OGH 8ObS7/16m

OGH8ObS7/16m16.12.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Spenling als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann‑Prentner und Mag. Korn als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Josef Schleinzer und ADir. Angelika Neuhauser in der Sozialrechtssache der klagenden Partei N*****, vertreten durch Dr. Franz Schruiff, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei IEF-Service GmbH, Linke Wienzeile 246, 1150 Wien, vertreten durch die Finanzprokuratur, Singerstraße 17–19, 1011 Wien, wegen 186 EUR (Insolvenz‑Entgelt), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 26. Jänner 2016, GZ 9 Rs 67/15m‑11, mit dem über Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 20. April 2015, GZ 3 Cgs 38/15x‑7, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:008OBS00007.16M.1216.000

 

Spruch:

 

Der Revision der klagenden Partei wird Folge gegeben. Das Urteil des Berufungsgerichts wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 273,65 EUR (darin enthalten 45,61 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 210,84 EUR (darin enthalten 35,14 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Der Kläger war von 11. 11. 2013 bis 11. 12. 2013 bei der H***** KG (in der Folge: Schuldnerin) beschäftigt, über deren Vermögen am 11. 4. 2014 ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Auf das Dienstverhältnis war der Kollektivvertrag für Arbeiter in Bauindustrie und Baugewerbe (KV) anzuwenden. Der Kläger war von der Schuldnerin als Fassader und nicht als Maurer angestellt worden. Er hat in Ungarn eine Maurerlehre abgeschlossen. Diese deckt die Berufe des Maurers, Fassaders und Fliesenlegers ab. Bereits vor der Beschäftigung bei der Schuldnerin hat der Kläger in Österreich ca neun Jahre als Maurer und Fassader gearbeitet.

Der Kläger begehrt die mit Bescheid der Beklagten abgelehnte Zahlung von Insolvenz‑Entgelt in Höhe von 186 EUR (158 EUR laufendes Entgelt, 24 EUR Weihnachtsremuneration und 4 EUR Zinsen) und bringt vor, ihm stehe nicht nur der Maurerlohn nach dem KV zu, sondern der erhöhte Lohn als Fassader nach dem Zusatzkollektivvertrag für Spezialisten vom 3. 12. 1956 in der aktuellen Fassung (Zusatz‑KV). Ausgehend vom Prinzip des Einstelllohns laut KV komme es nicht auf eine abgeschlossene Lehre als Maurer an, sondern darauf, ob ein Arbeitnehmer als Fassader aufgenommen worden sei. Dies treffe auf den Kläger zu, weshalb er Anspruch auf den Fassaderlohn habe.

Die Beklagte bestreitet und bringt vor, der Zusatz‑KV gelte nur für Maurer, wenn sie länger als die auf einen Tag entfallende regelmäßige Arbeitszeit als Spezialist (hier: Fassader) beschäftigt seien. Zusätzlich bedürfe es der Einstellung als Maurer und eines Lehrabschlusses als Maurer.

Das Erstgericht gab der Klage statt. Wer Maurer sei, definiere der KV nach dem Prinzip des Einstelllohns. Der Kläger habe Anspruch auf den höheren Fassaderlohn nach dem Zusatz‑KV, der nicht zwischen gelernten und ungelernten Maurern unterscheide.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies das Klagebegehren ab. Nach dem KV sei nicht der Lehrabschluss für die Lohnhöhe als Facharbeiter entscheidend, sondern die Aufnahme bzw die Verwendung als solcher. Dabei werde nicht zwischen verschiedenen Facharbeitertätigkeiten unterschieden. Allerdings verwende der KV in den ergänzenden Bestimmungen zur Lohntafel (Anhang II) im Zusammenhang mit Zulagen für Fassadenarbeiten explizit den Begriff des Maurers. Maurer erhielten, solange sie an Fassaden beschäftigt seien, je nach Bundesland eine Zulage von 7–13 Prozent des Facharbeiterlohns. Für Wien verweise der Anhang II auf die Bestimmungen des mit der Landesinnung Wien der Baugewerbe abgeschlossenen Sondervertrags. Die wörtliche Interpretation dieses Zusatz‑KV lege nahe, dass der höhere Stundenlohn bei Arbeiten an Fassaden nur für Maurer gelten solle. Dies stehe nicht in Widerspruch zum Prinzip des Einstelllohns. Während es für den Anspruch auf den Facharbeiterlohn bloß darauf ankomme, für welche Arbeitsstelle der Arbeitnehmer aufgenommen worden sei, definiere der KV und der Zusatz‑KV den Kreis der Anspruchsberechtigten auf den höheren „Fassaderlohn“ mit dem Beruf des Maurers. Der Kläger sei nur als Fassader aufgenommen worden. Dabei handle es sich nicht um einen Lehrberuf, sondern nur eine Teiltätigkeit des Lehrberufs Maurer. Demzufolge habe er keinen Anspruch auf Entlohnung nach dem Zusatz‑KV.

Die ordentliche Revision wurde vom Berufungsgericht zugelassen, weil Rechtsprechung zur Anwendung des Zusatz‑KV auf Arbeitnehmer, die weder über eine Berufausbildung als Maurer verfügten noch als Maurer aufgenommen worden seien, fehle.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers, mit dem Antrag das Berufungsurteil dahingehend abzuändern, dass der Klage stattgegeben wird.

Die Beklagte beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und berechtigt.

Zur besseren Verständlichkeit sind die relevanten Bestimmungen des KV und des Zusatz‑KV voranzustellen:

„Kollektivvertrag für Bauindustrie und Baugewerbe

§ 5 Arbeitslöhne

I. Allgemeine Bestimmungen

1. Für die Entlohnung ist der Lohn der Arbeitsstelle, für welche der Arbeitnehmer aufgenommen wurde, maßgebend (Einstelllohn).

(…)

14. wer als Facharbeiter aufgenommen (bzw vermittelt) wurde, behält für die Dauer dieses Dienstverhältnisses den Anspruch auf den Facharbeiterlohn.

15. Arbeitnehmer, die zu Arbeiten herangezogen werden, welche einem erlernten Beruf entsprechen, haben für die Dauer dieser Beschäftigung, wenn ihre Arbeit der eines Facharbeiters gleichkommt, Anspruch auf den Lohn des Facharbeiters.“

Unter Facharbeitern versteht der KV Arbeitnehmer, die in ihrem erlernten Beruf beschäftigt werden bzw für die Beschäftigung in diesem Beruf als Facharbeiter vermittelt oder aufgenommen wurden.

Unter „Zulagen“ verweist der Anhang II des KV auf die Bestimmungen des mit der Landesinnung Wien der Baugewerbe abgeschlossenen Sondervertrags für Wien. Dieser lautet auszugsweise:

„Zusatzkollektivvertrag (Spezialisten)

I. Maurer, wenn sie länger als die auf einen Arbeitstag entfallende regelmäßige Arbeitszeit mit einer der nachfolgenden Arbeiten beschäftigt sind, erhalten pro Stunde Euro

1. für Arbeiten an Fassaden

(alte und neue Schauflächen). (…) 11,17

(…)

Hilfsarbeiter, die als Helfer für die in diesem Punkt genannten Maurer herangezogen werden, erhalten den Helferlohn, wenn sie gleichfalls länger als die auf einen Arbeitstag entfallende regelmäßige Arbeitszeit beschäftigt sind.“

1. Nach ständiger Rechtsprechung hat die Auslegung normativer Bestimmungen eines Kollektivvertrags objektiv nach den Regeln der §§ 6 und 7 ABGB zu erfolgen (RIS‑Justiz RS0010088). Dabei ist in erster Linie der Wortsinn – auch im Zusammenhang mit den übrigen Regelungen – zu erforschen und die sich aus dem Text des Kollektivvertrags ergebende Absicht der Kollektivvertragsparteien zu berücksichtigen (RIS‑Justiz RS0010089). Im Zweifel ist zu unterstellen, dass die Kollektivvertragsparteien eine vernünftige, zweck-entsprechende und praktisch durchführbare Regelung treffen sowie einen gerechten Ausgleich der sozialen und wirtschaftlichen Interessen herbeiführen und eine Ungleichbehandlung der Normadressaten vermeiden wollten (RIS‑Justiz RS0008828; RS0008897).

2. Grundsätzlich sind die Parteien des Kollektivvertrags frei, über die Voraussetzungen der Einstufung zu entscheiden. Sie müssen dabei die allgemeinen gesetzlichen Schranken, den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz und den ihnen zur Verfügung stehenden Gestaltungsspielraum beachten (8 ObA 6/13k; vgl auch 9 ObA 9/13h).

Im Allgemeinen ist für die Einstufungsmodelle der Kollektivverträge die Tätigkeit des Arbeitnehmers zentral, weil aus ihr die Wertschöpfung für den Arbeitgeber folgt und darin seine eigentliche Motivation für den Beginn des Arbeitsverhältnisses gelegen ist. Für die Einstufung kommt es daher in der Regel auf die Tätigkeitsmerkmale, auf den Inhalt der Arbeit und auf die tatsächlich vorwiegend ausgeübte Tätigkeit an (9 ObA 63/14a; 8 ObA 79/15y ua; Resch , Die Einstufung im Kollektivvertrag, wbl 1999, 238). Außer auf die tatsächlich vorwiegend ausgeübte Tätigkeit des Arbeitnehmers können die Kollektivverträge aber auch auf die facheinschlägige Ausbildung, die Art der ausgeübten Funktion oder die Innehabung einer bestimmten Position im Unternehmen abstellen (8 ObA 72/12i; 8 ObA 6/13k ua).

Auch der im vorliegenden Fall zu beurteilende KV sieht als Grundregel (§ 5.1.) vor, dass sich die Entlohnung nach der Tätigkeit richtet, für die der Arbeitnehmer aufgenommen wurde, unabhängig von seiner Qualifikation. Auch der Facharbeiter wird über die vermittelte oder aufgenommene Tätigkeit definiert, nicht über die Qualifikation. Bei Heranziehung eines nicht als Facharbeiter eingestellten Arbeitnehmers zu einer Facharbeitertätigkeit richtet sich die Entlohnung ebenfalls nach der tatsächlich ausgeübten Tätigkeit.

Zu prüfen ist daher, ob, wie die Beklagte meint, aus der Verwendung des Begriffs „Maurer“ im Zusatz‑KV als zusätzliches Kriterium für die erhöhte Entlohnung bei Verrichtung der dort genannten Arbeiten eine facheinschlägige Ausbildung, nämlich eine abgeschlossene Maurerlehre vorausgesetzt ist.

Geht man vom Wortlaut der Regelung aus, sieht sie den höheren Lohn nur für „Maurer“ vor. Auch wenn der Zusatz‑KV nicht auf einen Lehrabschluss abstellt, ist es richtig, dass „Maurer“ ein Lehrberuf ist und daher allein die Verwendung des Begriffs als Hinweis darauf gesehen werden könnte, dass die erhöhten Stundensätze nur Personen mit Lehrabschluss zu bezahlen sind.

Betrachtet man die Regelung jedoch im systematischen Gesamtzusammenhang mit dem Rahmenkollektivvertrag, lässt sich kein nachvollziehbarer Grund erkennen, warum gerade für die im Zusatz‑KV genannten Arbeiten von der Grundregel abgewichen werden sollte, dass, wer als Facharbeiter aufgenommen wurde oder wer die entsprechende Facharbeitertätigkeit verrichtet, auch die entsprechende Entlohnung erhalten soll. Auch wenn es sich bei den aufgelisteten Tätigkeiten um qualifizierte Teiltätigkeiten eines bestimmten Lehrberufs handelt, trifft dies genauso auf andere Facharbeitertätigkeiten zu.

Würde man der von der Beklagten vertretenen Ansicht folgen, hätte dies zur Konsequenz, dass der Kläger ohne einen Lehrabschluss als Maurer zu haben, zwar den Facharbeiterlohn als Maurer erhält, weil er als Fassader Maurerarbeiten verrichtet, aber nicht den Lohn als Fassader, weil er nicht Maurer ist. Oder mit anderen Worten, ohne die Qualifikation für die von ihm verrichtete Facharbeitertätigkeit zu haben, bestünde aufgrund der faktischen Verrichtung dieser Tätigkeit Anspruch auf den Facharbeiterlohn, aber nicht auf den im Zusatz‑KV ausdrücklich für diese konkrete Tätigkeit vorgesehen Facharbeiterlohn.

Dagegen erscheint es überzeugender, dass die Kollektivvertragsparteien durch die erhöhten Stundensätze die Erschwernisse, die mit bestimmten Arbeiten etwa im Hinblick auf Konzentration und Ausführungsgenauigkeit verbunden sind, honorieren wollten, nicht eine bestimmte Qualifikation.

Der Begriff Maurer verdeutlicht in diesem Kontext nur, dass Personen, die als Maurer eingestellt wurden und zu den im Zusatz‑KV genannten Arbeiten herangezogen werden, Anspruch auf eine Entlohnung nach dem Zusatz‑KV haben.

Da der Kläger als „Fassader“ und damit grundsätzlich für die Facharbeitertätigkeit eines Maurers eingestellt wurde und solche Arbeiten auch verrichtete, hat er Anspruch auf eine Entlohnung nach dem Zusatz‑KV.

Der Revision war daher Folge zu geben und die erstinanzliche Entscheidung wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung gründet auf §§ 41, 50 ZPO.

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