OGH 4Ob172/15w

OGH4Ob172/15w15.12.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Jensik, Dr. Musger, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Rassi als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J***** E*****, vertreten durch Mag. Jörg Zarbl, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei G***** E*****, vertreten durch Mag. Martin Machold, Rechtsanwalt in Wien, wegen Ehescheidung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 1. Juli 2015, GZ 43 R 240/15k‑24, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 5. März 2015, GZ 3 C 6/14d‑18 bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0040OB00172.15W.1215.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen, die im Umfang der Scheidung der Ehe der Streitteile als unangefochten unberührt bleiben, werden im Übrigen aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung über den Antrag nach § 61 Abs 3 EheG an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

Die Parteien schlossen am 28. 10. 1981 die Ehe, aus der zwei Töchter entstammen. Der Kläger war bereits vor der Eheschließung Eigentümer an einer Liegenschaft in Wien, in der sich auch die Ehewohnung befand. In einem Geschäftslokal in diesem Haus betrieb der Kläger eine Bäckerei. Ab der Eheschließung wirkte die Beklagte in der Bäckerei mit. Sie kümmerte sich um die Buchhaltung und war teilweise auch im Verkauf tätig. Nach der Geburt der beiden Töchter in den Jahren 1983 und 1985 kümmerte sich die Beklagte auch um diese.

1992/93 verkaufte der Kläger schließlich das Haus samt der Bäckerei, was die Klägerin bedauerte, weil ihr die Tätigkeit in der Bäckerei Freude gemacht hatte, sie sich nun nach einer neuen Arbeit umsehen und die Familie in eine andere Wohnung in Wien ziehen musste. Sie wehrte sich aber gegen die Entscheidung des Klägers nicht, weil sie der Meinung war, der Kläger werde sowieso nicht auf sie hören.

Der Kläger hatte im ländlich geprägten G***** von einem Freund ein Badehaus gemietet. Dorthin fuhr die Familie praktisch jedes Wochenende, wobei es immer der Wunsch des Klägers gewesen ist, permanent ins Grüne zu übersiedeln. Er begann dort 1992 mit dem Bau eines Hauses und fuhr oft, auch unter der Woche, alleine nach G*****, um zu jagen, zu fischen und zu golfen. Meist ging er in der Früh aus dem Haus und kam erst abends wieder zurück. Später verbrachte der Kläger vermehrt auch die Wochenenden alleine in G*****.

Um die gemeinsamen Kinder oder um deren Schulangelegenheiten (zB Besuch von Elternsprechtagen) kümmerte sich fast nur die Beklagte. Sie hatte den Eindruck, dass der Kläger starken Stimmungsschwankungen unterworfen und teilweise von Depressionen belastet sei, weshalb sie ihn darin bestärkte, seinen Interessen nachzugehen. Es störte sie, dass der Kläger sich in erster Linie um seine persönlichen Interessen kümmerte und sich nur wenig mit seiner Familie beschäftigte. Sie äußerte das aber nicht gegenüber dem Kläger. Die Spannungen in der Beziehung nahmen zu; bereits 1998 strebte der Kläger eine Scheidung an.

Das in G***** errichtete Haus war 2000 bezugsfertig. Der Kläger wollte nun mit der Familie dorthin übersiedeln, doch die Beklagte lehnte das mit dem Hinweis auf den Schulbesuch beider minderjähriger Töchter in Wien ab. Sie befürchtete, dass sie dann die Mädchen von G***** zur Schule führen muss, weil der Kläger morgens und abends gerne auf die Jagd ging. Den Rohbau hatte sie bis dahin nur einmal gesehen. Sie empfand das Haus als viel zu groß und hatte auch bei der Planung nicht mitbestimmt. Die Entscheidungen hatte der Kläger nach dem von ihm erklärten Motto „ Wer zahlt, schafft an “ getroffen.

