OGH 7Ob33/17d

OGH7Ob33/17d26.4.2017

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache des Bewohners M* S*, geboren am *, vertreten durch VertretungsNetz – Sachwalterschaft, Patienten-anwaltschaft, Bewohnervertretung (Bewohnervertreter: Mag. A* F*), 6020 Innsbruck, Olympiastraße 17/1, vertreten durch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in Wien, eingetragene Angehörigenvertreterin H* S*, Einrichtungsleiter K* S*, vertreten durch Greiter Pegger Kofler & Partner, Rechtsanwälte in Innsbruck, wegen Überprüfung von Freiheitsbeschränkungen gemäß § 11 HeimAufG, über den Revisionsrekurs des Vereins gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 23. Jänner 2017, GZ 78 R 2/17t‑16, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Innsbruck vom 21. Dezember 2016, GZ 5 HA 6/16x‑11, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:E118307

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

Der Bewohner besucht seit seinem 6. Lebensjahr die Schule in der Einrichtung, dem E* in A*, wo er an den Schultagen im Internat wohnt. An Wochenenden und in Ferienzeiten lebt er zu Hause bei seinen Eltern in S*, wo er seinen Hauptwohnsitz hat. Auch nach Erreichen der Volljährigkeit verblieb er „in dieser Weise“ rund eineinhalb Jahre in der Einrichtung, bis eine geeignete Erwachseneneinrichtung gefunden werden konnte.

Beim Bewohner besteht eine psychisch‑mentale und motorisch schwerste Behinderung, bei der die Verbindung zwischen den Hirnhälften beeinträchtigt ist. Er befindet sich im Entwicklungsstand eines unter 1‑jährigen Kindes und ist nicht in der Lage, verbal gezielt zu kommunizieren. Er kann sich ohne Unterstützung nicht selbstständig fortbewegen und ohne Beckengurt nicht im Rollstuhl sitzen. Aufgrund seiner geistigen Behinderung bedarf er der ständigen Pflege und Betreuung. Während epileptischer Anfälle kann er zu Boden stürzen und sich dabei verletzen. Darüber hinaus leidet er an Selbstaggressionen, die sich durch automatische Schläge gegen seinen Kopf äußern. Je länger das Bewegungsmuster beibehalten wird, desto schwerer kann es unterbrochen werden. Es können dadurch Mikrotraumen im Gehirn, Platzwunden, aber auch Knochenbrüche und andere erhebliche Verletzungen entstehen. Deshalb wird er seit Jahren regelmäßig in der Dauer von wenigen Minuten bis maximal 20 Minuten sowohl im Bett als auch im Rollstuhl an den Handgelenken mit Manschetten fixiert, die fast jede Bewegung erlauben, nur nicht das Schlagen auf den Kopf. Sie werden nur dann eingesetzt, wenn andere Maßnahmen versagen. Dem Bewohner wird auch ein Beckenkontraktionsgurt im Rollstuhl angelegt, um seine Haltung zu stabilisieren. Bei seinem Bett kommt ein durchgehendes Seitenteil zum Einsatz, er würde sonst aus dem Bett fallen. Er erhält Medikamente gegen seine epileptischen Anfälle, die Dosierung ist sehr gering. Eine Meldung der Maßnahmen erfolgte nicht, weil der Einrichtungsleiter der Meinung ist, dass die Einrichtung nicht in den Anwendungsbereich des HeimAufG fällt. Die Einsichtnahme in die Dokumentation wurde dem Verein verweigert.

Das E* wird von der s* Dienste GmbH betrieben. Geschäftszweig der GmbH ist der Betrieb von karitativen, gemeinnützigen und mildtätigen Sozialeinrichtungen zur ganzheitlichen Förderung und Betreuung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, vorwiegend mit Körper‑ und Mehrfachbehinderungen. Zielgruppe der hier zu beurteilenden Einrichtung sind insbesondere Minderjährige mit Behinderungen, aber auch Minderjährige ohne diese Einschränkung. Sie werden gemeinsam gefördert. Derzeit werden etwa 156 Kinder im E* betreut, davon haben etwa 100 Personen eine Behinderung. Von insgesamt 156 Menschen sind 145 minderjährig und 11 volljährig, wobei diese in der Regel als Minderjährige im E* aufgenommen wurden, für sie aber trotz Bemühungen noch keine geeignete Erwachseneneinrichtung gefunden wurde, sodass sie vorübergehend weiter betreut werden. Aktuell befinden sich 57 Personen in der Tagesbetreuung, 18 im Schulzeitinternat und 14 in der Ganzjahreswohngruppe. Die übrigen Kinder besuchen nur die Schule oder den Kindergarten. Es handelt sich um eine Einrichtung der Behindertenhilfe, die mit Bescheid als gemäß § 18 Tiroler Rehabilitationsgesetz geeignet festgestellt wurde.

Die Einrichtung unterliegt der Aufsicht des Landes Tirol, Abteilung Soziales, der gemäß § 18 Abs 4 Tiroler Rehabilitationsgesetz die laufende Kontrolle der Einrichtung obliegt, die in Zusammenarbeit mit der Gruppe Gesundheit des Landes Tirol abgewickelt wird. Die Finanzierung der Maßnahmen erfolgt ebenfalls über das Land Tirol. Die letzte Kontrolle durch die Tiroler Landesregierung fand im Herbst 2016 statt und bezog sich auf die Ganzjahresgruppe. Zuvor erfolgte eine Einschau 2013. Auch die OPCAT (Menschenrechtsmonitoring durch die Volksanwaltschaft) sowie die Kinder‑ und Jugendanwaltschaft sind in der Einrichtung aufsichtsberechtigt und ‑verpflichtet. Der Kinder‑ und Jugendanwalt besucht die Einrichtung regelmäßig und bietet einmal im Monat vor Ort Sprechstunden an. Die OPCAT hält regelmäßig Einschau. Es erfolgten keine Beanstandungen.

Ein wesentlicher Teil der betreuten Kinder und Jugendlichen in der Ganzjahresgruppe wurden vom Kinder- und Jugendhilfeträger zugewiesen. Obwohl die Einrichtung keine sozialpädagogische Einrichtung iSd § 22 T‑KJHG ist, und eine Eignungsfeststellung und Kontrolle durch den Kinder‑ und Jugendhilfeträger nicht erfolgt, ist es faktisch so, dass bei den ganzjährig untergebrachten Kindern entweder dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger die Obsorge zukommt oder dieser zumindest wegen einer bestehenden Überforderung des Herkunftssystems eingebunden ist.

Abgesehen von der Ganzjahresgruppe ist die Einrichtung nur an Schultagen geöffnet, also etwa die Hälfte der Tage im Jahr. Im Bereich der Pflege und Erziehung besteht eine völlig andere Struktur als in Erwachseneneinrichtungen. Da die Mitarbeiter viele Schließtage einarbeiten müssen, sind sie während der Öffnungszeiten lange und gleichzeitig anwesend. Der Betreuungsschlüssel ist erheblich höher als in Erwachseneneinrichtungen, er liegt zumindest beim Doppelten, bei manchen Kindern findet eine ständige 1 : 1 Betreuung statt. Bei Einrichtungen für Erwachsene mit Behinderungen ist der Betreuungsschlüssel dagegen 1 : 2 bis 1 : 6. Es wird ausschließlich Personal, das zur Betreuung von Minderjährigen geeignet ist (Pädagogen, Kindergärtnerinnen, Lehrer) und das in Erwachseneneinrichtungen „teilweise gar nicht arbeiten dürfte“, herangezogen. In den Sonderschulklassen der Einrichtung werden sechs bis sieben, manchmal auch nur fünf Schüler von zwei Lehrern, zwei Assistenten, einem Zivildiener und/oder einer Person, die das freiwillige Sozialjahr absolviert, betreut. Dazu kommen noch Therapeuten. Es stehen stets vier bis sieben Betreuer für maximal sieben Schüler zur Verfügung. Kinder, die in der Einrichtung übernachten und tagsüber betreut werden, sind in einer familienähnlichen Wohnstruktur, in Wohngruppen mit einer Größe von vier bis acht Kindern, untergebracht. In der Gruppe des Bewohners befinden sich vier Kinder. Nachmittags werden noch maximal fünf weitere Kinder aus der Tagesbetreuung mitbetreut. Der Internatsgruppe stehen zumindest vier bis sieben Betreuer gleichzeitig zur Verfügung. Beim Bewohner und bei Kindern mit ähnlichen Einschränkungen findet den ganzen Tag eine 1 : 1 Betreuung statt. Auch in der Nacht ist immer jemand anwesend und mit dem Babyphon in die Wohngruppen verbunden.

Der Verein beantragte die Überprüfung der Maßnahmen gemäß § 11 HeimAufG. Die Einrichtung unterliege dem HeimAufG, weil es die Möglichkeit gebe, auch psychisch kranke oder geistig behinderte Erwachsene ständig zu betreuen und zu pflegen. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb Minderjährige, die aufgrund einer psychischen Erkrankung oder geistigen Behinderung besonderer Betreuung und Pflege in einer Einrichtung bedürften, im Gegensatz zu volljährigen Bewohnern vom Schutz des HeimAufG ausgenommen sein sollten.

Der Einrichtungsleiter bestritt die Anwendbarkeit des HeimAufG. Bei der Einrichtung handle es sich um eine solche für Minderjährige gemäß § 2 Abs 2 HeimAufG. Der Bewohner sei als 6‑jähriger in die Schule mit Internat aufgenommen worden, die Leistung werde nur an Schultagen angeboten, das sei weniger als 50 % der Tage des Jahres. Der Bewohner werde nur aufgrund einer familiären Notsituation und des Platzmangels in Erwachsenen-einrichtungen in Salzburg über die Volljährigkeit hinaus im Schülerinternat betreut. Zwischenzeitlich sei es gelungen, für ihn einen Betreuungsplatz zu finden.

Das Erstgericht kam zum Ergebnis, dass das HeimAufG nicht anzuwenden sei. Die Einrichtung richte sich explizit an Kinder und Jugendliche. Der bloße Umstand, dass manche Personen über die Volljährigkeit hinaus bis zur Auffindung einer geeigneten Erwachseneneinrichtung weiter betreut würden, mache sie nicht zu einem Behindertenheim iSd § 2 Abs 1 HeimAufG. Dass die Einrichtung nicht der Kinder‑ und Jugendhilfe unterstehe, mache keinen Unterschied, zeige das Gesetz doch keine derartige Unterscheidung auf, sondern finde sich diese lediglich in den Gesetzesmaterialien. Auch eine allfällig analoge Heranziehung der personenbezogenen Abgrenzung des Anwendungsbereichs wie bei Krankenanstalten sei nicht sachgerecht. Die Einrichtung werde ohnehin vom Land Tirol, von der Volksanwaltschaft (OPCAT) sowie vom Kinder‑ und Jugendanwalt überprüft und kontrolliert. Sie sei auch in ihrer Organisation, Ausgestaltung und Zielsetzung nicht mit einer Erwachseneneinrichtung zu vergleichen, sondern familienähnlich ausgelegt.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Die Ausnahmebestimmung des § 2 Abs 2 HeimAufG stelle alleine darauf ab, ob es um Heime und andere Einrichtungen zur Pflege und Erziehung Minderjähriger gehe. Es liege keine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes vor. Die Einrichtung unterliege hier unstrittig zwar nicht der Aufsicht des Kinder- und Jugendhilfeträgers, wohl aber jener des Landes, der OPCAT Kommission der Volksanwaltschaft und der Kinder- und Jugendanwaltschaft.

Der Revisionsrekurs sei zulässig, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu einer Einrichtung, die nicht der Aufsicht des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers unterliege, fehle.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der ordentliche Revisionsrekurs des Vereins mit dem Abänderungsantrag, die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen für unzulässig zu erklären; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Leiter der Einrichtung hat sich nicht am Revisionsrekursverfahren beteiligt.

Vorweg ist zur Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels festzuhalten, dass eine E-Mail keine zulässige Form des Elektronischen Rechtsverkehrs (ERV) im Sinn der ERV 2006 ist. An das Gericht (Richter oder Diplomrechtspfleger) gerichtete E-Mails sind nach der jüngeren Rechtsprechung unzulässig und daher auch nicht fristwahrend (2 Ob 212/16i mwN; RIS-Justiz RS0126972; RS0127859). Ebenso unzulässig ist umgekehrt die Zustellung einer, eines Zustellnachweises bedürftigen, Gerichtsentscheidung per E-Mail (Gitschthaler in Rechberger, ZPO4 § 87 [§ 1 ZustG] Rz 4; Stumvoll in Fasching/Konecny³, § 1 ZustG, Rz 22 f; ErläutRV 252 BlgNR 22. GP  17; § 5 Abs 1a ERV 2006). Die unzulässige Übermittlung einer gerichtlichen Entscheidung entfaltet Zustellwirkung aber auch nicht im Wege der Heilung nach § 7 ZustG (9 ObA 29/04m = RIS-Justiz RS0083731 [T8]). Da eine Entscheidung aber ab der Bindung des Gerichts an sie und noch vor ihrer Zustellung mit Rechtsmittel bekämpft werden kann (RIS-Justiz RS0041748 [T2]), ist der vorliegende Revisionsrekurs jedenfalls rechtzeitig.

Rechtliche Beurteilung

Er ist überdies zulässig im Sinne der Ausführungen des Rekursgerichts, aber nicht berechtigt.

I. Rechtsmittelvorbringen:

Der Rechtsmittelwerber führt aus, der Oberste Gerichtshof habe zwar die Anwendung des HeimAufG auf eine unter Aufsicht des Kinder- und Jugendwohlfahrtsträgers stehende Einrichtung mit Hinweis auf die Absicht des historischen Gesetzgebers abgelehnt. Hier sei eine derartige Aufsicht aber nicht gegeben. Bei der Interpretation des § 2 Abs 2 HeimAufG sei die generelle Zielrichtung dieses Gesetzes zu berücksichtigen, den Anwendungsbereich möglichst weit zu fassen, und nur jene Einrichtungen auszunehmen, die bereits einem anderen Regelungsregime, wie zum Beispiel dem UbG, unterlägen. Im Fall des § 2 Abs 2 HeimAufG hätten daher nur die Einrichtungen ausgenommen werden sollen, die der Aufsicht der Kinder‑ und Jugendwohlfahrt unterliegen. Die Aufsicht der OPCAT sowie der Kinder‑ und Jugendanwaltschaften sei nicht gleichwertig, weil ihnen keine gerichtliche Kontrollbefugnis zukomme.

Auch Pflegeheime und Behinderteneinrichtungen für Erwachsene unterlägen der Aufsicht des Landes. Dieser Umstand spreche daher nicht gegen die Anwendung des HeimAufG. Dessen Anwendung sei auch verfassungsrechtlich geboten, weil der Schutz des Rechts auf persönliche Freiheit in Heimen und Einrichtungen zur Pflege und Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung nur in wenigen, sachlich begründeten Ausnahmefällen nicht der gerichtlichen Kontrolle durch das HeimAufG unterliegen solle. Im Übrigen sei hier die Überprüfung einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme bei einem Erwachsenen Gegenstand des Verfahrens.

II. Hiezu wurde erwogen:

II.1. Zum Geltungsbereich des HeimAufG regelt dessen § 2 Abs 1, dass dieses in Alten‑ und Pflegeheimen, Behindertenheimen sowie in anderen Einrichtungen, in denen wenigstens drei psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen ständig betreut oder gepflegt werden können, anwendbar ist. In Krankenanstalten ist es nur auf Personen anzuwenden, die dort wegen ihrer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung der ständigen Pflege oder Betreuung bedürfen. Nach Abs 2 der Bestimmung ist das Bundesgesetz ua auf Heime und andere Einrichtungen zur Pflege und Erziehung Minderjähriger nicht anzuwenden. Die Erläuterungen zur RV 353 BlgNR 22. GP 8, erwähnen dazu in einem Klammerausdruck die Aufsicht der Jugendwohlfahrtsträger nach § 22 JugendwohlfahrtsG 1989.

II.2. Der Oberste Gerichtshof hatte sich erst einmal in der Entscheidung 7 Ob 1/14v mit der Minderjährige betreffenden Ausnahme des § 2 Abs 2 HeimAufG zu befassen, wobei in diesem Fall die Einrichtung der Aufsicht des Jugendwohlfahrtsträgers (bzw nunmehr des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers nach dem B‑KJHG) unterstand. Maßgebend stelle die Bestimmung darauf ab, ob es um „Heime oder andere Einrichtungen zur Pflege und Erziehung Minderjähriger“ gehe (und damit auf die Jugendwohlfahrt), auf welche das Gesetz nicht anwendbar sein solle. Das Auslegungsergebnis, dass die Einrichtung dem Ausnahmetatbestand des § 2 Abs 2 HeimAufG unterliege, entspreche dem Willen des Gesetzgebers, der dieses Gesetz auf bestimmte dort angeführte Institutionen nicht angewendet haben wollte, wiesen doch die Erläuterungen zur Ausnahmebestimmung ausdrücklich darauf hin, dass sie „unter Aufsicht der Jugendwohlfahrtsträger“ stünden. Dass dies sachlich problematisch sei, stelle angesichts des klaren Wortlauts des § 2 Abs 2 HeimAufG und der aus den Gesetzesmaterialien eindeutig hervorgehenden Gründe für die institutionellen Ausnahmen vom HeimAufG lediglich eine rechtspolitische Kritik an der bestehenden Gesetzeslage dar. Ein Vergleich mit den Regelungen für Krankenanstalten bestätige dieses Auslegungsergebnis insofern, als diese zwar ebenfalls durch § 2 Abs 2 HeimAufG grundsätzlich aus dem Anwendungsbereich dieses Gesetzes ausgenommen seien, dennoch aber nach der ausdrücklichen Anordnung des § 2 Abs 1 letzter Satz HeimAufG partiell in dessen Anwendungsbereich in Bezug auf Personen fielen, die dort wegen ihrer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung der ständigen Pflege und Betreuung bedürften. Durch die Gegenausnahme des § 2 Abs 1 letzter Satz HeimAufG sei dessen Geltungsbereich in Krankenanstalten daher personenbezogen abzugrenzen. Eine entsprechende Gegenausnahme für Jugendheime fehle aber. Dies sei auch keine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes (Gesetzeslücke), weil der historische Gesetzgeber die Jugendheime wegen der bestehenden Aufsicht des Jugendwohlfahrtsträgers vom HeimAufG ausgenommen habe. Dessen Aufsicht über die „Pflege und Erziehung Minderjähriger“ gelte nämlich für alle in einem Jugendheim untergebrachten Jugendlichen, also auch für geistig behinderte und psychisch Kranke. Weder aus Anlass der Novelle des HeimAufG 2006 noch aus jener des Inkrafttretens des B‑KJHG 2013 habe sich der Gesetzgeber dazu veranlasst gesehen, von seiner Wertung einer (anders als bei Krankenanstalten) einrichtungsbezogenen Ausnahme abzugehen. Ein Jugendheim werde daher zu keinem Behindertenheim, auch wenn dort Minderjährige leben würden, die behindert oder psychisch krank seien. Als Jugendheim bleibe es aber einrichtungsbezogen vom Anwendungsbereich des HeimAufG ausgenommen, unterliege der Aufsicht des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers gemäß § 17 Abs 6 B‑KJHG und sei daher – um Doppelgleisigkeiten zu vermeiden – von der Aufsicht durch den Verein ausgenommen.

II.3. Hier liegt der Fall insofern anders, als eine nicht der Aufsicht des in den Materialien zum HeimAufG ausdrücklich genannten Jugendwohlfahrtsträgers (nunmehr Kinder- und Jugendhilfeträgers) unterliegende Einrichtung zu beurteilen ist. Es stellt sich daher die Frage, ob die in ihrem Wortlaut nicht differenzierende Bestimmung des § 2 Abs 2 HeimAufG auch auf solche Einrichtungen anzuwenden ist:

II.4. Literatur:

II.4.1. Im Schrifttum verweist Barth, Zwangsmaßnahmen an Minderjährigen in sozialpädagogischen Einrichtungen, ÖJZ 2006/20, 305 ff, darauf, dass in sozialpädagogischen Einrichtungen des Öfteren auch geistig behinderte, mitunter auch „psychotische“ Kinder und Jugendliche untergebracht seien. Dennoch sei das HeimAufG in der Regel nicht anwendbar. Mit den in der Ausnahme des § 2 Abs 2 HeimAufG genannten Einrichtungen zur Pflege und Erziehung Minderjähriger seien jene gemeint, die unter Aufsicht der Jugendwohlfahrtsträger stünden, auf die in den Erläuterungen zum HeimAufG ausdrücklich verwiesen werde. Ein Minderjähriger der im Rahmen der Maßnahme nach § 28 JWG („volle Erziehung“) in einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung untergebracht sei, falle daher nicht in den Anwendungsbereich des HeimAufG und zwar auch dann nicht, wenn er geistig behindert und deshalb eine Freiheitsbeschränkung notwendig sei. Etwas anderes gelte nur dann, wenn ein psychisch krankes oder geistig behindertes Kind in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft betreut werde, ohne dass dies auf eine Jugendwohlfahrtsmaßnahme zurückzuführen sei. Hier wäre das HeimAufG grundsätzlich anzuwenden, wobei die Zustimmung der Eltern nur solche Bewegungseinschränkungen legitimieren könne, die vom Elternrecht tatsächlich umfasst seien.

II.4.2.  Strickmann, Heimaufenthaltsrecht², 103 erwähnt unter dem Titel „Weitere institutionelle Ausnahmen“ Heime und andere Einrichtungen zur Pflege und Erziehung Minderjähriger unter der Aufsicht des Jugendwohlfahrtsträgers (volle Erziehung) als vom HeimAufG ausgenommen.

II.4.3.  Bürger/Halmich, HeimAufG, 34 f verweisen ebenfalls auf Heime und Einrichtungen zur Pflege und Erziehung Minderjähriger unter der Aufsicht der Kinder- und Jugendhilfeträger. Dass selbst dann, wenn in einer sozialpädagogischen Einrichtung (ausschließlich oder überwiegend) minderjährige Personen mit psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung ständig betreut oder gepflegt würden, das HeimAufG keine Anwendung finde, halten sie für eine sachlich nicht rechtfertigbare Ungleichbehandlung zwischen pflege‑ und betreuungsbedürftigen Minderjährigen und Erwachsenen. Derselbe Minderjährige, der im Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung in einem Behinderten‑ oder Pflegeheim lebe, genieße dort, wie alle anderen Bewohner, unabhängig von seinem Alter den vollen Rechtsschutz des HeimAufG, wogegen er bei Betreuung in einer sozialpädagogischen Einrichtung keinen Schutz seiner Freiheitsrechte durch unabhängige Bewohnervertreter erfahre. Die Widmung als Kinder‑ und Jugendheim mit der Aufsichtspflicht des Jugendwohlfahrtsträgers könne nicht dazu führen, dass der Ausnahmetatbestand des § 2 Abs 2 HeimAufG auch greife, wenn in der jeweiligen Einrichtung nicht nur Minderjährige, sondern auch mindestens drei erwachsene Bewohner mit psychiatrischen Diagnosen lebten, heimtypische Bedingungen gegeben seien und im Zusammenhang damit ständige Pflege und Betreuung gewährleistet werde.

II.4.4. Herdega/Bürger in Resch/Wallner, Handbuch Medizinrecht², Rz 29 legen dar, dass Freiheitsbeschränkungen an minderjährigen Bewohnern den Bestimmungen des HeimAufG unterliegen, wenn sie sich in einer grundsätzlich dem HeimAufG unterliegenden Einrichtung befinden. Hingegen seien Einrichtungen, die der Pflege und Erziehung Minderjähriger dienten und der Aufsicht des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers unterlägen, ausdrücklich vom Gesetz ausgenommen und zwar auch dann, wenn die dort Betreuten psychisch krank oder geistig behindert seien.

II.4.5. Bürger, Geltungsbereich des HeimAufG in Heimen zur Pflege und Erziehung Minderjähriger, ÖZPR 2014/12, 20 ff hält es für problematisch, freiheitsbeschränkende Maßnahmen, die im Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung stehen und daher keine alterstypischen Maßnahmen der elterlichen Obsorge darstellen, nur in Alten‑, Pflege‑ und Behindertenheimen zu regeln, nicht aber in anderen der Sachlage nach vergleichbaren Institutionen. Könnten in Einrichtungen wenigstens drei psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen ständig betreut oder gepflegt werden, sei an der zwingenden Anwendbarkeit des HeimAufG nicht zu zweifeln, unabhängig davon, ob es sich bei den betroffenen Bewohnern um Erwachsene oder Minderjährige handle. Dadurch, dass in der Einrichtung gemäß § 2 Abs 1 HeimAufG psychisch kranke oder geistig behinderte Minderjährige aufgenommen würden, werde diese nicht zu einer Einrichtung zur Pflege und Erziehung Minderjähriger iSd § 2 Abs 2 HeimAufG. Gleiches müsse auch für Einrichtungen gelten, die zwar als Jugendheime gewidmet seien, und formell unter der Aufsicht des Jugendwohlfahrtsträgers stünden, deren Aufgabe sich aber nicht allein auf die Übernahme von Minderjährigen in Pflege und Erziehung beschränke, sondern Maßnahmen umfasse, die über typische Beschränkungen im Rahmen der elterlichen Obsorge hinausgingen, und bei denen die Betreuung und Pflege psychisch kranker oder geistig behinderter Menschen im Vordergrund stünden. In diesem Fall liege der Ausnahmetatbestand des § 2 Abs 2 HeimAufG nicht vor. Er stelle vielmehr auf die Pflege und Erziehung Minderjähriger nach § 158 Abs 1 ABGB ab und nicht auf die Pflege und Betreuung psychisch kranker oder geistig behinderter Personen.

II.4.6. Carniel, Rechtsschutz für Kinder und Jugendliche mit Behinderung bei freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, ÖZPR 2014/121, [180 f], legt dar, dass vom Anwendungsbereich des HeimAufG gemäß § 2 Abs 2 HeimAufG alle Einrichtungen, die unter der Aufsicht der Kinder‑ und Jugendhilfeträger stünden, ausgeschlossen seien. Die Erläuterungen zum HeimAufG gäben dafür keine Begründung. Vielleicht habe der Gesetzgeber nicht vor Augen gehabt, dass in solchen Einrichtungen auch Kinder und Jugendliche mit Behinderungen gepflegt und betreut würden, was tatsächlich aber der Fall sei. Damit genieße das gleiche Kind, je nach dem in welcher Einrichtung es betreut werde, einen unterschiedlichen Rechtsschutz.

II.5. Aus der oben in Pkt II.1. dargelegten Regelungslage zum Anwendungsbereich des HeimAufG ergibt sich, dass dieser grundsätzlich, was die Alten‑ und Pflegeheime sowie Behindertenheime und die Heime und anderen Einrichtungen zur Pflege und Erziehung Minderjähriger betrifft, einrichtungsbezogen abzugrenzen ist (1 Ob 80/07g, 7 Ob 1/14v; RIS‑Justiz RS0122132; RS0129458) und dagegen bei Krankenanstalten aufgrund der Regelung des § 2 Abs 1 letzter Satz HeimAufG personenbezogen (7 Ob 1/14v mwN).

Im Bereich der einrichtungsbezogenen Abgrenzung kommt es nicht auf die konkreten Umstände der Personen, die dort gepflegt werden, an. So ist das HeimAufG auch dann anzuwenden, wenn ein Minderjähriger betroffen ist, der sich in einer Einrichtung iSd § 2 Abs 1 HeimAufG aufhält (1 Ob 80/07g; RIS‑Justiz RS0122132). Umgekehrt wird ein Jugendheim nicht zum Behindertenheim, auch wenn dort Minderjährige leben, die behindert oder psychisch krank sind. Als Jugendheim und damit einrichtungsbezogen bleibt es dennoch vom Anwendungsbereich des HeimAufG ausgenommen (7 Ob 1/14v; RIS‑Justiz RS0129458).

II.5.1. Zu prüfen ist daher, ob die Einrichtung als ein Heim zur Pflege und Erziehung Minderjähriger zu beurteilen ist.

Zielgruppe der Einrichtung sind Minderjährige, insbesondere solche mit Behinderungen. Es besteht die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer Tagesbetreuung, des Schulzeitinternats oder der Ganzjahreswohngruppe. Die Minderjährigen besuchen die Schule oder den Kindergarten. Ihre Betreuung obliegt im Gegensatz zu Einrichtungen für Erwachsene ausschließlich Pädagogen, Kindergärtnerinnen und Lehrern. Der Betreuungsschlüssel liegt ganz erheblich über jenem bei Erwachsenen, ist also auf die Bedürfnisse der Minderjährigen abgestellt. Kinder, die in der Einrichtung übernachten und tagsüber betreut werden, sind in einer familienähnlichen Wohnstruktur untergebracht. Die Einrichtung ist daher klar als Jugendheim zu beurteilen. Daran ändert auch nichts der bloß vorübergehende und nicht von vornherein geplante Aufenthalt von (zur Zeit) 11 volljährigen Personen in der Einrichtung. Diese werden nämlich nach den Feststellungen als Minderjährige aufgenommen und werden in der Einrichtung nur deshalb („wie bisher“) weiter betreut, weil für sie trotz Bemühens noch keine geeignete Einrichtung für Erwachsene gefunden werden konnte.

II.5.2. § 2 Abs 2 HeimAufG selbst nimmt Heime und andere Einrichtungen zur Pflege und Erziehung Minderjähriger aus dem Geltungsbereich des Gesetzes ohne jedwede Differenzierung aus. Die Materialien verweisen dazu zwar in einem Klammerausdruck auf die Aufsicht der Jugendwohlfahrtsträger gemäß § 22 JugendwohlfahrtsG 1989 (nunmehr die Kinder‑ und Jugendhilfeträger nach dem B‑KJHG). Aus dem Verweis der Materialien geht aber nicht hervor, dass sich der Klammerausdruck ausschließlich auf derartiger Aufsicht unterliegende Heime bezieht und diese nicht etwa nur beispielhaft anführt. Eine Einschränkung des § 2 Abs 2 HeimAufG auf Heime, die der Kontrolle des Kinder- und Jugendhilfeträgers unterliegen, erfolgte danach nicht.

Eine solche kann auch der Entscheidung 7 Ob 1/14v nicht entnommen werden. Diese bezog sich auf ein Heim, das der Aufsicht des in den Erläuterungen ausdrücklich genannten Kinder‑ und Jugendhilfeträgers unterlag, weshalb sich die Begründung auf den dort zu behandelnden Fall beschränkte. Die vorliegende Frage stellte sich hingegen nicht.

II.5.3. Die Einschränkung nach § 2 Abs 2 HeimAufG entspricht der rechtspolitischen Entscheidung des Gesetzgebers.

II.6. Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass unter die Ausnahmebestimmung des § 2 Abs 2 HeimAufG alle Heime und anderen, Einrichtungen zur Pflege und Erziehung Minderjähriger fallen, und zwar unabhängig davon, wer zur Aufsicht über sie berufen ist.

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