OGH 10ObS18/16v

OGH10ObS18/16v22.2.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden und die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter (Senat gemäß § 11a Abs 3 ASGG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*****, vertreten durch Mag. Heimo Bernroitner, Rechtsanwalt in Wien, dieser vertreten durch Bichler Zrzavy Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, wegen Invaliditätspension, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 10. November 2015, GZ 10 Rs 107/15a‑71, mit dem die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 13. Jänner 2015, GZ 31 Cgs 140/13z‑52, zurückgewiesen wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:010OBS00018.16V.0222.000

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Dem Berufungsgericht wird die Entscheidung über die Berufung der klagenden Partei unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Die Rekurskosten sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Begründung

Mit Urteil vom 13. Jänner 2015 (ON 52) wies das Erstgericht das Begehren der Klägerin auf Weitergewährung der Invaliditätspension über den 31. Dezember 2012 hinaus ab. Das Urteil wurde der ‑ im Verfahren erster Instanz nicht vertretenen ‑ Klägerin am 10. April 2015 zugestellt.

Die Klägerin beantragte mit dem am 5. Mai 2015 zur Post gegebenen gerichtlichen Formular „ZPForm 1“ die Bewilligung der Verfahrenshilfe unter anderem durch vorläufige unentgeltliche Beigebung eines Rechtsanwalts (§ 64 Abs 1 Z 3 ZPO) zur Einbringung der Berufung gegen dieses Urteil.

Mit Beschluss vom 28. Mai 2015 (ON 58) erteilte das Erstgericht der Klägerin den Auftrag, innerhalb einer Frist von 14 Tagen das Vermögensbekenntnis unter Punkt II dieses Antragsformulars durch konkret bezeichnete Ergänzungen der Angaben zu ihren wirtschaftlichen Verhältnissen zu verbessern. Mit diesem Beschluss stellte das Erstgericht der Klägerin den Antrag samt Beilagen im Original zurück und trug ihr auf, den Antrag und das ergänzte Vermögensbekenntnis innerhalb der 14‑tägigen Frist im Original wieder vorzulegen. Der Beschluss wurde der Klägerin durch Hinterlegung zugestellt. Beginn der Abholfrist war der 2. Juni 2015.

Erst mit Postaufgabedatum vom 19. Juni 2015 sandte die Klägerin den verbesserten Originalantrag samt Beilagen an das Erstgericht zurück (ON 57).

Das Erstgericht bewilligte der Klägerin mit Beschluss vom 2. Juli 2015 die Verfahrenshilfe im beantragten Umfang (ON 59). Die vor Beschlussfassung eingelangte Ergänzung bzw Verbesserung des Vermögensbekenntnisses sei zu berücksichtigen.

Dem Verfahrenshelfer wurde das Ersturteil am 21. August 2015 zugestellt (ON 68); die Berufung wurde am 17. September 2015 beim Erstgericht eingebracht (ON 69).

angefochtenen

Rekurs

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist gemäß § 519 Abs 1 Z 1 ZPO zulässig (RIS‑Justiz RS0042770; RS0098745); er ist auch berechtigt.

M. Bydlinski Fasching/Konecny 3

M. Bydlinski Fasching/Konecny 3

2. Im Anlassfall liegt genau diese Situation vor: Das Erstgericht leitete das Verbesserungsverfahren inhaltlich nur in Bezug auf Angaben zum Vermögensbekenntnis der Klägerin ein, nicht aber zur Behebung allfälliger Formmängel des ‑ von diesem zu unterscheidenden ‑ Antrags auf Bewilligung der Verfahrenshilfe. Damit lag ein formgültiger und fristgerecht eingebrachter Verfahrenshilfeantrag der Klägerin vor, dem daher grundsätzlich die Eignung zukam, die Berufungsfrist gemäß § 464 Abs 3 ZPO zu unterbrechen (7 Ob 135/06p; RIS‑Justiz RS0123515).

3. Die Besonderheit des vorliegenden Falls liegt darin, dass das Erstgericht der Klägerin, obwohl es nur die Verbesserung des Vermögensbekenntnisses (§ 66 Abs 2 ZPO) auftrug, auch den Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe (der ebenso wie das Vermögensbekenntnis Bestandteil des von der Klägerin für ihren Antrag verwendeten gerichtlichen Formulars „ZPForm 1“ ist) im Original zurückstellte. (Nur) aus diesem Grund lag zum Zeitpunkt des Ablaufs der Verbesserungsfrist nur eine Kopie des Antrags der Klägerin auf Bewilligung der Verfahrenshilfe (ON 57) im Akt des Erstgerichts. (Nur) darin unterscheidet sich der vorliegende Fall aber von den oben bereits genannten Entscheidungen (zB 3 Ob 130/05x).

E. Kodek Rechberger 4 Pimmer Fasching/Konecny 2

5.1 Im vorliegenden Fall hat die Klägerin den formgültigen Verfahrenshilfeantrag jedoch im Original nur wenige Tage nach Ablauf der Verbesserungsfrist, aber noch vor Entscheidung des Erstgerichts über den Verfahrenshilfeantrag neuerlich beim Erstgericht eingebracht. Dies hat zumindest in einer Konstellation wie der hier zu beurteilenden entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts nicht zur Folge, dass die Rechtskraft des Urteils des Erstgerichts eingetreten wäre.

5.2 Die Berufungsfrist war, wie bereits ausgeführt, durch die fristgerechte Einbringung des formgültigen Verfahrenshilfeantrags gemäß § 464 Abs 3 ZPO unterbrochen. § 464 Abs 3 ZPO ist eine ‑ nur in dem in dieser Bestimmung genannten Fall anwendbare (RIS‑Justiz RS0007016) ‑ Schutzbestimmung, die die Partei vor denjenigen Nachteilen bewahren soll, die sich für sie im Nichtanwaltsprozess dadurch ergeben können, dass im Berufungsverfahren die Vertretung durch Rechtsanwälte geboten ist (RIS‑Justiz RS0041652). Es handelt sich dabei nicht um eine Verlängerung, sondern um eine Verlegung des Beginns der Berufungsfrist auf die in § 464 Abs 3 ZPO genannten Zeitpunkte (RIS‑Justiz RS0041683).

5.4 Nur bei einer solchen Auslegung der Bestimmung kann eine Ungleichbehandlung vermieden werden, die dadurch entstünde, dass ein in einer vergleichbaren Situation nicht im Original zurückgestellter Antrag fristwahrend ist, während ein ‑ ohne Notwendigkeit ‑ im Original zurückgestellter Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe bei Versäumung einer den Antrag gar nicht betreffenden Verbesserungsfrist zum Verlust des Schutzes der durch § 464 Abs 3 ZPO bewirkten Unterbrechung der Berufungsfrist führen würde.

G. Kodek Fasching/Konecny

6. Für den konkreten Fall folgt daraus, dass infolge der Bewilligung der beantragten Verfahrenshilfe und Bestellung eines Rechtsanwalts die Berufungsfrist mit der Zustellung des Bestellungsbescheids und des Urteils des Erstgerichts an diesen am 21. August 2015 die Berufungsfrist gemäß § 464 Abs 3 Satz 1 ZPO zu laufen begonnen hat. Ausgehend davon erfolgte die Einbringung der Berufung am 17. September 2015 rechtzeitig.

Dem Rekurs war daher Folge zu geben und der angefochtene Beschluss aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 ZPO.

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