Dem Kläger war die bisherige Wohnung in Wien zu teuer, weshalb er für seine Frau und seine Töchter eine neue Wohnung anmietete. Er selbst übersiedelte jedoch nicht dorthin. Für die Beklagte war deshalb die eheliche Gemeinschaft beendet. Im Dezember 2000 lösten die Parteien die häusliche Gemeinschaft auf und trennten sich. In den Jahren nach der Trennung hatten die Parteien jeweils außereheliche Beziehungen.

Mit seiner im Jänner 2014 eingebrachten Klage begehrte der Kläger die Scheidung nach § 55 Abs 3 EheG und machte geltend, dass die häusliche und eheliche Gemeinschaft seit Dezember 2000 aufgehoben sei.

Die Beklagte begehrte nach § 61 Abs 3 EheG den Ausspruch eines Verschuldens und führte zum behaupteten Zerrüttungsverschulden des Klägers aus, dass dieser entgegen ihren Interessen und jenen der gemeinsamen Kinder nach G***** übersiedelt sei, was nicht gemeinsamer Lebensplan gewesen sei. Zudem habe der Kläger bereits vor dem Umzug die Interessen der Beklagten außer Acht gelassen und sich überwiegend seinen Interessen zugewandt. Er habe jeglichen Respekt vermissen lassen.

Demgegenüber behauptete der Kläger, der Umzug in das neu errichtete Haus in G***** sei von beiden Eheleuten geplant gewesen. Die Beklagte habe nach Fertigstellung des Hauses im Jahr 2000 den Umzug wegen einer außerehelichen Beziehung aber verweigert.

Das Erstgericht schied die Ehe, wies aber den Antrag der Beklagten, das Verschulden an der Zerrüttung der Ehe auszusprechen, ab. Im Umfang des Ausspruchs über die Ehescheidung erwuchs die Entscheidung in Rechtskraft. Ausgehend von seinen oben zusammengefassten Feststellungen ging das Erstgericht zum begehrten Verschuldensausspruch in rechtlicher Hinsicht davon aus, dass ein Zerrüttungsverschulden des Klägers nicht deutlich überwiege und nicht augenscheinlich hervortrete. Der Kläger sei zusehends nur seinen eigenen Interessen nachgegangen, habe sich kaum in der gemeinsamen Ehewohnung aufgehalten, die Beklagte weitgehend sich selbst überlassen und auf ihre Interessen wenig Rücksicht genommen und sei schließlich allein nach G***** übersiedelt. Allerdings habe die Klägerin dem Beklagten gegenüber ihren Willen, Wien nicht zu verlassen, erst klar geäußert, als das neue Haus bezugsfertig gewesen sei. Sie habe sich weder gegen den Verkauf der Bäckerei noch dagegen gewehrt, dass der Kläger immer (allein) seinen persönlichen Interessen nachgegangen ist. Der Kläger habe deshalb keinen Grund sehen müssen, sein Verhalten zu ändern. „Alles in allem“ sei davon auszugehen, dass die Ehegatten ein gleichteiliges Verschulden an der Zerrüttung der Ehe treffe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten, die das Urteil des Erstgerichts nur insoweit bekämpfte, als ihr Antrag nach § 61 Abs 3 EheG abgewiesen wurde, nicht Folge. Die Entscheidungen in der Ehe seien zwar großteils vom Kläger getroffen worden, angesichts des Schweigens der Beklagten zu den Plänen des Klägers könne darin kein überwiegendes Verschulden des Klägers an der Zerrüttung liegen. Die Beklagte habe sich weder gegen den Verkauf der Bäckerei noch gegen den Hausbau und ‑ bis zur Fertigstellung des Hauses ‑ auch nicht gegen den Umzug nach G***** ausgesprochen. Die ordentliche Revision sei nicht zulässig, weil es sich um eine Frage des Einzelfalls handle.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass dem Antrag nach § 61 Abs 3 EheG stattgegeben werde. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Das Berufungsgericht habe die Rechtslage dahin erheblich verkannt, dass es dem Schritt des Klägers, die Lebensgemeinschaft einseitig zu trennen, kein Gewicht beigemessen habe und der Beklagten ihr Schweigen zu den Plänen des Klägers vorgeworfen habe.

