OGH 10ObS76/17z

OGH10ObS76/17z18.7.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Wolfgang Neumaier (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Herbert Böhm (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Mag. S*****, vertreten durch Prutsch & Partner Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei Steiermärkische Gebietskrankenkasse, 8011 Graz, Josef-Pongratz-Platz 1, wegen Kostenerstattung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 5. April 2017, GZ 6 Rs 57/16y‑25, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00076.17Z.0718.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist, ob die Behandlung der beim Kind der Klägerin bereits vor dessen Geburt diagnostizierten linksseitigen Zwerchfellhernie („CDH“) zumutbarerweise in Österreich vorgenommen hätte werden können.

Nach den Feststellungen informierte sich die Klägerin nach dieser Diagnose mittels Internetrecherche über die Behandlungsmöglichkeiten des Kindes nach dessen Geburt. Routinemäßig umfassen diese Möglichkeiten medizinische Intensivtherapie für Neugeborene, insbesondere Beatmungs- und Kreislauftherapie sowie ein chirurgisches Verfahren zum Verschluss der Hernie. Zu den intensivmedizinischen Modalitäten bei angeborenen Zwerchfellhernien gehört unter anderem auch der allfällige Einsatz der extracorporalen Membranoxygenierung (ECMO), bei der eine Maschine teilweise oder vollständig die Atemfunktion übernimmt. Die Klägerin wurde auf das Universitätsklinikum Mannheim, Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg aufmerksam, wo in den letzten zehn Jahren 500 Kinder mit angeborenen Zwerchfellhernien behandelt worden waren. Sie vereinbarte dort einen Geburtstermin (per Kaiserschnitt) für 17. Februar 2015. In der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Neonatologie in Graz vereinbarte sie einen Geburtstermin für den 18. Februar 2015, entschloss sich dann aber für das Universitätsklinikum Mannheim. Ausschlaggebend für diesen Entschluss waren die dort weitaus höheren Fallzahlen als an der Uni-Klinik in Graz, wo im Zeitraum 1990 bis 2004 nur 42 Kinder und im Zeitraum 2005 bis 2015 24 Kinder mit angeborenen Zwerchfellhernien behandelt worden waren; im Allgemeinen Krankenhaus Wien waren im Zeitraum zwischen 2001 bis 2015 45 Kinder mit dieser Erkrankung behandelt worden, bis inklusive Juni 2016 waren es 48 Kinder. Die in Mannheim, Graz und Wien vorhandenen Therapiemöglichkeiten (sowohl im Hinblick auf die intensivmedizinische Betreuung als auch auf die chirurgischen Verfahren) sind aus medizinischer Sicht gleichwertig, entsprechen den internationalen Standards und sind wirkungsgleich. Am Universitätsklinikum in Mannheim liegt die Überlebensrate aller dort behandelter Kinder mit angeborener Zwerchfellhernie bei über 80 %. An der Uni‑Klinik‑Graz betrug die Überlebensrate zwischen 1990 und 2004 83 %, im Zeitraum 2005 bis 2015 lag sie bei 79 % . Im Allgemeinen Krankenhaus Wien wurden im Zeitraum zwischen 2001 bis 2015 45 Kinder mit angeborener Zwerchfellhernie behandelt, von denen sechs verstorben sind; bis inklusive Juni 2016 waren es 48 Kinder, ohne dass die Zahl der verstorbenen Kinder anstieg. Aus medizinischer Sicht ist kein Grund gegeben, der ein höheres Gesundheitsrisiko für das Kind der Klägerin erwarten hätte lassen, wäre es in Österreich behandelt worden. Die Universitätsklinik Mannheim brachte bei der Tochter der Klägerin ECMO zum Einsatz.

Die Vorinstanzen sprachen der Klägerin einen Kostenzuschuss von 8.537,06 EUR zu und wiesen das Begehren auf Kostenübernahme von 70.810,59 EUR ebenso ab wie ein Eventualbegehren auf Feststellung, dass die Vorraussetzung der Krankenbehandlung der Klägerin und ihres Kindes in einem anderen Mitgliedstaat vorgelegen seien und eine Genehmigung in Verbindung mit Ausstellung der E112‑Bescheinigung zu erteilen gewesen wäre.

