OGH 1Ob231/15z

OGH1Ob231/15z22.12.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski, Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätin Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei G***** O*****, vertreten durch Mag. Gernot Strobl, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagte Partei ÖBB‑Personenverkehr AG, Wien 10, Am Hauptbahnhof 2, vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 7.600 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 31. August 2015, GZ 1 R 242/14f‑19, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 21. August 2014, GZ 2 C 14/14v‑15, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0010OB00231.15Z.1222.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben und das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.825,52 EUR (darin 681 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Entscheidungsgründe:

Aufgrund eines mit der Beklagten abgeschlossenen Beförderungsvertrags reiste die Klägerin am 18. 5. 2013 mit einem Railjet‑Zug von Budapest nach Salzburg. Ihre Reisetasche, die sie als Reisegepäck mitführte, war zu groß, um sie in die Ablage über den Sitzen geben zu können, auf der überdies gar kein Platz dafür gewesen wäre. Neben den genannten Ablagen verfügte der Waggon über ein offenes Kofferregal, in dem große Gepäckstücke abgestellt werden können. Nachdem die Klägerin ihre Reisetasche neben sich in den Gang des Waggons gestellt hatte und vom Schaffner angewiesen worden war, diese in das Kofferregal zu stellen, weil sie im Gang die anderen Reisenden behindere, brachte sie ihre Reisetasche dort unter. Von ihrem Sitzplatz aus, war das Regal nicht einsehbar. Als sie in Salzburg aussteigen wollte, bemerkte sie, dass die Reisetasche nicht mehr vorhanden war.

Sie begehrte nun Schadenersatz in Höhe von (zuletzt) 7.600 EUR samt Zinsen insbesondere mit der Begründung, die Beklagte habe es zu vertreten, in dem von der Klägerin benutzten Waggon keinerlei Möglichkeiten geschaffen zu haben, um sicherzustellen, dass Zugpassagiere von ihrem gebuchten Platz aus die Möglichkeit haben, ihr Gepäckstück einzusehen; für diese Fälle hätte die Beklagte auch Vorkehrungen, wie etwa absperrbare Verstauungsmöglichkeiten, schaffen müssen.

Die Beklagte wandte im Wesentlichen ein, dass nach den maßgeblichen Bestimmungen, unter anderem auch nach Punkt 24.5 des Personen‑ und Reisegepäcktarifs (ÖPT), der Reisende alle mitgenommenen Gegenstände selbst zu beaufsichtigen habe.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Ein Verwahrungsvertrag zwischen den Streitteilen sei nicht zustande gekommen. Gemäß dem damals (noch) geltenden § 26 EBG könne der Reisende leicht tragbare Gegenstände als Handgepäck unentgeltlich in Personenwagen mitnehmen und dann an vorgesehenen Stellen unterbringen. Gemäß Abs 6 leg cit habe er alle mitgenommenen Gegenstände selbst zu beaufsichtigen. Nur für Gegenstände, die er im Gepäckabteil eines Wagens untergebracht hat und deshalb nicht beaufsichtigen kann, entfalle diese Verpflichtung. Diese Bestimmung sei entgegen der Ansicht der Klägerin nicht anzuwenden, da es sich beim vorhandenen Gepäckregal um kein Gepäckabteil im Sinne der genannten Bestimmung handle. Eine für die Verwahrung von Gepäck vorgesehene Räumlichkeit, die vom Fahrgastraum getrennt ist, habe es nicht gegeben. Im Übrigen diene ein Gepäckabteil ausschließlich der Beförderung von mit einem eigenen Beförderungsvertrag aufgegebenem Reisegepäck, welches räumlich getrennt von einem Reisenden transportiert werde. Dagegen habe die Klägerin die Reisetasche als Handgepäck mitgeführt, wobei sie aufgrund deren Größe damit rechnen habe müssen, dass sie nicht in der Gepäckablage über den Sitzen untergebracht werden könne. Allein aus dem Umstand, dass die Beklagte für derartige offenbar noch als Handgepäck akzeptierte Gepäckstücke eigene Regale in den Waggons zur Verfügung stellt, lasse sich noch nicht die vertragliche Nebenverpflichtung ableiten, derartige Gepäckstücke zu überwachen und/oder gegen Diebstahl zu sichern. Schließlich sei es auch im Falle eines nicht bestehenden Sichtkontakts von den (reservierten) Sitzplätzen zum Gepäckregal zumutbar, sich in Stationen, in denen die Fluktuation von Reisenden stattfindet, Blickkontakt zum Gepäckstück zu verschaffen.

Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung ab und erkannte die Beklagte ‑ unter Abweisung eines Mehrbegehrens von 1.358,27 EUR samt Zinsen ‑ schuldig, der Klägerin 6.340 EUR samt Zinsen zu zahlen; es erklärte die Revision für zulässig. Ob der von der Beklagten apostrophierte Tarif (ÖPT) Vertragsinhalt geworden sei, könne dahinstehen, weil die darin enthaltenen einschlägigen Bestimmungen im Wesentlichen mit den hier maßgeblichen Normen des EBG so gut wie inhaltsgleich übereinstimmten. Es erscheine durchaus vertretbar, das von der Klägerin verwendete Kofferregal als „Gepäckabteil“ im Sinne des § 26 EBG zu werten. Einem Reisenden sei wohl auch nicht zumutbar, im Vorhinein zu eruieren, mit welchem Waggontyp seine Beförderung erfolgen und welche Ablagemöglichkeiten er für die von ihm als Handgepäck mitgenommenen Gegenstände vorfinden würde. Auf einen separierten und geschlossenen Raum sei die Klägerin vom Schaffner nicht hingewiesen worden. So habe sie infolge der von ihr zu beachtenden Weisung des Einbahnbediensteten wegen der Unterbrechung des Blickkontakts ihre Reisetasche nicht mehr beaufsichtigen können. Keineswegs wäre es ihr zumutbar gewesen, diese während der gesamten Zugfahrt durch ständige Beobachtung zu bewachen. Habe somit die Beklagte die Klägerin veranlasst, die von ihr beabsichtigte Beaufsichtigung der Reisetasche durch Aufbewahrung neben ihrem Sitzplatz aufzugeben und diese in einem von ihr uneinsehbares Kofferregal abzustellen, habe sie genau jene Gefahrenlage geschaffen, die zu dem Diebstahl führen konnte und durch das gesetzliche Gebot an den Reisenden, sein Handgepäck selbst zu beaufsichtigen, verhindert werden habe sollen. Die Revision sei zulässig, weil höchstgerichtliche Judikatur zur Auslegung des § 26 Abs 1 und Abs 6 EBG nicht vorliege; möge auch diese Bestimmung mit 30. 6. 2013 außer Kraft getreten sein, so lebe sie doch im ÖPT inhaltsgleich weiter.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen erhobene Revision der Beklagten ist aus dem vom Berufungsgericht angegebenen Grund zulässig und auch berechtigt.

§ 26 Abs 1 und 6 des Eisenbahnbeförderungs-gesetzes (EBG) in der zum Zeitpunkt der Zugfahrt geltenden Fassung lauteten:

„Abs 1: Der Reisende kann leicht tragbare Gegenstände als Handgepäck unentgeltlich in Personenwagen mitnehmen und an den vorgesehenen Stellen unterbringen. Der Reisende hat zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Zug die Anordnung der Eisenbahnbediensteten hinsichtlich der Unterbringung des Handgepäcks zu beachten.

Abs 6: Der Reisende hat alle mitgenommenen Gegenstände selbst zu beaufsichtigen; für Gegenstände, die er im Gepäckabteil eines Wagens untergebracht hat und deshalb nicht beaufsichtigen kann, entfällt diese Verpflichtung. Die Eisenbahn haftet für einen Schaden an Gegenständen, die der Reisende selbst zu beaufsichtigen hat, nur bei Verschulden.“

Schon aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass dem Umstand, dass der Schaffner die Klägerin „angewiesen hat“, die Tasche in das dafür vorgesehene Kofferregal zu stellen, keine Bedeutung zukommt. Sie war nach § 26 Abs 1 Satz 1 EBG verpflichtet, von sich aus ihr Reisegepäck „an den vorgesehenen Stellen“ unterzubringen. Dass dafür ein anderer Ort als das fragliche Kofferregal in Betracht gekommen wäre, hat die Klägerin nie behauptet. Der Hinweis des Schaffners auf die Einhaltung gesetzlicher Anordnungen kann naheliegenderweise eine Risikoverschiebung zugunsten der Klägerin nicht begründen.

Entscheidende Bedeutung kommt somit der Auslegungsfrage zu, was unter der Unterbringung von Gegenständen „im Gepäckabteil“ eines Wagens zu verstehen ist. Unter dem Begriff „Abteil“ ist unter anderem ein „abgeteilter Raum in einem Personenwagen der Eisenbahn“ zu verstehen; er wird auch als Synonym für das aus dem Französischen stammende Wort „Coupé“ verwendet (Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, zweite Auflage, 1993). Die maßgebliche Fassung der hier zu beurteilenden Norm stammt aus dem Jahr 1988. Damals wurden für den Personenverkehr häufig Waggons verwendet, die vor allem Personenabteile, daneben aber auch noch Abteile mit anderen Verwendungszwecken (Gepäckabteile, Dienstabteile) enthielten. Die einzelnen Abteile waren überwiegend voneinander vollständig getrennt und über den Gang durch eine (meist Schiebe‑)Tür erreichbar. In § 14 Abs 2 und Abs 3 EBG wurde etwa angeordnet, dass kranken Fahrgästen ein eigenes Abteil ‑ oder sogar ein eigener Wagen ‑ zur Verfügung zu stellen ist, um die anderen zu schützen, was eine vollständige räumliche Trennung voraussetzt. Es spricht viel dafür, dass der Gesetzgeber auch bei Verwendung des Wortes „Gepäckabteil“ in § 26 Abs 6 EBG ‑ im zum Vorfallszeitpunkt geltenden § 25 Abs 6 der EisbBBV (Eisenbahnbau‑ und ‑betriebsverordnung) ist ausschließlich von „Schiebetüren der Gepäckwagen und Gepäckabteile“ die Rede ‑ von einem derartigen Verständnis ausgegangen ist. Dies legt auch das weitere Tatbestandsmerkmal nahe, wonach die Ausnahme von der Selbstbeaufsichtigungspflicht nach dem ersten Halbsatz weiters voraussetzt, dass der Reisende die betreffenden Gegenstände wegen der Unterbringung in einem Gepäckabteil nicht beaufsichtigen kann. Damit wird ersichtlich auf eine Verwahrungsart abgestellt, die dazu führt, dass dem Reisenden ein selbstständiger Zugang zum betreffenden Gepäckstück ‑ zumindest aber ein Sichtkontakt ‑ objektiv nicht möglich ist. Von einer solchen Situation kann im vorliegenden Fall keine Rede sein, wäre es der Klägerin doch objektiv durchaus möglich gewesen, häufiger nach ihrer Reisetasche zu schauen oder etwa auch andere Personen zu ersuchen, ein Auge darauf zu haben. Soweit sich die Klägerin auf die Unzumutbarkeit einer solchen Beaufsichtigung beruft, ist ihr zu erwidern, dass es für das Zugpersonal umso weniger zumutbar ist, alle Gepäckstücke aller Reisenden zu „bewachen“, hat es doch primär ganz andere Verpflichtungen.

Bringt somit ein Reisender sein Gepäck nicht in einem „Gepäckabteil“ im Sinne des § 26 Abs 6 Satz 1 EBG unter, sondern in einer sonst dafür vorgesehenen Stelle wie etwa einem offenen Kofferregal, bleibt es bei der Beaufsichtigungsobliegenheit des Reisenden. Ein Verschuldensvorwurf, der unter diesen Umständen eine Haftung der Eisenbahn nach § 26 Abs 6 Satz 2 EBG begründen könnte, ist den beim Bahnbetrieb tätigen Mitarbeitern der Beklagten hier nicht zu machen.

Entgegen der Auffassung der Revisionsgegnerin besteht auch kein Anlass für die Annahme einer vom Zugpersonal schlüssig übernommenen Verwahrungspflicht. Wie bereits dargelegt wurde, war die Klägerin verpflichtet, von sich aus ihr Gepäck an den dafür vorgesehenen Stellen unterzubringen. Dass sie dieser Verpflichtung erst nach einem entsprechenden Hinweis des Schaffners nachkam, begründet zweifellos keine Verwahrungspflichten der Beklagten.

Damit ist das klageabweisende Ersturteil wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 50 Abs 1 iVm § 41 Abs 1 ZPO.

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