OGH 9Ob20/17g

OGH9Ob20/17g24.5.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Dehn, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Korn und Dr. Weixelbraun‑Mohr als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj K* G*, geboren am * 2005, und der mj V* G*, geboren am * 2008, Vater: S* G*, vertreten durch Dr. Leopold Bayer, Rechtsanwalt in Zistersdorf, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter J* G*, vertreten durch Dr. Josef Krist, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts Korneuburg als Rekursgericht vom 9. Februar 2017, GZ 20 R 15/17x‑107, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Gänserndorf vom 16. Dezember 2016, GZ 5 Ps 104/14k‑98, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:E118357

 

Spruch:

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

 

Begründung:

Die Eltern der beiden minderjährigen Kinder K* und V* sind seit 30. 9. 2014 rechtskräftig geschieden. Mit Vergleich vom 18. 6. 2015 vereinbarten sie die gemeinsame Obsorge unter Festlegung der hauptsächlichen Betreuung von K* im Haushalt des Vaters und von V* im Haushalt der Mutter. Das Kontaktrecht wurde in Form einer Doppelresidenz vereinbart, sodass die Kinder im Wesentlichen je eine Woche beim Vater und die darauffolgende Woche bei der Mutter verbringen. Jedem Elternteil wurde in der Woche, in der sich die Kinder beim anderen Elternteil aufhalten, am Mittwoch ein zusätzliches Kontaktrecht nach der Schule bis 19:00 Uhr eingeräumt.

Im Dezember 2015 (ON 75) beantragte der Vater die Vereinbarung dahin abzuändern, dass das Kontaktrecht der Mutter auf jedes zweite Wochenende von Freitag 16:00 Uhr bis Sonntag 18:00 Uhr begrenzt, in eventu ihm die alleinige Obsorge über die Kinder übertragen werde. Nur dadurch sei gewährleistet, dass die Kinder pünktlich und regelmäßig zur Schule gingen und ordentliche schulische Leistungen erbringen. Die Mutter sei jetzt – entgegen dem im Pflegschaftsverfahren eingeholten Sachverständigengutachten vom 31. 3. 2015 – nicht mehr erziehungsfähig.

Die Mutter äußerte sich zu diesem Antrag nicht.

Über Auftrag des Erstgerichts vom 20. 1. 2016 erstattete die Familien- und Jugendgerichtshilfe am 6. 10. 2016 (ON 87) eine fachliche Stellungnahme zu den Fragen, ob die Eltern in der Lage sind, die Bedürfnisse der Kinder zu erkennen und entsprechend zu fördern, ob die Erziehungsfähigkeit der Mutter gegeben oder wie weit diese eingeschränkt ist und ob die vom Vater beantragte Änderung der Betreuungszeiten bei der Mutter, in eventu die alleinige Obsorge des Vaters im Interesse der Kinder liegt und deren Wohl entspricht. Zusammengefasst kam die Familien- und Jugendgerichtshilfe darin zum Ergebnis, dass die Mutter nicht in der Lage sei, eine dem Kindeswohl förderliche Doppelresidenz oder Obsorgeausübung zu gewährleisten. Aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Informationen scheine die Übertragung der alleinigen Obsorge an den Vater dem Wohl der beiden Kinder derzeit am besten zu entsprechen.

Daraufhin beantragte der Vater am 31. 10. 2016 (ON 89) die Übertragung der alleinigen Obsorge über die beiden Kinder K* und V* und die Abänderung des Kontaktrechts der Mutter wie im Antrag ON 75.

Die Mutter äußerte sich am 14. 11. 2016 (ON 92) zur fachlichen Stellungnahme der Familien‑ und Jugendgerichtshilfe dahin, dass diese nicht die aktuelle Sachlage wiedergebe. Insbesondere würden beide Kinder im neuen Schuljahr 2016/17 eine Nachmittagsbetreuung genießen, die Schulerfolge hätten sich erheblich gebessert und die aktuelle Wohnsituation im Haus ihres Lebensgefährten sei nunmehr ausgezeichnet. Es werde daher die Einholung aktueller Informationen der Lehrkräfte der Kinder und danach die Erstattung einer ergänzenden Stellungnahme der Familien- und Jugendgerichtshilfe beantragt. Allfällige Lerndefizite von V* seien im Übrigen medizinisch begründet (ON 94 und 96). Am 14. 12. 2016 (ON 97) beantragte die Mutter, die Obsorgevereinbarung aufrecht zu lassen.

Mit Beschluss vom 16. 12. 2016 übertrug das Erstgericht dem Vater die alleinige gesetzliche Obsorge über die beiden mj Kinder K* und V* (Spruchpunkt 1). Der Mutter wurde ein 14‑tägiges Kontaktrecht von Freitag nach Schulschluss bis Sonntag, 18:00 Uhr, eingeräumt (Spruchpunkt 2). Dem Vater wurde aufgetragen, binnen vier Wochen die Kinder zum Besuch einer Rainbows-Gruppe anzumelden und hierüber binnen sechs Wochen eine Bestätigung vorzulegen (Spruchpunkt 3).

Die Verhältnisse hätten sich gegenüber dem seinerzeitigen Sachverständigengutachten vom 31. 3. 2015, in der auch der Mutter die Erziehungsfähigkeit attestiert worden sei, geändert. Eine gemeinsame Obsorge komme wegen der fehlenden Kommunikationsbasis der Eltern nicht mehr in Frage. Das bisher geübte Modell der Doppelresidenz sei an der mangelnden Wahrnehmung schulischer Belange durch die Mutter, die die Bedürfnisse der Kinder in diesem für das Kindeswohl äußerst maßgeblichen Punkt nicht ausreichend sicherstellen könne, gescheitert.

