European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0030OB00086.17V.0704.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Die Mutter hat die Kosten ihrer Revisionsrekursbeantwortung selbst zu tragen.
Begründung:
Seit der Scheidung der Ehe ihrer Eltern im Juni 2016 lebt die Minderjährige (ebenso wie ihr zwei Jahre älterer Halbbruder, ein Sohn der Mutter aus einer früheren Beziehung) nach wie vor in der bisherigen Ehewohnung, einem Einfamilienhaus. Die Eltern praktizieren (derzeit noch) das „Nestmodell“, dh sie betreuen die Kinder abwechselnd (zu gleichen Teilen) im Haus; während der Betreuung durch den einen Elternteil ist der andere nicht anwesend.
Zwischen den Eltern bestand von Anfang an Einvernehmen darüber, dass die Obsorge für die Minderjährige weiterhin ihnen gemeinsam zukommen solle; beide Elternteile beantragten jedoch, den überwiegenden Aufenthalt und die überwiegende Betreuung der Minderjährigen jeweils in ihrem Haushalt festzulegen.
Diese Anträge wies das Erstgericht – im Einklang mit einer Stellungnahme der mit der Durchführung eines Clearings beauftragten Familien- und Jugendgerichtshilfe – ab, weil die gesamte Familie nach wie vor an derselben Adresse wohne, sodass derzeit weder möglich noch erforderlich sei, einen hauptsächlichen Aufenthaltsort der Minderjährigen festzulegen. Eine solche Entscheidung werde erst bei Änderung der Wohnsituation (dem Auszug eines Elternteils) zu treffen sein.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Vaters nicht Folge. Eine im Fall der gemeinsamen Obsorge nach Auflösung der Ehe oder der häuslichen Gemeinschaft gebotene Vereinbarung der Eltern darüber, in wessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut werde, sei nicht zustande gekommen. Eine endgültige Entscheidung über die hauptsächliche Betreuung sei derzeit noch nicht möglich, weil die zukünftigen Verhältnisse zu vage seien. Es entspräche auch nicht dem Wohl des Kindes, in der bestehenden Situation eine vorläufige Regelung iSd § 180 Abs 1 ABGB zu treffen, weil dies die schwierige Situation der Trennung der Eltern um ein Konfliktpotenzial verstärken und auch zu einer ungerechtfertigten Bevorzugung eines Elternteils bei gleichteiliger Betreuung führen würde.
Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zu.
In seinem außerordentlichen Revisionsrekurs macht der Vater zusammengefasst geltend, die Eltern hätten zwar formal denselben Wohnsitz, hielten sich dort aber nur im Rahmen ihrer jeweiligen Betreuungszeiten in Abwesenheit des anderen Elternteils auf. Diese Regelung bedürfe daher ebenso wie das Modell der Doppelresidenz einer Haushaltsfestlegung.
In ihrer vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsrekursbeantwortung beantragt die Mutter, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.
1. Im Fall einer Obsorge beider Eltern nach Auflösung der Ehe oder der häuslichen Gemeinschaft haben diese gemäß § 179 Abs 2 ABGB vor Gericht eine Vereinbarung darüber zu schließen, in wessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut wird. Kommt eine solche Vereinbarung nicht zustande, hat das Gericht – allenfalls nach einer vorläufigen Regelung der elterlichen Verantwortung (§ 180 Abs 1 ABGB) – gemäß § 180 Abs 2 letzter Satz ABGB den Domizilelternteil festzulegen.
2. Der Verfassungsgerichtshof lehnte es in seinem Erkenntnis vom 9. Oktober 2015, G 152/2015, zwar ab, (ua) § 180 Abs 2 letzter Satz ABGB als verfassungswidrig aufzuheben. Er stellte allerdings klar, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Festlegung einer „hauptsächlichen Betreuung“ in Einklang mit Art 8 EMRK als bloß „nominelle“ Verpflichtung und damit so auszulegen ist, dass sie der elterlichen Vereinbarung oder einer entsprechenden gerichtlichen Festlegung einer zeitlich gleichteiligen Betreuung in jenen Fällen, in denen dies aus der Sicht des Gerichts dem Kindeswohl am Besten entspricht, nicht entgegensteht. Die Bestimmung lasse eine Auslegung zu, derzufolge die Festlegung für diese Fälle insbesondere als Anknüpfungspunkt für andere Rechtsfolgen dient, wie etwa für die Bestimmung eines Hauptwohnsitzes oder für die Geltendmachung von Familien- und Wohnbeihilfe.
3. Ausgehend davon hat der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen, dass auch in den Fällen der Doppelresidenz nach § 180 Abs 2 letzter Satz ABGB die Festlegung eines Orts der „hauptsächlichen Betreuung“ unter Berücksichtigung der Auslegung des Verfassungsgerichtshofs erforderlich ist (RIS‑Justiz RS0130981, RS0130918).
4. Mit dieser Gesetzeslage und Rechtsprechung ist die Auffassung der Vorinstanzen, die Festlegung des Domizilelternteils sei derzeit weder geboten noch möglich, unvereinbar. Die Vorinstanzen unterliegen insofern einem Missverständnis, als sie „Wohnsitz“ und „Haushalt“ zu Unrecht gleichsetzen; im Fall des „Nestmodells“ haben zwar nach wie vor beide Eltern ihren Wohnsitz in der Ehewohnung, sie leben dort aber gerade nicht mehr im gemeinsamen Haushalt, sondern das Kind wird (wenn auch ohne eigenen Ortswechsel) abwechselnd im Haushalt der Mutter und des Vaters betreut. Insofern ist die Situation aber nicht anders als bei „normaler“ gleichteiliger Betreuung in den an unterschiedlichen Orten gelegenen Haushalten der Eltern.
5. Da die Vorinstanzen aufgrund ihrer vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Rechtsansicht keine Feststellungen getroffen haben, anhand derer beurteilt werden könnte, ob die Mutter oder der Vater als Domizilelternteil festzulegen ist, erweist sich eine Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen als unumgänglich. Sofern die Eltern im fortgesetzten Verfahren nicht ohnehin (insbesondere im Hinblick auf eine offenbar unmittelbar bevorstehende endgültige Übersiedlung der Mutter an einen anderen Wohnort) eine entsprechende Vereinbarung treffen, wird das Erstgericht einen der beiden als Domizilelternteil– wie oben ausgeführt nur zur Schaffung eines Anknüpfungspunkts insbesondere für den Bezug der Familienbeihilfe (vgl jüngst 9 Ob 82/16y) – festzusetzen haben.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 107 Abs 5 AußStrG.
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