In rechtlicher Hinsicht gelangten die Vorinstanzen zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass ein Versicherungsträger seiner Verpflichtung zur Sachleistungsvorsorge entspreche, wenn er im Inland eine zweckmäßige und ausreichende Krankenbehandlung zur Verfügung stelle. Dem Versicherten werde kein Rechtsanspruch auf die jeweils weltbeste medizinische Versorgung, sondern bloß auf eine ausreichende und zweckmäßige, das Maß des Notwendigen nicht überschreitende Krankenbehandlung zuerkannt. Wäre eine gleiche Behandlung mit ausreichender Erfolgswahrscheinlichkeit zeitgerecht kostengünstiger im Inland möglich, sei es der Versichertengemeinschaft nicht zumutbar, die wesentlich höheren Behandlungskosten im Ausland zu übernehmen. Da aus medizinischer Sicht die Therapien der angeborenen Zwechfellhernie in Deutschland und in Österreich (auch mit ECMO) gleichwertig seien, wäre die Behandlung in Österreich zumutbar gewesen.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO unzulässig.

Der Oberste Gerichtshof billigt die Rechtsansicht des Berufungsgerichts sowohl im Ergebnis als auch in der

methodischen Ableitung (§ 510 Abs 3 ZPO), sodass darauf verwiesen werden kann

1. Ob die Behandlung in zumutbarer Weise in Österreich durchführbar ist, ist nicht nur eine Rechtsfrage, sondern auch eine den medizinischen Bereich betreffende Tatfrage, deren Beantwortung nähere Feststellungen insbesondere über die Behandlungs- (Operations‑)Möglichkeiten und -risiken und die Erfolgswahrscheinlichkeit in den einzelnen in Betracht kommenden Krankenanstalten erfordert, einschließlich Feststellungen zur Erfolgswahrscheinlichkeit der Behandlung(Operation) bzw den Mortalitätsraten in den einzelnen Krankenanstalten (10 ObS 136/92, SSV-NF 6/142; 10 ObS 20/12g, SSV‑NF 26/19).

2.1 Das Erstgericht hat zu den Erfolgswahrscheinlichkeiten der Behandlung in Mannheim, Graz und Wien über die eingangs wiedergegebenen Feststellungen hinaus detaillierte Feststellungen getroffen. Unter anderem hat es festgestellt, dass im Allgemeinen Krankenhaus Wien im Zeitraum von 2001 bis 2015 45 Kinder mit angeborener Zwerchfellhernie behandelt worden sind, von denen 17 Kinder an die ECMO angeschlossen waren. Insgesamt sind sechs Kinder verstorben, die alle mit der ECMO behandelt worden sind. Die Überlebensrate in diesem Zeitraum betrug insgesamt 89 %, die Überlebensrate bei Nutzung von ECMO 71 %. Weiters hat das Erstgericht auch Feststellungen zur Erfolgswahrscheinlichkeit der Behandlung im Allgemeinen Krankenhaus Wien für den Zeitraum von 2001 bis inklusive Juni 2016 getroffen, nach denen in diesem Zeitraum von den 48 Kindern behandelten Kinder 18 an die ECMO angeschlossen waren und von diesen Kindern sechs verstorben sind. Die Überlebensrate bezogen auf den Zeitraum bis 2016 hat somit insgesamt 87,5 % und bei Einsatz der ECMO 67 % betragen.

2.2 Das Berufungsgericht hat das dazu erstattete Berufungsvorbringen nur insoweit als berechtigt erachtet, als hinsichtlich des Zeitraums 2001 bis 2015 aufgezeigt wurde, dass die festgestellten Fallzahlen nicht mit den Prozentsätzen übereinstimmen (richtig 86,66 % statt 89 % und 64,7 % statt 71 %). Die Ausführungen des Berufungsgerichts, die offenkundig auf einem Rechenfehler beruhenden bekämpften Feststellungen würden nicht übernommen, sind daher so zu verstehen, dass es seiner Entscheidung hinsichtlich des Zeitraums 2001 bis 2015 die absoluten Zahlen, nicht aber die daraus unrichtig errechneten Prozentsätze zugrunde gelegt hat. Inwiefern durch diese Vorgangsweise der Unmittelbarkeitsgrundsatz verletzt und ein Mangel des Berufungsverfahrens begründet sein soll, ist nicht erkennbar. Das Berufungsgericht hätte den Unmittelbarkeitsgrundsatz nur dann verletzt, wenn es von den Feststellungen des Erstgerichts ohne Beweiswiederholung oder aufgrund einer unvollständigen Wiederholung der mit dem Beweisthema zusammenhängenden Beweise, auf die das Erstgericht entscheidende Feststellungen gestützt hat, abgegangen wäre oder wenn es ohne Beweiswiederholung Feststellungen aufgrund der in erster Instanz aufgenommenen Beweise ergänzt hätte (RIS‑Justiz RS0043057, RS0043461 [T10]). Da dies nicht der Fall ist, ist eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens zu verneinen.

