OGH 10ObS125/15b

OGH10ObS125/15b15.3.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter ADir. Brigitte Augustin (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Johann Schneller (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*****, vertreten durch Dr. Gernot Gasser und Dr. Sonja Schneeberger, Rechtsanwälte in Lienz, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert‑Stifter-Straße 65, 1200 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Feststellung einer Berufskrankheit und Leistung, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 26. August 2015, GZ 25 Rs 61/15d‑11, mit dem infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 19. Juni 2015, GZ 76 Cgs 19/15h‑6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:010OBS00125.15B.0315.000

 

Spruch:

Der Revision der klagenden Partei wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

Der 1977 geborene Kläger, ein gelernter Koch, leidet an einer Fructose-, Lactose- und Histaminintoleranz. Am 1. September 2014 langte bei der beklagten Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt die ärztliche Meldung einer Berufskrankheit des Klägers ein.

Mit Bescheid vom 20. Jänner 2015 lehnte es die beklagte Partei ab, die Erkrankung des Klägers als Berufskrankheit anzuerkennen, weil eine Fructose-, Lactose- und Histaminintoleranz nicht in der Liste der Berufskrankheiten in der Anlage 1 zum ASVG angeführt sei.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage ab. Die beim Kläger vorliegende Fructose-, Lactose- und Histaminintoleranz scheine nicht als anerkannte Berufskrankheit in der Anlage 1 zum ASVG auf. Eine Anerkennung von nicht in der Anlage 1 zum ASVG enthaltenen Krankheiten als Berufskrankheit gemäß § 177 Abs 2 ASVG komme nur für Schwerversehrte (§ 205 Abs 4 ASVG) in Frage, weil nur diese einen Rentenanspruch hätten (§ 203 Abs 2 ASVG). Für die Entscheidung, ob eine nicht in der Anlage 1 zum ASVG enthaltene Krankheit im Einzelfall als Berufskrankheit gemäß § 177 Abs 2 ASVG anerkannt werde, sei ausschließlich der Unfallversicherungsträger zuständig. Diese Frage könne daher auch nicht als Vorfrage in einem gerichtlichen Leistungsstreitverfahren geprüft werden.

Trotz der Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs, wonach die ordentlichen Gerichte bei der Entscheidung über die Feststellung einer Krankheit als Berufskrankheit gemäß § 177 Abs 2 ASVG nicht an die Zustimmung des Bundesministers für Arbeit, Gesundheit und Soziales gebunden seien und keine Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit einer sukzessiven Gerichtszuständigkeit in diesen Angelegenheiten mit Art 94 B-VG bestünden, sehe sich das Erstgericht nicht veranlasst, von der gefestigten höchstgerichtlichen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshof abzugehen. Ein (negativer) Kompetenzkonflikt zwischen dem Obersten Gerichtshofs und dem Verwaltungsgerichtshof, den der Verfassungsgerichtshof zu entscheiden habe, liege nicht vor. Im Fall eines negativen Kompetenzkonflikts könnte ein Antrag an den Verfassungsgerichtshof gemäß § 46 Abs 1 Z 2 VfGG zudem nur von einer beteiligten Partei gestellt werden.

Das Berufungsgericht wies den Antrag des Klägers, das Berufungsgericht wolle an den Verfassungsgerichtshof einen Antrag auf Entscheidung eines Kompetenzkonflikts stellen, zurück und gab der Berufung des Klägers nicht Folge.

Der Oberste Gerichtshof sei der Ansicht, die Gerichte seien berechtigt, selbständig eine konkrete Berufskrankheit gemäß § 177 Abs 2 ASVG anzuerkennen und seien dabei auch nicht an eine Zustimmung des Bundesministers für soziale Verwaltung gebunden, wiederholt mit dem Hinweis auf den eindeutigen Gesetzeswortlaut und den Grundsatz der Trennung von Justiz und Verwaltung entgegengetreten.

Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs stütze sich auf den Wortlaut der gesetzlichen Regelung in § 177 Abs 2 ASVG, wonach eine Krankheit, die nicht in der Anlage 1 zum ASVG enthalten sei, nur dann im Einzelfall als Berufskrankheit gelte, wenn der Träger der Unfallversicherung aufgrund gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse feststelle, dass diese Krankheit ausschließlich oder überwiegend durch die Verwendung schädigender Stoffe oder Strahlen bei einer vom Versicherten ausgeübten Beschäftigung entstanden sei und dass diese Feststellung zu ihrer Wirksamkeit der Zustimmung des Bundesministers für Soziale Verwaltung bzw für Arbeit, Gesundheit und Soziales bedürfe. Diese Bestimmung sehe also ausschließlich eine Feststellung durch den Unfallversicherungsträger vor und normiere nach den Gesetzesmaterialien (ErläutRV 181 BlgNR 14. GP  72) das Erfordernis einer Zustimmung des Bundesministers aus der Erwägung, eine einheitliche Anwendungspraxis dieser Bestimmung zu sichern. Der Bundesminister habe sich dabei der Teilnahme der nach dem Einzelfall in Betracht kommenden Behörden, die Belange des Arbeitnehmerschutzes wahrzunehmen hätten, zu versichern. Die Sicherung einer einheitlichen Anwendungspraxis habe der Gesetzgeber als erforderlich erachtet, weil die Anerkennung einer in der Anlage 1 nicht enthaltenen Krankheit als Berufskrankheit im Einzelfall im Allgemeinen eine Vorstufe zur Erweiterung der Anlage 1 des ASVG darstellen werde. Diese Intention habe den Gesetzgeber veranlasst, selbst dem Bundesminister eine angedachte Verordnungsermächtigung zu verwehren.

Dem Gesetzgeber könne daher nach den Gesetzesmaterialien nicht unterstellt werden, dass § 177 Abs 2 ASVG den Arbeits‑ und Sozialgerichten die Möglichkeit einräume, ohne zentrale, eine einheitliche Anwendungspraxis sichernde Ordnung Krankheiten im Einzelfall gemäß § 177 Abs 2 ASVG als Berufskrankheiten festzustellen.

Somit spreche nicht nur der klare Gesetzeswortlaut für die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, sondern auch die eindeutige Intention des Gesetzgebers der 32. ASVG-Novelle (BGBl 1976/704).

Anzumerken bleibe, dass der Gesetzgeber in den nachfolgenden Novellen zum ASVG trotz der an der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs geübten Kritik keinen Anlass gefunde habe, die Textierung des § 177 Abs 2 ASVG zu ändern. Vielmehr sei der Text des § 177 Abs 2 ASVG ‑ abgesehen von Anpassungen an das Bundesministeriengesetz 1986 ‑ unverändert geblieben.

Das Berufungsgericht sehe sich daher auch durch den Beschluss des VwGH vom 4. September 2013, GZ 2012/08/0062, nicht veranlasst, von der mit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs 10 ObS 80/87 begründeten Rechtsprechungslinie abzuweichen, weshalb die Entscheidung des Erstgerichts zu bestätigen sei.

Ein vom Kläger behaupteter negativer Kompetenzkonflikt, über den der Verfassungsgerichtshof gemäß Art 138 Abs 1 B‑VG zu entscheiden hätte, bestehe nicht.

Da die letzte Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu den hier einschlägigen Rechtsfragen mehr als dreizehn Jahre zurückliege und der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 10 ObS 105/04w auf die an seiner Rechtsprechung geübte Kritik nicht eingegangen sei, sei die Revision gemäß § 502 Abs 1 ZPO zulässig.

Rechtliche Beurteilung

Die von der beklagten Partei beantwortete Revision des Klägers ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist auch im Sinne einer Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen berechtigt.

In seiner Revision stellt der Kläger in den Vordergrund, dass der Verwaltungsgerichtshof jüngst im Erkenntnis vom 4. September 2013, AZ 2012/08/0062, der langjährigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs entgegengetreten sei, weshalb der Kläger einem Rechtsschutzgewährungsdefizit ausgesetzt sei, bliebe der Oberste Gerichtshof bei seiner bisherigen Rechtsprechung.

Dazu wurde erwogen:

1. § 177 Abs 1 Satz 1 ASVG stellt die grundsätzliche Regel auf, dass als Berufskrankheiten (nur) die in der Anlage 1 zum ASVG bezeichneten Krankheiten unter den dort angeführten Voraussetzungen gelten („abstrakte Berufskrankheiten“). Im Einzelfall gilt eine Krankheit, die ihrer Art nach nicht in der Anlage 1 zum ASVG enthalten ist, als „konkrete Berufskrankheit“, wenn der Träger der Unfallversicherung aufgrund gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse feststellt, dass diese Krankheit ausschließlich oder überwiegend durch die Verwendung schädigender Stoffe oder Strahlen bei einer vom Versicherten ausgeübten Beschäftigung entstanden ist; diese Feststellung bedarf zu ihrer Wirksamkeit überdies der Zustimmung des (nunmehr) Bundesministers für Gesundheit (Anlage 2 zu § 2 BMG, Teil 2 G. 6.; zur Einzigartigkeit dieses Zustimmungserfordernisses aus internationaler Sicht Kranig , Reform des deutschen Berufskrankheitsrechts ‑ von Europa lernen? in FS Eichenhofer [2015] 359 [381]).