Das Rekursgericht gab dem dagegen erhobenen Rekurs der Mutter nicht Folge. Es verneinte die darin geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Verfahrens und erachtete in rechtlicher Hinsicht die Obsorgeübertragung an den Vater gemäß § 181 Abs 1 ABGB dem Wohl der Kinder entsprechend.

Rechtliche Beurteilung

Der – nach Freistellung durch den Obersten Gerichtshof beantwortete – außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter ist zulässig und mit seinem Eventualantrag auf Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen auch berechtigt.

1. Zunächst ist klarzustellen, dass die gegenständliche Obsorgeentscheidung ihre Rechtsgrundlage nicht in § 181 ABGB, sondern in § 180 Abs 3 ABGB findet. Nach § 180 Abs 3 ABGB kann die Obsorge neu geregelt werden, wenn sich seit der gerichtlichen Festlegung die Verhältnisse maßgeblich geändert haben. Dies gilt – im Gegensatz zum Wortlaut des § 180 Abs 3 ABGB – naturgemäß nicht nur für die Abänderung einer durch gerichtliche Entscheidung herbeigeführten Regelung, sondern auch für Vereinbarungen zwischen den Eltern (6 Ob 19/17p mwN). Dementsprechend lässt auch der Oberste Gerichtshof, selbst wenn die Eltern die gemeinsame Obsorge – wie im vorliegenden Fall – vereinbart haben, bei einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse einen Antrag auf Neuregelung der Obsorge zu (RIS‑Justiz RS0128809).

2. Der von der Rechtsprechung auf das Verfahren außer Streitsachen ausgedehnte Grundsatz, dass ein vom Gericht zweiter Instanz verneinter erstinstanzlicher Verfahrensmangel in dritter Instanz nicht mehr erfolgreich zum Gegenstand einer Verfahrensrüge gemacht werden kann, ist im Obsorgeverfahren und Kontaktrechtsverfahren jedenfalls dann nicht anzuwenden, wenn das die Interessen des Kindeswohls erfordert (RIS‑Justiz RS0050037 [T1, T4]; RS0030748 [T2, T5]). Dies ist hier ausnahmsweise der Fall:

Obsorgeentscheidungen sind ausschließlich auf der Grundlage des Kindeswohls zu treffen (RIS‑Justiz RS0048632). Sie haben eine zukunftsbezogene Rechtsgestaltung zum Inhalt und können nur dann sachgerecht sein, wenn sie auf einer aktuellen bis in die jüngste Gegenwart reichenden Tatsachengrundlage beruhen (RIS‑Justiz RS0106312; vgl RS0106313).

Das erstgerichtliche Verfahren trug diesen Grundsätzen nicht ausreichend Rechnung. So blieb insbesondere die Äußerung der Mutter vom 14. 11. 2016 im Verfahren gänzlich unberücksichtigt. Weder wurde das darin enthaltene Vorbringen der Mutter zur erheblichen Verbesserung der Gesamtsituation der Kinder im neuen Schuljahr 2016/17 verifiziert noch hat das Erstgericht die dazu von der Mutter konkret beantragten Beweise aufgenommen.

Auch wenn nach § 13 AußStrG das Verfahren so zu gestalten ist, dass eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung des Verfahrensgegenstands und eine möglichst kurze Verfahrensdauer gewährleistet sind und im Außerstreitverfahren auch ein Beweisaufnahmeermessen besteht, der Richter daher nicht streng an die Anträge der Parteien gebunden ist, kann von der Aufnahme einzelner Beweismittel nur dann Abstand genommen werden, wenn auch auf andere Weise eine (ausreichend) verlässliche Klärung möglich ist (6 Ob 86/15p mwN; RIS‑Justiz RS0006319 [T6]).

Das Erstgericht hat es im gegenständlichen – vom Untersuchungsgrundsatz (§ 16 AußStrG) beherrschten – Obsorgeverfahren aber verabsäumt, sich Klarheit über die Behauptungen der Mutter zu den wesentlichen Änderungen gegenüber dem Zeitpunkt der Erstattung der fachlichen Stellungnahme der Familien‑ und Jugendgerichtshilfe (ON 87) zu verschaffen. Dies wäre im konkreten Fall aber unbedingt notwendig gewesen, weil der fachlichen Stellungnahme der Familien- und Jugendgerichtshilfe nahezu ausschließlich Erhebungsergebnisse zugrunde liegen, die sich auf den Zeitraum Frühjahr und Sommer 2016 beziehen. Auch eine gerichtliche Einvernahme der Eltern und Befragung der Kinder (§ 105 AußStrG) zu den von der Mutter behaupteten wesentlichen Änderungen seit dem Schuljahr 2016/17 erfolgte nicht.

Überdies mag eine fachliche Stellungnahme der Familien- und Jugendgerichtshilfe iSd § 106a Abs 4 AußStrG zwar in Einzelfällen im Zusammenhalt mit den anderen Beweismitteln eine ausreichende Grundlage auch für eine Obsorgeentscheidung darstellen, sie ist aber nicht mit einem Sachverständigengutachten iSd §§ 351 ff ZPO gleichzusetzen (6 Ob 86/15p mwN). Es bleibt dennoch dem Erstgericht überlassen, wie es die für die gegenständliche Obsorgeentscheidung erforderliche aktuelle und vollständige Tatsachengrundlage ermittelt. Dabei ist jedoch die grundsätzliche Tragweite einer derartigen Entscheidung ausreichend zu berücksichtigen.

Der Revisionsrekurs der Mutter ist somit in seinem Aufhebungsantrag berechtigt.

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