Der Kläger beantragt in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung, das Rechtsmittel zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Beklagten ist zulässig und berechtigt, weil nach den bisher getroffenen Feststellungen nicht beurteilt werden kann, ob auch die Beklagte ein Verschulden an der Zerrüttung der Ehe trifft und wie ‑ bejahendenfalls ‑ das Verschulden beider Ehegatten zu gewichten ist.

1. Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens ist nur mehr der Antrag der Beklagten nach § 61 Abs 3 EheG, das alleinige (bzw überwiegende) Verschulden des Klägers an der Zerrüttung der gemäß § 55 EheG geschiedenen Ehe der Streitteile auszusprechen.

2. Nach ständiger Judikatur kommt es bei diesem Ausspruch nicht darauf an, ob der Kläger einen Scheidungstatbestand verwirklicht hat. Entscheidend ist allein, ob ihm eine Schuld an der Zerrüttung der Ehe anzulasten ist und ‑ falls beiden Ehegatten ein Verschulden an der Zerrüttung vorzuwerfen ist ‑ ob seine Schuld deutlich überwiegt (RIS‑Justiz RS0057256), wobei das Gesamtverhalten der Ehegatten während der Ehedauer zu berücksichtigen ist (RIS‑Justiz RS0057268). Das Verschulden des Klägers muss als ehezerstörend empfunden worden sein (4 Ob 2031/96x). Nach ständiger Rechtsprechung ist ein überwiegendes Verschulden eines der Ehepartner nur dann anzunehmen und auszusprechen, wenn jenes des anderen Teils fast völlig in den Hintergrund tritt (RIS‑Justiz RS0057487 [T1]). So wie nach dem auch bei der Beurteilung des Zerrüttungsverschuldens anzuwendenden allgemeinen Grundsatz des § 60 Abs 2 zweiter Satz EheG (RIS‑Justiz RS0057487) muss also ein sehr erheblicher gradueller Unterschied im beiderseitigen Verschulden bestehen, der offenkundig hervortritt (RIS‑Justiz RS0057251); subtile Erwägungen sind dabei nicht vorzunehmen (RIS‑Justiz RS0057325).

3. Die Abwägung des beiderseitigen Verschuldens an der Zerrüttung der Ehe ist grundsätzlich eine Frage des Einzelfalls, weshalb sie nur im Fall einer unvertretbaren Fehlbeurteilung durch die zweite Instanz die Zulässigkeit der Revision rechtfertigen könnte (RIS‑Justiz RS0119414; RS0118125).

4. Eine solche Fehlbeurteilung wird von der Revisionswerberin aus folgenden Gründen aufgezeigt:

4.1 Insoweit die Vorinstanzen davon sprechen, dass den Kläger „kein überwiegendes Verschulden“ an der Zerrüttung trifft, wird zum einen ein derartiges Verschulden des Klägers zutreffend bejaht. Ein Zerrüttungsverschulden kann (abgesehen von den noch zu klärenden Umständen zum Umzug) auch im Sinne der hier zutreffenden Ausführungen des Erstgerichts vor allem darauf gegründet werden, dass der Kläger merklich nur seinen eigenen Interessen nachgegangen ist, sich vom gemeinsamen Familienleben zurückgezogen, wichtige Entscheidungen alleine getroffen und auf die Bedürfnisse und Interessen der Beklagten kaum Rücksicht genommen hat.

