Beute zu erhalten, indem sie den ihr nacheilenden und sie festhaltenden H*****‑Mitarbeiter Wolfgang F***** tätlich angriff und ihm am Handgelenk eine Kratzwunde zufügte;

2. in I***** anderen fremde bewegliche Sachen mit dem Vorsatz weggenommen bzw wegzunehmen versucht, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, und zwar

a) am 28. November 2015 Gewahrsamsträgern der S***** AG eine Flasche Amaretto und einen Liter Milch im Wert von 5,38 Euro, wobei es beim Versuch geblieben ist;

b) am 4. Juni 2016 Gewahrsamsträgern der M*****GmbH & Co KG eine Dose Red Bull, eine Dose Bier sowie Kosmetikartikel im Gesamtwert von 8,73 Euro, wobei es beim Versuch geblieben ist;

c) am 20. Oktober 2016 Gewahrsamsträgern des Spirituosengeschäfts M***** Alkoholika im Wert von 9,80 Euro, indem sie Eierlikör bereits im Geschäft konsumierte und dieses ohne Bezahlung verließ;

d) am 27. Oktober 2016 Gewahrsamsträgern der Buchhandlung Ha***** zwei Bücher im Wert von 13,80 Euro;

e) am 30. Oktober 2016 Gewahrsamsträgern der Mensa der Klinik I***** einen Becher Mayonnaisesalat im Wert von 0,70 Euro;

f) am 2. November 2016 Gewahrsamsträgern der H***** KG eine Flasche Eierlikör im Wert von 3,99 Euro, wobei es beim Versuch geblieben ist;

3. in I***** andere mit Gewalt zu einer Unterlassung, nämlich zur Abstandnahme von der gerechtfertigten Anhaltung ihrer Person zu nötigen versucht, und zwar

a) am 20. Oktober 2016 Aline W***** sowie einen nicht ausgeforschten Passanten nach dem zu 2.c) beschriebenen Diebstahl, indem sie Schläge gegen den Oberarm und die Hand der Aline W***** führte und gegen den Passanten trat;

b) am 30. Oktober 2016 Lukas Fi***** nach dem zu 2.e) beschriebenen Diebstahl, indem sie dem Genannten einen Stoß gegen dessen Kopf versetzte und ihn am Unterarm kratzte;

c) am 2. November 2016 Barbara We***** nach dem zu 2.f) beschriebenen Diebstahl, indem sie mit der gestohlenen Eierlikörflasche einen Schlag gegen den Kopf der We***** zu führen versuchte;

4. in I***** andere vorsätzlich am Körper verletzt bzw zu verletzen versucht, und zwar

a) am 30. Oktober 2016 durch die unter 3.b) beschriebene Gewalthandlung Lukas Fi*****, der dadurch einen Kratzer am rechten Unterarm und eine behandlungsbedürftige Verletzung am linken Auge erlitt;

b) am 2. November 2016 durch die unter 3.c) beschriebene Gewalthandlung Barbara We*****, wobei es beim Versuch geblieben ist, weil diese den Schlag mit der Flasche abwehren konnte.

Unter einem wurde die Unterbringung der Angeklagten in einer Anstalt für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher nach § 22 Abs 1 StGB angeordnet.

Ferner wurde mit dem angefochtenen Urteil der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Unterbringung der Daniela R***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB, weil sie am 7. März 2016 in I***** unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB), der auf einer geistigen Abartigkeit von höherem Grad beruht, nämlich einer drogeninduzierten Psychose,

1. die Polizeibeamten Stefan P***** und Daniel Ho***** mit Gewalt an einer Amtshandlung, nämlich der Sachverhaltsaufklärung sowie ihrer Festnahme und Verbringung zum Streifenwagen, zu hindern versucht habe, indem sie einen geraden Fauststoß gegen Ho***** führte, ihn beim Anlegen der Handfesseln am linken Daumen kratzte, wiederholt Fußtritte gegen die Schienbeine der beiden Beamten setzte und versuchte diese zu beißen;

2. durch die zu 1. beschriebenen Handlungen Polizeibeamte während und wegen der Vollziehung ihrer Aufgaben vorsätzlich am Körper verletzt habe, indem sie Ho***** eine Prellung am Schienbein und einen blutenden Kratzer am Daumen sowie P***** eine Prellung am Schienbein zufügte,

und dadurch Taten begangen habe, die als das Vergehen des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Fall StGB und die Vergehen der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 2 StGB, jeweils mit mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht sind, abgewiesen.

Gegen dieses Urteil richten sich die Nichtigkeitsbeschwerden der Angeklagten (aus § 281 Abs 1 Z 11 StPO) und der Staatsanwaltschaft (aus § 281 Abs 1 Z 5 und 11 StPO); beide verfehlen ihr Ziel.

 

Rechtliche Beurteilung

Zur Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten:

Die die Unterbringung in einer Anstalt für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher nach § 22 Abs 1 StGB bekämpfende Sanktionsrüge (Z 11) wendet sich gegen die Gefährlichkeitsprognose.

Indem die Beschwerde die Befürchtung einer Prognosetat allerdings nur pauschal in Frage stellt, jedoch weder ein Übergehen der nach § 22 Abs 1 StGB erforderlichen, von den Tatrichtern auch in ihre Erwägungen miteinbezogenen Erkenntnisquellen (US 21; Person und Art der Tat; vgl Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 715) noch einen unvertretbaren Schluss aus den herangezogenen Erkenntnisquellen behauptet, gelangt der Nichtigkeitsgrund nicht prozessförmig zur Darstellung (RIS‑Justiz RS0118581 [T8]).

Der Einwand mangelhafter beweiswürdigender Fundierung der Gefährlichkeitsprognose spricht wie auch deren Beurteilung im Sinn des § 22 Abs 1 StGB nur einen Berufungsgrund an (RIS‑Justiz RS0113980 insb [T11], RS0118581 [T14]).

Im Übrigen haben die Tatrichter die Prognosetat mit der Annahme der hohen Wahrscheinlichkeit der Begehung schwerer Körperverletzungen (und gefährlicher Drohungen) eindeutig umschrieben (US 21; vgl auch US 16: „... massiv Gewalt einsetzt“) und diese Prognose mängelfrei auf das als schlüssig bewertete psychiatrische Sachverständigengutachten gegründet (US 19).

 

Zur Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft:

Das Erstgericht stützte die einem Freispruch gleichzusetzende (Murschetz, WK‑StPO § 433 Rz 1) Abweisung des Unterbringungsantrags auf die Verneinung der Kausalität der geistigen oder seelischen Abartigkeit der Angeklagten für die Verübung einer Prognosetat (US 10) und stellte dazu fest, dass Daniela R*****s Gefährlichkeit nicht auf ihrer am 7. März 2016 (zum Tatzeitpunkt) bestehenden geistig-seelischen Abartigkeit höheren Grades, nämlich einer drogeninduzierten Psychose, beruhe (US 10, 22).

Die Anordnung einer Maßnahme nach § 21 StGB stellt einen Ausspruch nach § 260 Abs 1 Z 3 StPO dar, der grundsätzlich mit Berufung und nach Maßgabe des § 281 Abs 1 Z 11 StPO auch mit Nichtigkeitsbeschwerde bekämpft werden kann. Dabei sind Überschreitung der Anordnungsbefugnis (Z 11 erster Fall) und Ermessensentscheidung innerhalb dieser Befugnis zu unterscheiden. Gegenstand der Nichtigkeitsbeschwerde ist die Überschreitung der Anordnungsbefugnis, deren Kriterien der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit höheren Grades beruhende Zustand und dessen Einfluss auf die Anlasstat sowie die Mindeststrafdrohung für die Anlasstat nach § 21 StGB sind. Hinsichtlich dieser für die Sanktionsbefugnis entscheidenden Tatsachen ist neben der Berufung auch die Bekämpfung mit Verfahrens-, Mängel- oder Tatsachenrüge (§ 281 Abs 1 Z 11 erster Fall iVm Z 2 bis 5a StPO) zulässig.

Werden die gesetzlichen Kriterien für die Gefährlichkeitsprognose verkannt oder die Prognosetat verfehlt als solche mit schweren Folgen beurteilt, kommt eine Anfechtung nach § 281 Abs 1 Z 11 zweiter Fall StPO in Betracht. Der Sanktionsausspruch ist dann nichtig, wenn im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose eine der in § 21 StGB genannten Erkenntnisquellen (Person, Zustand des Rechtsbrechers und Art der Tat) vernachlässigt wird oder die Feststellungsgrundlage die Ableitung der schweren Folgen als willkürlich erscheinen lässt (RIS‑Justiz RS0118581, RS0113980).

Indem die Beschwerde (aus Z 11 erster Fall iVm Z 5 vierter Fall) einen Begründungsmangel („geradezu willkürlich“) in Bezug auf die erstgerichtliche Annahme, es sei nicht zu befürchten, dass die Angeklagte unter dem Einfluss ihrer höhergradigen geistigen oder seelischen Abartigkeit Taten mit schweren Folgen begehen werde (US 10 f), geltend macht, wendet sie sich inhaltlich gegen die Gefährlichkeitsprognose und verfehlt so die gesetzlichen Anfechtungskategorien (vgl auch Ratz, WK‑StPO Vor §§ 21‑25 Rz 9).

Soweit die Rüge vorbringt, das Erstgericht habe sich nicht mit den für die Gefährlichkeitsprognose zwingend vorgeschriebenen Erkenntnisquellen (Person, Zustand der Rechtsbrecherin und Art der Tat) auseinandergesetzt und so die Prognosekriterien rechtsfehlerhaft bewertet (Z 11 zweiter Fall), übergeht sie die dazu getroffenen Urteilsannahmen (US 10 f, 18 f; vgl Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 715, 717, 720). Die eigenständig beweiswürdigende Kritik an den Erwägungen der Tatrichter hiezu spricht nur einen Berufungsgrund an (RIS‑Justiz RS0113980 insb [T11 und T12]).

Schließlich besteht auch zwischen den Konstatierungen, die am 7. März 2016 vorgelegene drogeninduzierte Psychose der Angeklagten stelle eine „geistig seelische Abartigkeit höheren Grades“ dar (US 10), das „hirnorganische Psychosyndrom, die Abhängigkeitserkrankung bezüglich Alkohol in Verbindung mit der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung“ hingegen würden eine solche nicht begründen (US 11), kein Widerspruch im Sinn der Z 5 dritter Fall (iVm Z 11 erster Fall).

Mit Blick auf § 290 Abs 1 StPO ist auf den verfehlt – unter Außerachtlassung der nach § 29 StGB zu bildenden Subsumtionseinheit – formulierten Schuldspruch (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) wegen des Verbrechens des räuberischen Diebstahls nach „§ 131 Abs 1 erster Fall StGB“ (1.) und des Vergehens des Diebstahls nach §§ 127, 15 StGB (2.) hinzuweisen (US 4). Dies gereicht der Beschwerdeführerin fallbezogen jedoch nicht zum Nachteil (RIS‑Justiz RS0114927), weil das vom Erstgericht angenommene „Zusammentreffen mehrerer Vergehen mit einem Verbrechen“ (US 21) auch bei richtigerweise vorgenommener Subsumtion zutreffend wäre.

Die Nichtigkeitsbeschwerden waren daher bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO). Daraus folgt die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufungen und die (implizite) Beschwerde der Angeklagten (§§ 285i, 498 Abs 3 StPO).

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

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