OGH 6Ob111/15i

OGH6Ob111/15i21.12.2015

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. E. Solé als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J***** S*****, vertreten durch Salburg, Rechtsanwalts GmbH in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. J***** M*****, vertreten durch Hausmaninger Kletter Rechtsanwälte GesmbH in Wien, sowie 2. A***** Ltd (vormals: M***** Ltd), *****, vertreten durch CMS Reich‑Rohrwig Hainz Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 11.964,36 EUR sA über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 17. März 2015, GZ 3 R 99/14x‑40, womit das Teilurteil des Handelsgerichts Wien vom 20. Oktober 2014, GZ 56 Cg 169/12i‑36, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Dem Berufungsgericht wird die neuerliche Entscheidung aufgetragen.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Begründung

Der Kläger macht Schadenersatzansprüche wegen irreführender Werbung und Marktmanipulation geltend.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren gegenüber der zweitbeklagten Partei statt; gegenüber dem Erstbeklagten ruht das Verfahren. Die Zweitbeklagte treffe eine Haftung nach dem Börsegesetz. Durch die Finanzierung und Duldung zeitweiser massiver Rückkäufe habe sie Signale gesetzt, die falsch oder irreführend für das Angebot von Finanzinstrumenten, die Nachfrage danach oder ihren Kurs betreffend gewesen seien. Außerdem habe die Zweitbeklagte bei den Kapitalerhöhungen im Frühjahr 2005 bzw 2006, Herbst 2006 und Frühjahr 2007 behauptet, dass aufgrund hoher Nachfrage sämtliche neu ausgegebenen Zertifikate platziert worden seien, was nicht wahr gewesen sei. Damit habe die Zweitbeklagte gegen § 48a Abs 1 Z 2 lit c BörseG verstoßen. Durch Zurückhalten der Information, dass ab Juli 2005 zu „Market Maker‑Zwecken“ 29,9 % des Zertifikatsvolumens zurückgekauft werden konnten, sei die ad‑hoc‑Meldepflicht gemäß § 48d Abs 1 BörseG verletzt worden.

Das Berufungsgericht verwarf die gegen dieses Urteil erhobene Berufung wegen Nichtigkeit, gab der Berufung jedoch im Übrigen Folge und hob das angefochtene Urteil zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Die Verwertung des Berichts der OeNB verstoße gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz, weil es dem Erstgericht offengestanden wäre, die durch Verwertung des Berichts festgestellten Tatsachen durch unmittelbare Beweisaufnahme zu erheben. Die Verwertung des UVS‑Akts habe gleichfalls gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz verstoßen.

Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig. Die Beurteilung der Zulässigkeit der Verwertung eines Berichts der OeNB stelle eine erhebliche Rechtsfrage dar, deren Bedeutung schon angesichts der Vielzahl anhängiger Verfahren über den Einzelfall hinausgehe.

Rechtliche Beurteilung

Hiezu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

Der Rekurs ist aus dem vom Berufungsgericht angeführten Grund zulässig; er ist im Sinne des jeden Abänderungsantrag innewohnenden Aufhebungsantrags auch berechtigt.

1.1. Die hier maßgebliche Frage, ob die Verwertung des OeNB‑Berichts dem Unmittelbarkeits-grundsatz des § 276 ZPO widerspricht, wurde vom Obersten Gerichtshof vor dem Hintergrund der gegen die Zweitbeklagte angestrengten Verfahren mit Beschluss vom 22. Oktober 2015, 1 Ob 39/15i, grundlegend überprüft und verneint.

1.2. Die Ansicht lässt sich dahin zusammenfassen, dass der OeNB-Prüfbericht zwar keine öffentliche Urkunde, keine schriftliche Zeugenaussage und auch kein gerichtliches Sachverständigengutachten ist, dies jedoch noch nicht seiner Verwertung entgegenstehe. Denn es „ist der Grundsatz der (sachlichen) Unmittelbarkeit 'kein Gut an sich, kein sogenannter Selbstzweck' (OBDK RIS‑Justiz RS0056185); er ist vielmehr Mittel zur Wahrheitsfindung, steht in einem Spannungsfeld zur Prozessökonomie und ist daher unter gewissen Voraussetzungen auch verzichtbar (vgl RIS-Justiz RS0041499). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die ZPO kaum Beweisverbote kennt. Die Beweismittel sind in der ZPO nicht taxativ aufgezählt (Rechberger aaO [in Fasching/Konecny², Vor § 266 ZPO] Rz 100 mwN). Vielmehr kommt auch im Zivilverfahren ‑ wie dies § 46 AVG für das Verwaltungsverfahren statuiert ‑ als Beweismittel alles in Betracht, was zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts geeignet und nach Lage des einzelnen Falls zweckdienlich ist (Rechberger aaO). Demgemäß plädiert Rechberger (aaO Rz 100, Vor §§ 351 ff Rz 12) überzeugend dafür, sich von der strikten Zuordnung zu einem in der ZPO angeführten Beweismittel zu lösen. (...)

Gerade bei öffentlichen Stellen ist bereits seit langem anerkannt, dass schriftliche Angaben ein zulässiges Beweismittel darstellen; das Bestehen auf der Einvernahme eines informierten Vertreters würde nämlich in aller Regel keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn verschaffen. So entspricht es völlig herrschender Auffassung, dass es sich auch bei der schriftlichen Beantwortung einer Anfrage um ein zulässiges Beweismittel handelt, das entweder als Urkunden-oder als Sachverständigenbeweis qualifiziert werden kann (Bittner aaO [in Fasching/Konecny²], § 292 ZPO Rz 44; Rechberger aaO Vor § 266 ZPO Rz 102; [nur für Urkundenbeweis] G. Kodek in Fasching/Konecny², § 301 ZPO Rz 13). ...

Demnach kann auch im Gerichtsverfahren der OeNB‑Bericht, der weder schriftliche Zeugenaussage noch Gerichtsgutachten ist und für den Zivilprozess am ehesten ‑ eine streng kategorische Einordnung zu den nicht taxativ aufgezählten Beweismitteln ist wie dargelegt nicht zwingend erforderlich ‑ dem Urkundenbeweis gleichgestellt werden kann, ergänzt oder widerlegt werden. …

Der OeNB‑Prüfbericht ist demnach grundsätzlich bei der Beurteilung der Streitsache zu berücksichtigen.“

1.3. Dabei betonte der erste Senat den Umstand, dass es sich um ein (Massen-)Verfahren handelt, wie sie von einer großen Zahl von Klägern gegen die Beklagten angestrengt wurden. Entgegen der Ansicht von Oberhammer (Anlegeransprüche ‑ kapitalmarktrechtliche und prozessuale Fragen, GA zum 19. ÖJT [2015] 97 f) geht es auf Basis der derzeitigen (auf Massenverfahren nicht Rücksicht nehmenden) Verfahrensvorschriften nicht nur um ein Ressourcenproblem der Justiz, sondern vielmehr um den Zugang der Parteien zu Informationen, um die Kosten des Verfahrens und damit letztlich um den effektiven Zugang zum Recht, sowie um die Belastung der Zeugen und Verfahrensparteien, insbesondere auch der Beklagten, die sich in einer Vielzahl von Verfahren denselben Fragen im Zuge der Zeugen- oder Parteienvernehmung stellen müssen (vgl G. Kodek, Möglichkeiten zur gesetzlichen Regelung von Massenverfahren, in BMSG [Hrsg], Massenverfahren ‑ Reformbedarf für die ZPO? [2005] 311, [383 f]; ders, Kollektiver Rechtsschutz in Europa ‑ Diskussionsstand und Perspektiven, FS Nowotny [2015] 127 [138]). Diese Gesichtspunkte erfordern nicht zuletzt in Hinblick auf das Grundrecht auf ein faires Verfahren (Art 6 EMRK) ein möglichst rationelles Vorgehen bei der Beweisaufnahme, das Dauer und Kosten der Verfahren im Rahmen hält (1 Ob 39/15i).

1.4. Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung, die bereits vom 9. Senat geteilt wurde (9 Ob 27/15h), an. Der offene Zugang gegenüber allen in Betracht kommenden Erkenntnisquellen ist in gewisser Weise Korrelat zum Grundsatz der freien Beweiswürdigung (1 Ob 39/15i). Ebenso wie der Beweiswert einzelner Beweismittel im Gegensatz zu früheren Rechtsordnungen nicht gesetzlich geregelt ist, sind auch die zur Gewinnung von Feststellungen heranzuziehenden Quellen kaum gesetzlichen Beschränkungen unterworfen. Letztlich geht es stets um die Frage, welchen Stellenwert derartige Beweismittel im Rahmen des gesamten Prozessstoffes haben und inwieweit die Aufnahme zusätzlicher mittelbarer oder unmittelbarer Beweise geboten ist. Dies ist aber regelmäßig nur im Einzelfall zu beantworten. Die Frage, inwieweit durch Aufnahme unmittelbarer Beweise ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn zu erwarten ist, fällt in den den Tatsacheninstanzen vorbehaltenen Bereich der Beweiswürdigung (vgl RIS‑Justiz RS0043414; RS0043320).

1.5. In diesem Zusammenhang ist auf die Rechtsprechung zur Verwertung von Abgabenbescheiden im Finanzstrafverfahren zu verweisen. Demnach bedarf es infolge der einem (inhaltlich schlüssigen) Abgabenbescheid als dem Resultat eines fachspezifischen Ermittlungsverfahrens inhärenten Bedeutung einer qualifizierten Vorprüfung der objektiven Tatbestandsvoraussetzungen des jeweils aktuellen Finanzvergehens (nur) dann einer weiteren Überprüfung durch einen Sachverständigen, wenn im Beweisverfahren unausgeräumt gebliebene Mängel aus konkreten Details (der Tatsachengrundlagen des finanzbehördlichen Schätzungsergebnisses) abgeleitet werden (RIS‑Justiz RS0087030).

Einem Abgabenbescheid kommt als dem Resultat eines fachspezifischen Ermittlungsverfahrens die Bedeutung einer qualifizierten Vorprüfung der objektiven Tatbestandsvoraussetzungen des im diesbezüglichen Finanzstrafverfahren aktuellen Finanzvergehens zu (RIS‑Justiz RS0087030 [T2]; Lässig in Wiener Kommentar StGB² Vor § 1 FinStrG Rz 4). Strebt eine Prozesspartei die Überprüfung des Abgabenbescheids im Strafverfahren an, so muss sie im darauf abzielenden Antrag aus konkreten Details der Tatsachengrundlagen des Bescheids im Beweisverfahren unausgeräumt gebliebene Mängel ableiten (RIS-Justiz RS0087030; Lässig in Wiener Kommentar StGB² Vor § 1 FinStrG Rz 6). Diese Überlegungen lassen sich im Grundsatz für den vorliegenden Kontext fruchtbar machen.

2.1. Ähnliches gilt für die vom Erstgericht herangezogenen Aktenbestandteile aus dem UVS‑Akt. Die Verwertung eines Vorakts als Beweismittel unterliegt grundsätzlich keinen Beschränkungen; § 281a ZPO greift erst dann, wenn die Verwendung des (Gerichts‑)Akts einen möglichen unmittelbaren Beweis ersetzen soll (Rechberger in Fasching/Konecny² Vor § 266 ZPO Rz 106).

2.2. Für die Einhaltung des Unmittelbarkeits-grundsatzes lässt aber die Rechtsprechung genügen, dass der Richter einen persönlichen Eindruck vom tatsachennahen Beweismittel erhalten konnte. Wird einem Zeugen seine in einem Parallelverfahren getätigte Aussage wörtlich vorgelesen und erhebt er diese in einem bestimmten Umfang zu seiner Aussage im neuen Verfahren, um darauf aufbauend weiter einvernommen und befragt zu werden, liegt darin weder ein Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz noch gegen § 477 Abs 1 Z 2 ZPO iVm § 412 ZPO (RIS-Justiz RS0128841). Auch eine Aktenbeischaffung zum Nachweise dafür, dass Aussagen, Behauptungen und Beweisergebnisse in dem vorliegenden Rechtsstreit mit denjenigen des Vorakts in Widerspruch stehen, ist durchaus zulässig (RIS‑Justiz RS0040224).

