OGH 10ObS45/16i

OGH10ObS45/16i10.5.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, den Hofrat Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johanna Biereder (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Harald Kohlruss (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei L*****, vertreten durch Dr. Edmund Pointinger, Rechtsanwalt in Bad Hall, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 1. März 2016, GZ 11 Rs 21/16m‑22, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:010OBS00045.16I.0510.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung

Die 1981 geborene Klägerin leidet an systemischer juveniler chronischer Polyarthritis.

Mit Bescheid der beklagten Partei vom 12. 12. 2014 wurde ihr das zuletzt in Höhe der Stufe 4 gewährte Pflegegeld mit Ablauf des Monats Jänner 2015 unter Hinweis darauf entzogen, dass die Voraussetzungen für den Pflegegeldanspruch nicht mehr vorlägen.

Das Erstgericht gab der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage teilweise Folge und gewährte der Klägerin ab 1. 2. 2015 das Pflegegeld der Stufe 2. Das auf Zuspruch einer höheren Pflegegeldstufe (als der Stufe 2) gerichtete Mehrbegehren wurde abgewiesen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

In ihrer außerordentlichen Revision zeigt die Klägerin keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO auf:

1.1 Ob ein rechtskräftig zuerkanntes Pflegegeld zu entziehen oder neu zu bemessen ist, richtet sich ausschließlich nach § 9 Abs 4 BPGG (RIS‑Justiz RS0061709). Nach § 9 Abs 4 BPGG ist das Pflegegeld zu entziehen, wenn eine Voraussetzung für die Gewährung von Pflegegeld wegfällt und das Pflegegeld neu zu bemessen, wenn eine für die Höhe des Pflegegeldes wesentliche Veränderung eintritt. Demnach setzt ein Leistungsentzug eine wesentliche Veränderung des Zustandsbilds des Pflegebedürftigen und in dessen Folge eine Änderung im Umfang des Pflegebedarfs voraus, die die Gewährung einer anderen Pflegegeldstufe erforderlich macht (Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld3 Rz 278). Ausgehend von den Tatsachengrundlagen ist demnach zu beurteilen, ob sich die objektiven Grundlagen für die seinerzeitige Leistungszuerkennung so wesentlich geändert haben, dass sich eine Veränderung mit Anspruch auf eine andere Pflegegeldstufe ergeben hat.

1.2 Entgegen der Ansicht der Revisionswerberin hat das Berufungsgericht nachvollziehbar begründet, warum von einer wesentlichen Änderung im Ausmaß des Pflegebedarfs gegenüber dem Gewährungszeitpunkt auszugehen ist. Die Ausführungen in der Revision der Klägerin vermögen in diesem Zusammenhang jedenfalls keine vom Obersten Gerichtshof im Einzelfall aufzugreifende Fehlbeurteilung aufzuzeigen.

2. Eine diagnosebezogene Einstufung nach § 4a Abs 1 und 2 BPGG kommt nur bei solchen Personen in Betracht, die zur eigenständigen Lebensführung „überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen sind“. Dieses Tatbestandsmerkmal ist nicht erfüllt, wenn sich ein Betroffener innerhalb der Wohnung mit Armstützkrücken und orthopädischen Schuhen fortbewegen kann und lediglich für die Fortbewegung außerhalb der Wohnung auf den Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen ist (10 ObS 184/99b; siehe auch 10 ObS 410/98m, SSV‑NF 13/17; 10 ObS 181/01t, SSV‑NF 15/88). Von dieser Rechtsprechung weicht die Ansicht der Vorinstanzen nicht ab, eine diagnosebezogene Einstufung nach § 4a Abs 1 und 2 BPGG sei im vorliegenden Fall schon deshalb nicht vorzunehmen, weil nach den maßgeblichen Festellungen die Klägerin in der Lage ist, die Wege im Wohnbereich unter Benutzung von Stützkrücken eigenständig zurückzulegen.

3.1 Nach § 4 Abs 7 Z 2 BPGG können durch Verordnung Richtwerte oder Mindestwerte für den zeitlichen Betreuungsaufwand festgelegt werden, wobei verbindliche Mindestwerte zumindest für die tägliche Körperpflege, die Zubereitung und das Einnehmen von Mahlzeiten sowie für die Verrichtung der Notdurft festzulegen sind. Dementsprechend werden in § 1 Abs 3 EinstV Richtwerte und in § 1 Abs 4 EinstV Mindestwerte für die einzelnen Betreuungsverrichtungen festgelegt.

3.2 Bei den „verbindlichen Mindestwerten“ iSd § 4 Abs 7 Z 2 BPGG ist eine Unterschreitung ausgeschlossen. Der jeweilige Mindestwert wird freilich nur dann zu berücksichtigen sein, wenn sich der tatsächliche Bedarf nicht bloß auf einen kleinen Teil der dort angeführten Betreuungsmaßnahmen bezieht. Bei erheblicher Unterschreitung des betreffenden Mindestwerts nach § 1 Abs 4 EinstV kann die Anerkennung eines „pauschalierten“ Mindestbedarfs insbesondere dann nicht mehr in Betracht kommen, wenn nur ein im Verhältnis zum vorgesehenen Mindestwert geringfügiger (deutlich unter der Hälfte des Mindestwerts liegender) Zeitaufwand erforderlich ist (RIS‑Justiz RS0109875). In diesen Fällen ist nicht der Mindestwert, sondern der tatsächliche Zeitaufwand für die erforderlichen Betreuungsleistungen in Anschlag zu bringen.

3.3 Auch die Ansicht der Vorinstanzen, infolge erheblicher Unterschreitung der betreffenden Mindestwerte sei nur das monatlich tatsächlich notwendige Ausmaß für die Betreuung bei der gründlichen Körperpflege von vier Stunden und für die Betreuung bei der Verrichtung der Notdurft von zweieinhalb Stunden in Anschlag zu bringen, ist somit nicht zu beanstanden (10 ObS 190/03v, SSV‑NF 17/92).

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