2. § 177 Abs 2 ASVG wurde mit der 32. ASVG‑Novelle, BGBl 1976/704, eingeführt. In den Gesetzesmaterialien (ErläutRV 181 BlgNR 14. GP 71 f) wird die Novelle folgendermaßen begründet:

„Die rasche Entwicklung auf technischem Gebiet, insbesondere in der Schaffung und Entstehung neuer chemischer Stoffe, bringt in der letzten Zeit wiederholt Schädigungen bei Versicherten hervor, die einwandfrei durch Stoffe oder Strahlen entstanden sind, denen sie bei ihrer versicherungsbegründenden Beschäftigung ausgesetzt waren, ohne daß diese Schädigung innerhalb einer Arbeitsschicht eingetreten ist oder die Erkrankung im Sinne der derzeitigen Gesetzesbestimmung als Berufskrankheit angesehen werden kann. Diese Tatsache bringt für die Versicherten oder deren Hinterbliebene wirtschaftliche Nachteile, die ihre soziale Sicherheit auf das Schwerste gefährden.

Die ausschließliche Feststellung der als Berufskrankheiten zu entschädigenden Krankheiten durch die Berufskrankheitenliste erweist sich in diesem Zusammenhang als ein zu grobes Instrument, mit dem solche besonders gelagerte Einzelfälle nicht hinreichend berücksichtigt werden können. Bereits in der Vergangenheit stand daher die eine oder andere Form einer Generalklausel zur Erörterung, doch konnte man sich bisher nicht zur Einführung einer solchen Regelung entschließen. In der letzten Zeit wurde der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt wieder eine Reihe von einschlägigen Erkrankungsfällen gemeldet, bei denen im Zuge des Feststellungsverfahrens ein Zusammenhang mit der beruflichen Beschäftigung nachgewiesen werden konnte. Es handelte sich zum Beispiel um eine Erkrankung an Hautkrebs, die bei einem Arbeiter durch die Einwirkung von Teerdämpfen aufgetreten war, wobei ein ebenfalls durch die Einwirkung von Teerdämpfen aufgetretener Schleimhautkrebs zum Tode führte. Die Folgen des Schleimhautkrebses konnten nicht als Berufskrankheit im Sinne des Gesetzes anerkannt werden. Bei einem in der Chemieindustrie beschäftigten Arbeiter trat ein allergisches Asthma bronchiale auf, das durch eine eitrige Bronchitis kompliziert war. Ursache dieser Erkrankung war die Einwirkung von Aromastoffen am Arbeitsplatz. Die Asthmaerkrankung führte zum Tod des Versicherten. Schließlich wurde bei einem Arbeitnehmer eine Erkrankung der Atemwege durch Einwirkung von Phthalsäureanhydrid festgestellt. Die von der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt mit der Beurteilung des Falles beauftragten Gutachter kamen zur Ansicht, daß der nach längerer Krankheitsdauer eingetretene Tod Folge dieser am Arbeitsplatz aquirierten Krankheit war.

Auf Vorschlag der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt und im Zusammenwirken mit dem Zentralarbeitsinspektorat beim Bundesministerium für soziale Verwaltung wird nunmehr eine solche Generalklausel in den Entwurf aufgenommen. Die Formulierung wurde auf Grund der bereits mehrjährigen Beschäftigung mit diesem Problem und unter Berücksichtigung der in der Bundesrepublik Deutschland mit § 551 der Reichsversicherungsordnung gemachten Erfahrungen gewählt. Leitlinie für diese Generalklausel war, daß sie nur für solche Erkrankungen herangezogen werden soll, bei denen die berufliche Verursachung sichergestellt ist, nicht jedoch für die Verschlimmerung anlagebedingter Leiden durch unspezifische berufliche Einflüsse.

Das Vorliegen der erforderlichen Kausalität soll nach der vorgeschlagenen Fassung 'auf Grund gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse' festgestellt werden. Es ist hervorzuheben, daß unter diesem Ausdruck nicht eine vereinzelte Lehrmeinung oder etwa die Auffassung eines Praktikers zu verstehen ist; vielmehr muß die Kausalität einwandfrei und übereinstimmend durch Lehre, Literatur und medizinische Praxis gestützt sein.

Als Sicherung für eine einheitliche Anwendungspraxis dieser Bestimmung wurde die Mitwirkung des Bundesministeriums für soziale Verwaltung vorgesehen. Das Bundesministerium für soziale Verwaltung wird sich dabei der Teilnahme der nach dem Einzelfall in Betracht kommenden Behörden, die Belange des Arbeitnehmerschutzes wahrzunehmen haben (Zentralarbeitsinspektorat, Land- und Forstwirtschaftsinspektionen, Verkehrs‑Arbeitsinspektorat, bei der bergbehördlichen Aufsicht unterstehenden Betrieben des Bundesministeriums für Handel, Gewerbe und Industrie als Oberste Bergbehörde), versichern.

Die Anerkennung einer in der Anlage 1 nicht enthaltenen Krankheit als Berufskrankheit im Einzelfall wird im allgemeinen eine Vorstufe zur Erweiterung der Anlage 1 des ASVG darstellen. Aus diesem Grund wurde auch einer im Begutachtungsverfahren geäußerten Anregung, anstelle der im § 177 Abs. 2 vorgeschlagenen Regelung eine Verordnungskompetenz des Bundesministers für soziale Verwaltung zu schaffen, nicht Rechnung getragen; überdies würde eine solche Verordnungsermächtigung auch zu einer unerwünschten Zersplitterung der Rechtsordnung führen.“

3. Der Oberste Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung die Ansicht vertreten, dass die Anerkennung auch anderer Krankheiten als der in der Anlage 1 zum ASVG genannten nur durch den Träger der Unfallversicherung möglich ist (RIS‑Justiz RS0084390). Die vom Träger der Unfallversicherung negativ beantwortete Frage, ob eine Krankheit als „konkrete“ Berufskrankheit gemäß § 177 Abs 2 ASVG gilt, kann in der Folge nicht als Vorfrage im sozialgerichtlichen Verfahren geprüft werden (RIS‑Justiz RS0084386; Resch , Sozialrecht 6 [2014] 92; Tarmann‑Prentner in Sonntag , ASVG 6 [2015] § 177 Rz 5).

3.1. Begründet wurde diese Rechtsprechung damit, dass die Feststellungsbefugnis des Trägers der Unfallversicherung schon deshalb nicht sukzessiv in die Kompetenz der Sozialgerichte überzugehen vermöge, weil zufolge des in Art 94 B‑VG verankerten Grundsatzes der Trennung der Justiz von der Verwaltung die Wirksamkeit einer gerichtlichen Entscheidung nicht davon abhängen kann, dass sie der (im gegebenen Zusammenhang zwingend erforderlichen) Zustimmung durch die Verwaltungsbehörde bedürfte (10 ObS 80/87, SSV‑NF 1/30; 10 ObS 43/88, SSV‑NF 2/36).

3.2. Diese Rechtsansicht war bereits vom Oberlandesgericht Wien als seinerzeitigem Höchstgericht in Sozialversicherungssachen vertreten worden (35 R 27/79, SSV 19/18; 31 R 244/80, ZAS 1982/15, 103 [ Oberndorfer/Dearing ]).

4. In der Literatur sind bedeutende Stimmen der Ansicht des Obersten Gerichtshofs entgegengetreten.

4.1.  Tomandl sah den Umstand, dass die Wirksamkeit der Tatsachenfeststellung, dass die Krankheit ausschließlich oder überwiegend durch die Verwendung schädigender Stoffe oder Strahlen bei einer vom Versicherten ausgeübten Beschäftigung entstanden ist, von der Zustimmung des Sozialministeriums abhängig gemacht wurde, als befremdlich an ( Tomandl , Das Leistungsrecht der österreichischen Unfallversicherung [1977] 15) und verweist auf folgende Rechtsschutzprobleme ( Tomandl , Leistungsrecht 16 FN 25):

„Die Anerkennung einer Krankheit als konkrete Berufskrankheit wird erst aufgrund eines Leistungsantrages oder bei der amtswegigen Prüfung, ob Leistungsansprüche zustehen, erfolgen können. Weist der Versicherungsträger einen Antrag ab, weil seiner Ansicht nach die Voraussetzungen nicht vorliegen oder weil der Sozialminister die Zustimmung zu seiner Feststellung verweigert hat, wird ‑ soweit es sich um Pflichtleistungen handelt ‑ das Schiedsgericht mit Klage angerufen werden können. Dieses ist an die Zustimmung des Sozialministers nicht gebunden, sondern hat die erforderlichen Feststellungen selbst zu treffen, da es keine das Verfahren vor dem Sozialversicherungsträger kontrollierende Funktion besitzt, sondern das Vorliegen aller Leistungsvoraussetzungen selbst zu überprüfen hat.“

Die Rechtsprechung, wonach eine Ablehnung der Anerkennung einer konkreten Berufskrankheit nicht vor Gericht bekämpfbar sei, weil die Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Soziales unverzichtbar sei, verstoße gegen rechtsstaatliche Grundsätze. Eine verfassungskonforme Lösung lasse sich nur durch eine teleologische Reduktion des Gesetzeswortlautes gewinnen, die das Zustimmungserfordernis auf die Entscheidung des Versicherungsträgers beschränke ( Tomandl in Tomandl , SV‑System [13. ErgLfg] 273 FN 25 [2.3.2.2.B.]; ebenso Tomandl , Sozialrecht 6 [2009] Rz 216).

4.2.  Oberndorfer/Dearing (Anmerkung zu OLG Wien 31 R 244/80, ZAS 1982, 104) kritisieren, dass zwar formell ein Rechtsweg eingeräumt, aber eine materiell‑rechtliche Überprüfung der Entscheidung (im Sinne der Möglichkeit einer Abänderung) ausgeschlossen werde; sie sprechen sich für eine Überprüfung im Verwaltungsweg aus.

4.3.  Holzer (Die Rechtsprechung des OGH zum Versicherungsfall der Berufskrankheit. Eine kritische Würdigung, in Tomandl , Der OGH als Sozialversicherungshöchstgericht [1994] 71 [78]) weist darauf hin, dass ein abschlägiger Bescheid des Sozialversicherungsträgers eindeutig in einer Leistungssache ergehe, die als Sozialrechtssache gemäß § 65 ASGG in die sukzessive Kompetenz der Arbeits‑ und Sozialgerichte falle, weshalb eine Bekämpfung im Verwaltungsverfahren ausgeschlossen sei; ebenso stehe gegen die Ablehnung durch den Bundesminister für Arbeit und Soziales kein Rechtszug an die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts offen. Die Auffassung des Obersten Gerichtshofs stelle daher den Antragsteller außerhalb jedes Rechtsschutzes, obwohl es sich bei Sozialversicherungsansprüchen um „civil rights“ im Sinne des Art 6 EMRK handle, die zwingend Gerichten zur Entscheidung zuzuweisen seien (ebenso Holzer , Neues aus dem Recht der Berufskrankheiten, in Karl , Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2007 [2007] 123 [128]). Beim Modell der sukzessiven Kompetenz könne das Zustimmungserfordernis des Bundesministers für Arbeit und Soziales nur für die Entscheidung der Verwaltungsbehörde gelten.

4.4.  Fink (Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen [1995] 204 ff) sieht eine (interne) „Mitkompetenz“ des Unfallversicherungsträgers und des Bundesministers für Arbeit und Soziales als „verbundene Behörde“ (213); die Willensbildung des Bundesministers für Arbeit und Soziales fließe in den Bescheid des Unfallversicherungsträgers ein (214). Dieser Bescheid sei ein solcher in Leistungssachen und beim Arbeits- und Sozialgericht im Rahmen der sukzessiven Kompetenz anfechtbar (215), das völlig eigenständig über das Vorliegen der Berufskrankheit zu entscheiden habe (216). Das Zustimmungserfordernis beziehe sich nur auf den Unfallversicherungsträger, nicht auch auf das Arbeits- und Sozialgericht (216).

4.5. Auch nach Müller (in SV‑Komm [93. Lfg] § 177 ASVG Rz 36 ff) beziehe sich der Genehmigungsvorbehalt des Bundesministers ‑ schon dem Wortlaut nach ‑ nur auf die Anerkennung durch den Unfallversicherungsträger. Die Prämisse des Obersten Gerichtshof beruhe auf einer Verkennung des Wesens des Aufsichtsverfahrens und einer verfassungswidrigen Interpretation des Gesetzes.

5. In seinem Beschluss vom 4. September 2013, GZ 2012/08/0062, hat der Verwaltungsgerichtshof in einem Verfahren betreffend die Feststellung einer Berufskrankheit im Einzelfall gemäß § 148e Abs 2 BSVG (entspricht inhaltlich § 177 Abs 2 ASVG) eine Beschwerde mangels Zuständigkeit zurückgewiesen. In seiner Entscheidung lehnte der Verwaltungsgerichtshof die ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs explizit ab: Wie der Verwaltungsgerichtshof schon in seinem Erkenntnis vom 4. August 2004, Zl 2001/08/0223, ausgesprochen habe, handle es sich bei der Feststellung, eine Gesundheitsstörung sei Folge einer Berufskrankheit, um eine Leistungssache, dies unabhängig davon, ob es um eine „abstrakte“ Berufskrankheit oder um eine im Einzelfall festzustellende „konkrete“ Berufskrankheit gehe. Dem § 65 Abs 2 ASGG sei eine Differenzierung danach, ob eine abstrakte Berufskrankheit oder eine im Einzelfall festzustellende Berufskrankheit Gegenstand der Feststellung sei, nicht zu entnehmen. § 177 Abs 2 ASVG bzw § 148e Abs 2 BSVG verlange die Zustimmung des Bundesministers als Voraussetzung für die Feststellung einer Krankheit als Berufskrankheit im Einzelfall nicht schlechthin, sondern nur in solchen Fällen, in denen der Versicherungsträger die (positive) Feststellung treffe; das Gericht sei an kein Zustimmungserfordernis gebunden. Aus diesen Gründen fehle es an der Prozessvoraussetzung der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofs.

6. Wie insbesondere Holzer (siehe oben 4.3.) hervorgestrichen hat, werden sozialversicherungsrechtliche Leistungsansprüche, die als Verlängerung bzw Ersatz des vertraglichen Arbeitsentgelts zu qualifizieren sind, als „civil rights“ im Sinne des Art 6 EMRK angesehen ( Grabenwarter/Pabel , Europäische Menschenrechtskon-vention 5 [2012] 387). Hinsichtlich dieser Ansprüche besteht ein subjektives Recht auf effektiven Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und auf Gesetz beruhenden Gericht. Legitime Schranken dieses Zugangsrechts dürfen den Wesensgehalt des Rechts nicht verletzen.

7. Schon aus Gründen der Effektuierung der Möglichkeit, die Ablehnung eines Anspruchs auf Entschädigung wegen einer „konkreten“ Berufskrankheit durch ein Gericht im Sinne des Art 6 Abs 1 EMRK überprüfen zu lassen ‑ diese Möglichkeit ist nach der Ablehnung sowohl durch den Obersten Gerichtshof (in Leistungssachen) als auch durch den Verwaltungsgerichtshof (in Verwaltungssachen) nicht mehr gewährleistet ‑, ist es angebracht, die bisherige Rechtsprechung dahin zu ändern, dass die bescheidmäßige Ablehnung der Anerkennung einer Krankheit als konkrete Berufskrankheit durch den Unfallversicherungsträger die Klage vor dem Arbeits- und Sozialgericht gemäß § 67 Abs 1 Z 1 ASGG eröffnet. Im sozialgerichtlichen Verfahren ist eine Feststellung, dass eine Gesundheitsstörung Folge einer konkreten Berufskrankheit ist, oder ein daraus abgeleiteter Leistungsanspruch nicht von einer Zustimmung des Bundesministers für Gesundheit abhängig. Vielmehr hat das Arbeits- und Sozialgericht ‑ im Sinne der unter 4. dargestellten Lehrmeinungen ‑ eigenständig nach den Vorgaben des § 177 Abs 2 ASVG, insbesondere auf der Grundlage gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse zu prüfen, ob im Einzelfall eine Krankheit ausschließlich oder überwiegend durch die Verwendung schädigender Stoffe oder Strahlen bei einer vom Versicherten ausgeübten Beschäftigung entstanden ist.

8. In diesem Sinn sind die die Klage abweisenden Entscheidungen der Vorinstanzen zur neuerlichen Beurteilung durch das Erstgericht aufzuheben.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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