3. Dass allein die höhere Fallzahl an der Universitätsklinik in Mannheim zu einer besseren Versorgung eines Kindes mit angeborener Zwerchfellhernie bzw zu einem besseren Therapieergebnis (als in Österreich) führt, ist aus den von den Vorinstanzen getroffenen Festellungen nicht ableitbar. Die Feststellung, die aktuelle Datenlage spreche grundsätzlich dafür, dass die Überlebensrate von Kindern mit angeborener Zwerchfellhernie in Kliniken mit höherer Fallzahl besser ist, ist im Hinblick darauf zu relativieren, dass – wie feststeht – in Studien, die aus einem skandinavischen, amerikanischen und kanadischem Netzwerk stammen, der Grenzwert zur Unterscheidung von Kliniken mit niedriger im Gegensatz zu hoher Fallzahl bei etwa 5 bis 6 Fällen von CDH pro Jahr angesetzt wird und bereits dieser Mittelwert als Grenzwert für eine Einstufung als „High-Volume-Zentrum“ angenommen wird. Im Hinblick auf die in der Schweiz, Deutschland und Österreich gegebene gänzlich andersartige Situation der medizinischen Versorgung ist eine Abgrenzung von „High-Volume-Zentren“ ab einer gewissen Fallzahl aber nicht vertretbar.

4. Zu den weiteren Revisionsausführungen ist auf die Feststellung zu verweisen, nach der der Klägerin von Prof. U***** an der Universitätsklinik für Kinder und Jugendheilkunde, Neonatologie zugesichert worden war, dass zum angesetzten Kaiserschnitttermin ein ärztliches Team zur Betreuung von ECMO bereit gestellt wird und ein solches auch einsatzbereit gewesen wäre.

5. Dem Hinweis auf ein weitaus höheres Mortalitätsrisiko in der Uni-Klinik Graz bei Einsatz der ECMO als im Universitätsklinikum Mannheim ist zu entgegnen, dass die Aussagekraft der Überlebensrate beim Einsatz von ECMO generell und auch im speziellen Fall eingeschränkt erscheint. Nach den Feststellungen ist der Nutzen von ECMO bei Kindern mit angeborener Zwerchfellhernie mangels hochwertiger neuer Daten umstritten. Dies führt dazu, dass die Kliniken ECMO bei Kindern mit angeborener Zwerchfellhernie sehr unterschiedlich zum Einsatz bringen. Teilweise wird ECMO großzügig angewendet, während andere Zentren nur in Extremfällen ECMO nutzen oder auch gar nicht, was aber in allen Varianten einer lege-artis Behandlung entspricht. Generell ging der Einsatz von ECMO zurück. An der Uni-Klinik Graz wurde ECMO nur in 8 % der Fälle genutzt. Die aufgrund dieser geringen Fallzahl festgestellte Überlebensrate an der Uni-Klinik Graz bei der Nutzung von ECMO von 55 % (gemittelt über 25 Jahre) ist daher nicht aussagekräftig genug, um ein signifikant unterschiedliches Risiko zu begründen. Der Schwerpunkt ist vielmehr auf jene Feststellung zu legen, nach der – insgesamt gesehen – die Überlebenschance aller an der Uni-Klinik Graz behandelter Kinder mit angeborener Zwerchfellhernie 86,6 % beträgt und daher zumindest gleich hoch, wenn nicht sogar höher als im Universitätsklinikum Mannheim („mehr als 80 %“) ist.

5. Die Revisionsausführungen, es sei nicht genügend beachtet worden, dass es sich um einen besonders schweren Fall einer angeborenen Zwerchfellhernie gehandelt habe, entfernen sich von der Feststellung, nach der die Zwerchfellhernie richtigerweise als „moderat“ eingestuft worden war.

6. Wenn die Vorinstanzen ausgehend von dieser Sach- und Rechtslage auch unter Berücksichtigung der besonderen Betroffenheit der Klägerin zu dem Ergebnis gelangten, dass die Behandlung des Kindes in Österreich und Deutschland aus medizinischer Sicht als wirkungsgleich zu betrachten sei und daher auch in Österreich zumutbar gewesen wäre, ist darin keine vom Obersten Gerichtshof im Einzelfall aufzugreifende Fehlbeurteilung zu erblicken.

Die außerordentliche Revision war daher als unzulässig zurückzuweisen.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte