OGH 10Ob39/17h

OGH10Ob39/17h18.7.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden und den Hofrat Dr. Schramm, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie den Hofrat Mag. Ziegelbauer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E*****, vertreten durch die Harisch & Partner Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, gegen die beklagte Partei Dr. J*****, vertreten durch Mag. Gerhard Franz Köstner, Rechtsanwalt in Altenmarkt, wegen 95.150 EUR sA und Feststellung (Streitwert 5.000 EUR), über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 25. April 2017, GZ 6 R 37/17d‑56, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0100OB00039.17H.0718.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Die Klägerin stand nach Implantaten und Anpassung einer festsitzenden Zahnprothese durch den beklagten Zahnarzt (2000–2002) wegen anhaltender Schmerzen und Beschwerden von 2002 bis Herbst 2011 in dessen Behandlung. Dabei war sie in Unkenntnis darüber, dass dem Beklagten von Anfang an Behandlungsfehler unterlaufen waren, indem er im Jahr 2000 eines der Implantate ohne ausreichende Knochenummantelung oder entsprechenden Knochenaufbau gesetzt und im Jahr 2002 keine geschlossene Bissrelation zwischen Ober‑ und Unterkiefer hergestellt hatte. Ihr war ferner nicht bekannt, dass auch die nachfolgend angefertigte neue technische Arbeit im Oberkiefer (nach Extraktion weiterer Zähne) nach wie vor den offenen Biss ergab und dies Ursache für ihre verstärkten Schmerzen und Beschwerden war. Erst 2011 holte die Klägerin eine weitere ärztliche Meinung ein. Ab November 2013 konnte ein anderer Zahnarzt durch geeignete Behandlungsmaßnahmen allmählich eine Verbesserung der Beschwerden und ab Ende 2015/Anfang 2016 die Schmerzfreiheit erzielen. Am 11. Juli 2013 teilte die Österreichische Zahnärztekammer der Klägerin mit, die Bundespatientenschlichtungsstelle der Österreichischen Zahnärztekammer sei aufgrund des dort vorliegenden Akts zum Schluss gekommen, dass dem Beklagten kein Behandlungsfehler unterlaufen sei.

Das Erstgericht sprach der Klägerin 95.150 EUR (65.450 EUR an Schmerzengeld, 27.200 EUR für Sanierungskosten und 2.500 EUR als Rückerstattung der Kosten für eine insuffiziente Sinusoperation) zu und stellte fest, dass der Beklagte der Klägerin für alle zukünftigen nicht bekannten Schäden und daraus ableitbare Schmerzengeldansprüche hafte, die durch die mangelhafte implantatgetragene Arbeit des Beklagten im Zuge der Totalsanierung des Gebisses der Klägerin verursacht wurden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten teilweise Folge und änderte das Ersturteil mittels Teilurteils dahin ab, dass der Beklagte 40.000 EUR an Schmerzengeld und 2.500 EUR (für die inhaltlich nicht bekämpfte Rückerstattung frustrierter Behandlungskosten) zu leisten hat. Ein darüber hinausgehendes Schmerzengeldmehrbegehren in Höhe von 25.400 EUR wurde abgewiesen. Im Übrigen – hinsichtlich 27.200 EUR an Heilbehandlungs- und Sanierungskosten – wurde das Ersturteil aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen. Das Berufungsgericht bewertete den Entscheidungsgegenstand mit 30.000 EUR übersteigend und ließ die Revision nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision des Beklagten ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung zurückzuweisen:

1. Kommt jemand durch einen ärztlichen Kunstfehler zu Schaden, beginnt die Verjährungsfrist nicht, solange die Unkenntnis andauert, dass es sich um einen Kunstfehler handelt (RIS-Justiz RS0034603 [T4]). Setzt diese Kenntnis Fachwissen voraus, so beginnt die Verjährungsfrist regelmäßig erst zu laufen, wenn der Geschädigte durch ein Sachverständigengutachten Einblick in den Ursachenzusammenhang zwischen dem Schaden und einem bestimmten, dem Schädiger anzulastenden Verhalten erlangt hat (RIS-Justiz RS0034951 [T7, T29]). Die Einholung eines Gutachtens wird in der Regel nicht verlangt (RIS-Justiz RS0034603 [T5]). Haben die Vorinstanzen aufgrund der Umstände des vorliegenden Einzelfalls nicht angenommen, dass die Geschädigte bereits seit über drei Jahren vor Klagseinbringung (im Jänner 2014) den Sachverhalt ausreichend kannte oder kennen musste, um die Verjährungsfrist nach § 1489 ABGB in Gang zu setzen, stellt diese Ansicht jedenfalls keine vom Obersten Gerichtshof zu korrigierende Fehlbeurteilung dar.

2. Ob das Gutachten einer Schlichtungsstelle (hier das Gutachten der Schlichtungsstelle nach § 58a ÄrzteG) als Entscheidungsgrundlage ausreicht, ist eine Tatfrage (vgl 5 Ob 6/15s). Die vom Revisionswerber ins Treffen geführte Bindung an das Gutachten wäre nur denkbar, wenn die Parteien einen (echten) Schiedsvertrag abgeschlossen hätten (RIS-Justiz RS0106359).

3.1 Der Beklagte hat in seiner Berufung unter dem Berufungsgrund der Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens die Nichteinholung eines „fachspezifischen“ Gutachtens zu den – seiner Ansicht nach – von der Klägerin zur Schmerzbekämpfung vorzunehmenden interdisziplinären Therapien (zur Verminderung von psychischem Stress, Lösung von seelischen Konflikten etc) bekämpft. In seiner Revision gibt der Beklagte den Inhalt eines Schriftsatzes wieder, in dem verschiedene interdisziplinäre Behandlungsmethoden aufgezählt sind, und wendet sich gegen die Ansicht des Berufungsgerichts, die Nichteinholung des zu diesen Themen beantragten „fachspezifischen“ Sachverständigengutachtens sowie einer „vollständigen“ Krankengeschichte stelle keine Mangelhaftigkeit des Verfahrens dar. Dabei übersieht er, dass bereits vom Berufungsgericht verneinte Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens nicht mehr erfolgreich vor dem Obersten Gerichtshof geltend gemacht werden können (RIS‑Justiz RS0042963).

3.2 Wenn der Beklagte in seiner Revision die Verletzung der Schadensminderungspflicht (infolge des Unterlassens der interdisziplinären Therapiemaßnahmen sowie infolge behaupteter Unterbrechung der zahnärztlichen Behandlung) als unrichtige rechtliche Beurteilung geltend macht, ist ihm zu entgegnen, dass er sich in der Rechtsrüge seiner Berufung nicht gegen den 100%igen Zuspruch des Schmerzengeldes ohne Abzug für ein Mitverschulden gewendet hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs können, wenn in der Berufung eine Rechtsrüge nur in bestimmten Punkten ausgeführt wurde, andere Punkte in der Revision nicht mehr geltend gemacht werden; dies jedenfalls, wenn es – wie hier – um mehrere selbständig zu beurteilende Rechtsfragen geht (3 Ob 174/04s).

4.1 Mit dem Vorbringen, die von der Klägerin erlittenen Schmerzen seien auf einen Fahrradunfall zurückzuführen, entfernen sich die Revisionsausführungen vom festgestellten Sachverhalt.

4.2 Auf eine Verletzung von Hinweis- und Aufklärungspflichten durch den Beklagten hat sich die Klägerin nicht berufen.

5. Die Bemessung des Schmerzengeldes ist nach den besonderen Umständen des Einzelfalls unter Anwendung des § 273 ZPO und Berücksichtigung der Gesamtwirkung der Verletzung vorzunehmen (RIS-Justiz RS0125618 [T1]). Schmerzperioden können als Berechnungshilfe herangezogen werden (RIS‑Justiz RS0122794 [T4]). Insbesondere ist auch die Art und Dauer der Schmerzzustände für die Bemessung des Schmerzengeldes maßgeblich (RIS-Justiz RS0031474). Inwiefern die vom Berufungsgericht im Hinblick auf die festgestellten Schmerzperioden und die Gesamtdauer der Schmerzzustände von mehr als zehn Jahren vorgenommene Festsetzung des Schmerzengeldes mit 40.000 EUR eine grobe Fehlbeurteilung im Sinn eines eklatanten Missverhältnisses zu den in der bisherigen Rechtsprechung behandelten Fällen darstellen soll, zeigt der Revisionswerber nicht auf.

Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO war die außerordentliche Revision als unzulässig zurückzuweisen.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte