OGH 4Ob225/16s

OGH4Ob225/16s20.12.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Jensik, Dr. Musger, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Rassi als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen 1. J***** S*****, geboren am ***** 1999, 2. A***** S*****, geboren am ***** 2002, in Obsorge bei der Mutter Dr. M***** S*****, vertreten durch Dr. Michael Vallender, Rechtsanwalt in Wien, über die außerordentlichen Revisionsrekurse des Vaters Mag. R***** B*****, vertreten durch Mag. Michaela Krankl, Rechtsanwältin in Wien, und der Mutter, vertreten durch Dr. Michael Vallender, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 28. Juli 2016, GZ 45 R 195/16h, 45 R 196/16f und 45 R 197/16b‑332, mit dem die Beschlüsse des Bezirksgerichts Josefstadt vom 10. Februar 2016, GZ 2 P 134/02d‑317 und 2 P 134/02d‑318 bestätigt und der Beschluss vom 10. Februar 2016, GZ 2 P 134/02d‑319 abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0040OB00225.16S.1220.000

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs des Vaters wird zurückgewiesen.

Dem Revisionsrekurs der Mutter wird Folge gegeben. Der Beschluss des Rekursgerichts wird hinsichtlich der beantragten Elternberatung dahin abgeändert, dass der Beschluss ON 319 des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

 

Begründung:

Die Minderjährigen befinden sind in Obsorge bei der Mutter. Gegenständlich ist der Kontaktrechtsantrag des Vaters bezüglich beider Minderjähriger sowie dessen Antrag, der Mutter Erziehungsberatung bzw den Eltern eine gemeinsame Elternberatung aufzutragen. Der zum Zeitpunkt des erstgerichtlichen Beschlusses bereits 16‑jährige J***** lehnte gegenüber dem Erstgericht, das ihn nach § 108 AußStrG belehrte, jeglichen Kontakt zu seinem Vater strikt ab. Auch die bei der Befragung 13,5‑jährige A***** lehnte einen Kontakt massiv ab. Sie habe ihren Vater schon seit Jahren nicht getroffen und Angst vor ihm. Er antworte auch nie auf E-Mails von ihr und gratuliere nie zum Geburtstag.

Die Vorinstanzen wiesen die Kontaktrechtsanträge ab, das Rekursgericht trug den Eltern in Abänderung des erstinstanzlichen Beschlusses ON 319 hingegen eine gemeinsame Elternberatung auf. Losgelöst von einem konkret anhängigen Kontaktrechtsverfahren solle mit der gemeinsamen Elternberatung einer Verfestigung der kontroversiellen Standpunkte entgegengewirkt werden. Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG nicht zulässig sei.

Der gegen die Entscheidung über die Kontaktrechtsanträge vom Vater erhobene außerordentliche Revisionsrekurs ist unzulässig.

Der mit einer Zulassungsvorstellung verbundene ordentliche Revisionsrekurs der Mutter, der in einen außerordentlichen Revisionsrekurs umzudeuten ist (vgl RIS‑Justiz RS0123405), ist zulässig und berechtigt, weil das Rekursgericht die Bestimmung des § 107 Abs 3 AußStrG verkannt hat. Dem Vater wurde die Beantwortung des Revisionsrekurses der Mutter freigestellt, eine solche wurde nicht erstattet.

Rechtliche Beurteilung

I. Zum Revisionsrekurs des Vaters:

1. Die Vorinstanzen stützten sich bezüglich des beantragten Kontakts zu J***** auf § 108 AußStrG und verwiesen darauf, dass der Minderjährige das 14. Lebensjahr bereits überschritten habe und entsprechend belehrt worden sei. Dem hält das Rechtsmittel entgegen, dass § 108 AußStrG wegen Art 8 EMRK verfassungswidrig sei. Diese Bedenken werden nicht geteilt, weil das Gesetz hier gerade auf die erhöhte selbständige Willensbildung eines mündigen Minderjährigen (Jugendlichen) Rücksicht nimmt. Das korrespondiert mit der erhöhten Handlungsfähigkeit (vgl § 170 Abs 2 ABGB) und der besonderen Verfahrensfähigkeit (§ 104 AußStrG) von Minderjährigen über 14 Jahren. Der Bedachtnahme auf das höhere Urteilsvermögen eines Jugendlichen begegnen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Aus der Sicht von Art 8 EMRK wäre es eher problematisch, einen Jugendlichen zu Kontakten zum nicht obsorgeberechtigten Elternteil zu zwingen.

2. Auch die von den Vorinstanzen zum Kontaktrechtsantrag betreffend A***** vertretene Rechtsansicht begründet keine erhebliche Rechtsfrage.

2.1 Die Entscheidung, ob und inwieweit einem Elternteil ein Kontaktrecht eingeräumt wird, ist eine solche des Einzelfalls, der keine erhebliche Bedeutung im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG zukommt, wenn sie nicht leitende Grundsätze der Rechtsprechung verletzt (RIS‑Justiz RS0097114). Ausschlaggebend ist die Orientierung am Kindeswohl (RIS‑Justiz RS0087024). Im Konfliktfall hat das Interesse eines Elternteils gegenüber dem Wohl des Kindes zurückzutreten (RIS‑Justiz RS0048068 [T3]).

2.2 Die Entscheidungen der Vorinstanzen verletzen keine leitenden Grundsätze der Rechtsprechung. Die Tochter stand nur wenige Monate vor Vollendung des 14. Lebensjahres und wird als sehr reif eingeschätzt. Aufgrund der festgestellten, seit Jahren anhaltenden massiven Ablehnung, die plastisch auch aus dem Bericht des Sachverständigen vom 10. 12. 2012 über einen abgebrochenen Kontaktversuch hervorgeht, bedarf die Abweisung keiner Korrektur durch gegenteilige Sachentscheidung.

3. Die Zurückweisung des Rechtsmittels bedarf keiner näheren Begründung (§ 71 Abs 3 AußStrG).

II. Zum Revisionsrekurs der Mutter:

1. Nach § 107 Abs 3 AußStrG hat das Gericht zur Sicherung des Kindeswohls die erforderlichen Maßnahmen (zB den verpflichtenden Besuch einer Familien-, Eltern- oder Erziehungsberatung) anzuordnen, soweit dadurch nicht Interessen einer Partei, deren Schutz das Verfahren dient, gefährdet oder Belange der übrigen Parteien unzumutbar beeinträchtigt werden.

2. Die Entscheidung, ob und welche Maßnahme zur Sicherung des Kindeswohls erforderlich ist und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht, ist grundsätzlich von den Umständen des Einzelfalls abhängig. Daher kommt ihr im Regelfall keine erhebliche Bedeutung im Sinne des § 62 Abs 1 AußStrG zu, sofern nicht leitende Grundsätze verletzt wurden (RIS‑Justiz RS0130780).

3. Eine solche Fehlbeurteilung zeigt die Mutter in ihrem Rechtsmittel insoweit auf, als sie darauf hinweist, dass das Rekursgericht die gegenständliche Maßnahme außerhalb des Gerichtsverfahrens angeordnet habe, wofür keine Veranlassung bestehe.

3.1 Wenngleich § 107 Abs 3 AußStrG keine Einschränkung dahin enthält, dass die dort vorgesehenen Maßnahmen nur nach einem bestimmten Obsorge‑ oder Kontaktregelungsantrag zulässig sind (Höllwerth in Gitschthaler, KindNamRÄG 2013, 223), ergibt eine systematische Interpretation, dass die Maßnahme im Zusammenhang mit einem Obsorge‑ oder Kontaktrechtsverfahren stehen muss. § 107 Abs 1 AußStrG regelt bestimmte Sondernormen „im Verfahren“ über die Obsorge oder den persönlichen Kontakt. Abs 4 leg cit spricht davon, dass das Gericht mit „dem Verfahren“ innehalten kann. Auch in Abs 3 wird auf die Interessen der Partei Bezug genommen, deren Schutz „das Verfahren“ dient.

3.2 Das korrespondiert auch mit den Gesetzesmaterialien zum KindNamRÄG 2013, in denen etwa vom zu erzielenden Einvernehmen „in Obsorge‑ und Besuchsrechtsverfahren“ die Rede ist (ErläutRV 2004 BlgNR 24. GP  38). Entgegen der Ansicht des Rekursgerichts deckt § 107 Abs 3 AußStrG nicht die Anordnung von Maßnahmen „losgelöst von einem konkret anhängigen Kontaktrechtsverfahren“. Die nach § 107 Abs 3 AußStrG erforderlichen Maßnahmen müssen vielmehr mit einem Verfahren über die Ausübung der Obsorge oder des Kontaktrechts im Zusammenhang stehen. Das Gericht hat die Maßnahmen auf Antrag oder auch amtswegig nach § 107 Abs 3 AußStrG somit entweder im Obsorge‑ oder Kontaktregelungsverfahren (Erkenntnisverfahren) oder im Verlauf der zwangsweisen Durchsetzung bestehender Obsorge- oder Kontaktregelungen (Vollzugsverfahren) anzuordnen (

Beck in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 107 Rz 15). Maßnahmen nach § 107 Abs 3 AußStrG sind als besondere Verfahrensregelungen zur Sicherung des Rechts auf Obsorge oder persönlichen Kontakt anzusehen (RIS‑Justiz RS0130780). Wenn die verfahrensrechtliche Durchsetzung eines Kontaktrechts aber nicht in Betracht kommt, besteht auch keine Grundlage für eine Maßnahme nach § 107 Abs 3 AußStrG.

3.3 Die angeordnete gemeinsame Elternberatung kann im Anlassfall auch nicht auf § 181 ABGB gestützt werden, zumal die Ergebnisse des Verfahrens keinen Anhalt bieten, von einer (für § 181 ABGB erforderlichen) Gefährdung des Kindeswohls auszugehen, sollte die Beratung unterbleiben. Auch das Rekursgericht spricht nur allgemein davon, dass die von ihm angeordnete Maßnahme der Wahrung des Kindeswohls dient.

4. Wegen der zur Gänze abgelehnten Kontaktrechtsanträge fehlt den Sicherungsmaßnahmen des Rekursgerichts eine Rechtsgrundlage. Dem Revisionsrekurs der Mutter war daher Folge zu geben und die Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.

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