Zum anderen suggerieren die Vorinstanzen mit dem Verneinen des überwiegenden Verschuldens des Klägers, dass auch der Beklagten ein Zerrüttungsverschulden vorzuwerfen sein soll. Ein solches ist aus den bisherigen Feststellungen aber nicht ableitbar und wird in der angefochtenen Entscheidung auch nicht begründet. Die gegenseitigen Affären fanden erst nach der Auflösung der häuslichen Gemeinschaft statt, als die Ursachen für die Zerrüttung bereits vorlagen. Aus den Feststellungen können der Beklagten sonst keine konkreten Vorwürfe gemacht werden. Ihr Schweigen auf die einseitigen Vorgangsweisen des Klägers ist allenfalls geeignet, die Vorwerfbarkeit seines Verhaltens zu relativieren, begründet aber kein Verschulden der Beklagten. Ihre Weigerung, nach G***** umzuziehen, war schon wegen des Schulbesuchs der minderjährigen Kinder sachlich begründet und könnte allenfalls (vgl aber § 91 Abs 2 ABGB) nur dann ein Verschulden begründen, wenn der Umzug zwischen den Streitteilen vereinbart wurde. Derartiges bleibt aber nach den Feststellungen offen (siehe unten), weshalb mangels ausreichender Tatsachengrundlage zur Vorgeschichte des Umzugs nach G***** die Frage des Verschuldens gemäß § 61 Abs 3 EheG nicht umfassend rechtlich beurteilt werden kann.

4.2 Im Zentrum ihres Rechtsmittels hebt die Beklagte die in § 91 Abs 2 ABGB normierte Pflicht der Ehegatten hervor, ihre eheliche Lebensgemeinschaft unter Rücksichtnahme aufeinander und auf das Wohl der Kinder mit dem Ziel voller Ausgewogenheit ihrer Beiträge einvernehmlich zu gestalten. Aus den Feststellungen lässt sich nicht ableiten, dass die Beklagte einem Umzug nach G***** ausdrücklich zugestimmt hat. Im Bereich des § 91 Abs 1 ABGB ist es allerdings auch anerkannt, dass das erforderliche Einvernehmen für die zu gestaltenden Lebensgemeinschaft der Ehegatten schlüssig hergestellt werden kann (RIS‑Justiz RS0009485). Auch ein schlüssig hergestelltes Einvernehmen lässt sich freilich aus den bisherigen Feststellungen nicht ableiten. Der Kläger konnte zudem nur dann von einer schlüssigen Zustimmung der Beklagten ausgehen, wenn diese vom Wunsch des Klägers, das Haus unmittelbar nach seiner Fertigstellung als neuen (gemeinsamen) Wohnsitz zu nützen, überhaupt Kenntnis hatte. Derartiges ergibt sich aber weder aus den Feststellungen noch liegt dies wegen des Hausbaus klar auf der Hand, zumal nicht ausgeschlossen ist, dass das Haus nur als Wochenendhaus, Zweitwohnsitz oder als Alterswohnsitz für einen späteren Umzug dienen sollte. Konnte der Kläger aber nicht von einer Zustimmung der Beklagten ausgehen, ist sein dennoch durchgeführter einseitiger Aus‑ und Umzug ‑ auch unter Berücksichtigung der sachlich begründeten Weigerung der Beklagten ‑ jedenfalls als Verschulden iSd § 61 Abs 3 EheG zu qualifizieren.

4.3 Der Beklagten wiederum wäre eine einmal erteilte Zustimmung zum Umzug nicht zwingend als Verschulden anzulasten, zumal ein Ehegatte von einer einvernehmlichen Gestaltung aus gewichtigen Gründen wieder abgehen kann (§ 91 Abs 2 ABGB; vgl RIS‑Justiz RS0009470).

5. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht daher weitere Feststellungen über die letzte Phase vor der Auflösung der Lebensgemeinschaft zu treffen und damit Tatsachengrundlagen zu schaffen haben, die die umfassende Beurteilung des Verhaltens beider Streitteile und deren Auswirkung auf den Eintritt der unheilbaren Zerrüttung der Ehe der Streitteile ‑ insbesondere im Zusammenhang mit dem Hausbau und dem Umzug nach G***** - ermöglichen.

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