2.3. Im vorliegenden Fall hatte die zweitbeklagte Partei Gelegenheit, zum UVS‑Akt inhaltlich Stellung zu nehmen und die Aufnahme unmittelbarer Beweise zu beantragen. Von der Möglichkeit, die Einvernahme der Zeugen K***** und Sch***** zu beantragen, hat die zweitbeklagte Partei jedoch nicht Gebrauch gemacht, obwohl es sich dabei um ehemalige Mitglieder des Boards der Zweitbeklagten handelt. Insoweit ist daher nicht zu beanstanden, wenn sich das Erstgericht auf die Würdigung der aufgenommenen Beweise beschränkte. Bei Verwertung des UVS-Akts können sohin ‑ ungeachtet des Fehlens einer diesbezüglichen erhöhten Beweiskraft iSd § 292 ZPO ‑ im Rahmen der freien Beweiswürdigung auch die dort getroffenen Tatsachenfeststellungen berücksichtigt werden (9 Ob 27/15h).

3.1. Im vorliegenden Fall ist jedoch ein weiterer Zusammenhang zu beachten: Grundsätzlich erfolgt die Feststellung von Tatsachen in jedem Rechtsstreit ohne Bindung an die Beurteilung in einem Vorprozess (RIS‑Justiz RS0036826). Die Sachverhaltsfeststellungen früherer Entscheidungen aus anderen Verfahren äußern grundsätzlich keine Bindungswirkung auf spätere Verfahren. Dies schließt aber nicht aus, dass das Gericht aufgrund eigener Sachkenntnis aus früheren Verfahren gewonnene Erkenntnisse auch in späteren Verfahren verwertet. In diesem Sinne sieht § 269 ZPO auch im streitigen Zivilverfahren die Berücksichtigung gerichtsbekannter Tatsachen vor, ohne dass es besonderer Parteibehauptungen oder eines eigenen Beweisverfahrens bedürfte (RIS-Justiz RS0123760).

3.2. Demgemäß betont die Rechtsprechung, dass zwar, solange eine Tatsache nicht aufgrund einer Mehrzahl gleichartiger Entscheidungen als offenkundig anzusehen ist, diese sie in jedem Verfahren von den Tatsacheninstanzen geprüft und aufgrund der von ihnen aufgenommenen Beweise neu festgestellt werden muss, wobei Vorentscheidungen nur (aber immerhin) im Rahmen der Würdigung der Beweise zum Tragen kommen können (RIS‑Justiz RS0040215); eine in einem anderen Verfahren getroffene Feststellung kann nicht ohne weiteres übernommen werden (RIS‑Justiz RS0040215). Demgegenüber kann aufgrund des Ergebnisses einer Mehrzahl gleichartiger Entscheidungen eine ursprünglich beweisbedürftige Tatsache gerichtsbekannt werden, sodass diese in der Folge keiner neuerlichen Beweisaufnahme bedarf.

In diesem Sinne kann daher auch der Inhalt früherer Entscheidungen verwertet werden (vgl RIS‑Justiz RS0040158), wobei offenkundige Tatsachen nicht einmal behauptet werden müssen (RIS-Justiz RS0040240).

4. Da das Berufungsgericht sohin von einer vom Obersten Gerichtshof nicht gebilligten Rechtsansicht ausging, war dem Rekurs im Sinne des in jedem Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrags (Zechner in Fasching/Konecny² § 506 ZPO Rz 14 mwN) Folge zu geben und dem Berufungsgericht die neuerliche Entscheidung aufzutragen, zumal das Berufungsgericht in Hinblick auf seine Rechtsansicht die in der Berufung enthaltene Beweisrüge noch nicht erledigt hat.

5. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

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