OGH 6Ob94/17t

OGH6Ob94/17t29.5.2017

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Außerstreitsache des Antragstellers P*****, Frankreich, vertreten durch Dr. Oskar Winkler, Rechtsanwalt in Wien, gegen die Antragsgegnerin B*****, vertreten durch Dr. Marco Nademleinsky, Rechtsanwalt in Wien, wegen Rückführung des Minderjährigen Y*****, geboren am ***** 2015, nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 12. April 2017, GZ 45 R 176/17s‑44, womit dem Rekurs der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 12. Februar 2017, GZ 4 Ps 192/16y‑34, teilweise Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0060OB00094.17T.0529.000

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

Der Minderjährige ist das Kind des Antragstellers und der österreichischen Antragsgegnerin. Das Kind wurde in Frankreich geboren und ist (auch) französischer Staatsbürger. Bis zum 25. 5. 2016 lebte es durchgängig in Frankreich. Seit Dezember 2015 lebte die Kindesmutter mit ihrem Sohn in Frankreich vom Kindesvater getrennt. Es gab Kontakte zwischen Vater und dem Minderjährigen, auch mit Übernachtungen.

Die Mutter übersiedelte mit dem Minderjährigen am 25. 5. 2016 – einen Tag nach einer Verhandlung vor dem französischen Gericht wegen der Obsorge – nach Österreich, wo sie am 10. 8. 2016 ihr zweites Kind, eine Tochter, gebar. Wer der Vater des Kindes ist, wurde bisher nicht festgestellt.

Mit dem angefochtenen Beschluss bestätigte das Rekursgericht die Rückführung des Minderjährigen in das Staatsgebiet von Frankreich.

Rechtliche Beurteilung

Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter ist nicht zulässig.

Die Rechtsmittelwerberin führt aus, eine Rückführung würde den Minderjährigen in eine unzumutbare Lage im Sinn des Art 13 Abs 1 lit b zweiter Fall HKÜ bringen, weil er

von seiner Schwester getrennt aufwachsen müsste, die ein Recht darauf habe in Österreich, dessen Staatsbürgerin sie sei, zu bleiben,

bereits sozial integriert sei und

aufgrund der Obsorgeentscheidung des französischen Gerichts vom 7. 2. 2017 bei einer Rückführung im Haushalt des Vaters leben müsste, während die Mutter die hauptsächliche Bezugsperson sei, sodass der zwingende Kontaktabbruch zur Mutter ein nachhaltiger und traumatischer Einschnitt für den Minderjährigen wäre.

Die Ausführungen des Rechtsmittels zeigen keine Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG auf.

Dem HKÜ liegt das Ziel zugrunde, die sofortige Rückgabe des widerrechtlich verbrachten Kindes in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen (RIS‑Justiz RS0109515 [T11]).

Der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist eng auszulegen und deshalb auf besondere Sachverhalte zu beschränken. Berücksichtigungswürdige drohende Nachteile müssen über die zwangsläufigen Folgen eines erneuten Aufenthaltswechsels hinausgehen, weil sonst das Ziel des HKÜ nicht greifen würde (RIS‑Justiz RS0074568 [T5]). Eine gelungene Integrierung eines Kindes in eine neue Umgebung nach Art 12 Abs 2 HKÜ schließt eine Rückführung nur dann jedenfalls aus, wenn der Rückführungsantrag mehr als ein Jahr nach dem Verbringen des Kindes gestellt wurde (RIS‑Justiz RS0074568 [T7]).

Ob das Kindeswohl im Sinn des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ bei einer Rückgabe an den Antragsteller gefährdet wird, ist eine von den jeweiligen Umständen abhängige Frage, die im Einzelfall zu entscheiden ist (RIS‑Justiz RS0074568 [T1]). Dieser Frage kommt daher im Allgemeinen keine über den zu beurteilenden Fall hinausgehende Bedeutung zu (RIS‑Justiz RS0074568 [T3]). Die Person, die sich der Rückgabe widersetzt, trifft die volle Behauptungs‑ und Beweislast für das Vorliegen von Rückführungshindernissen (RIS‑Justiz RS0074561). Die Argumentation im Revisionsrekurs erschöpft sich in Umständen, die typischerweise mit Übersiedlungen verbunden sein werden.

Die Rechtsprechung geht überwiegend davon aus, dass es unter Beachtung der Umstände des Einzelfalls dem entführenden Elternteil zumutbar ist, gemeinsam mit dem Kind in den Herkunftsstaat zurückzukehren, weil es dann nicht zur Trennung kommen muss (5 Ob 47/09m mwN). Die Weigerung der Mutter, das Kind bei einer Rückführung zum antragstellenden Vater zu begleiten, vermag eine Rückführung nicht zu verhindern, wenn dieser die Rückkehr zumutbar ist (vgl RIS‑Justiz RS0074568 [T4]).

Zwar könnte es im Einzelfall tatsächlich sein, dass das Kindeswohl durch eine Trennung von den Geschwistern beeinträchtigt wird (7 Ob 123/00i). Die Mutter könnte jedoch im vorliegenden Fall die Geschwistertrennung dadurch vermeiden, dass sie mit beiden noch kleinen Kindern nach Frankreich reist. Ließe man den Umstand, dass die Schwester des Minderjährigen bei ihrer Mutter in Österreich lebt, bereits für eine Versagung der Rückführung ihres Bruders genügen, würde damit der Zweck des HKÜ unterlaufen, sodass auch der im Rechtsmittel behauptete sekundäre Feststellungsmangel nicht vorliegt.

Dass die Betreuung durch den Vater für den Minderjährigen mit schwerwiegenden Gefahren verbunden wäre, wurde ebensowenig angenommen wie, der Minderjährige würde traumatisiert, wenn die Mutter nicht wieder nach Frankreich übersiedeln würde.

Für die „unzumutbare Lage“ im Sinn des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ reichen gewisse erzieherische oder wirtschaftliche Schwierigkeiten für das Kind nicht aus (Nademleinsky/Neumayr, Internationales Familienrecht Rz 09.10 mwN).

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