OGH 8Ob1/15b

OGH8Ob1/15b23.1.2015

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Prof. Dr.

Spenling als Vorsitzenden und durch die Hofrätin Dr. Tarmann‑Prentner, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Brenn, sowie die Hofrätin Dr. Weixelbraun‑Mohr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei L***** E*****, vertreten durch Dr. Peter Eigenthaler, Rechtsanwalt in Lilienfeld, gegen die beklagte Partei M***** G*****, vertreten durch Mag. Egmont Neuhauser, Rechtsanwalt in Scheibbs, wegen Aufhebung eines Kaufvertrags und Zahlung von 3.775 EUR sA, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Berufungsgericht vom 11. September 2014, GZ 21 R 217/14s‑12, womit die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Bezirksgerichts Scheibbs vom 26. Juni 2014, GZ 2 C 544/14h‑8, zurückgewiesen wurde, in nichtöffentlicher Sitzung folgenden

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0080OB00001.15B.0123.000

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Das Erstgericht wies mit seinem Urteil das Klagebegehren zur Gänze ab. Die den Parteien zugestellten Urteilsausfertigungen wichen allerdings von der im Akt erliegenden, vom Erstrichter unterfertigten Urschrift des Urteils in mehrfacher Hinsicht gravierend ab. Unter anderem wurde nach dem Wortlaut der Ausfertigung über einen Teil des Klagehauptbegehrens (Zahlungsbegehren) nicht entschieden.

Das Berufungsgericht wies mit dem angefochtenen Beschluss die vom Kläger erhobene Berufung als unzulässig zurück und sprach aus, dass die den Parteien zugestellte Urteilsausfertigung als nicht gefälltes Urteil anzusehen sei. Offenbar versehentlich sei den Parteien eine im Spruch wie in den Entscheidungsgründen von der Urschrift erheblich abweichende Ausfertigung zugestellt worden. Die Urteilsausfertigung enthalte daher eine andere Entscheidung als die tatsächlich vom Erstrichter gewollte, sodass es sich dabei um ein Scheinurteil (Nichturteil) handle. Das Erstgericht werde in weiterer Folge mit der Urschrift übereinstimmende Ausfertigungen iSd § 419 Abs 1 ZPO an die Parteien zuzustellen haben; erst mit der Zustellung werde die Rechtsmittelfrist in Gang gesetzt. Das vorliegende Rechtsmittel müsse komplett durch ein neues ersetzt werden.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der vom Beklagten beantwortete Rekurs des Klägers.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist gemäß § 519 Abs 1 Z 1 ZPO zulässig; er ist auch berechtigt.

I. Von einem sogenannten Nichturteil (zum Begriff: Rechberger 4 ZPO, Vor § 390 Rz 38) - gegen eine derartige „Nichtentscheidung“ kann kein Rechtsmittel erhoben werden (RIS‑Justiz RS0041902) ‑ kann hier keine Rede sein: Das Erstgericht hat mit seinem in Urschrift im Akt erliegenden Urteil eine in jeder Hinsicht formgültige Entscheidung gefällt.

Allerdings wurden den Parteien von der Urschrift abweichende Urteilsausfertigungen zugestellt. Die Gültigkeit und Wirksamkeit des vom Erstgericht gefällten Urteils wird dadurch aber in keiner Weise in Frage gestellt. Nur die Urschrift der Entscheidung ist für deren Überprüfung maßgebend (RIS‑Justiz RS0119273; RS0098513; 3 Ob 24/13w).

II. Abweichungen zwischen der Urschrift und den Ausfertigungen gerichtlicher Entscheidungen sind iSd § 419 ZPO durch Berichtigung der Ausfertigung zu beseitigen, die ohne Rücksicht darauf zulässig ist, ob die Abweichungen für die Parteien offenkundig sind (RIS‑Justiz RS0041601; RS0041530). Bei solchen Abweichungen handelt es sich nicht um Divergenzen zwischen dem Entscheidungswillen und der erklärten Entscheidung, sondern lediglich um eine Nichtübereinstimmung der bereits in Form der Urschrift vorliegenden Entscheidung und der darauf beruhenden Ausfertigung (9 ObA 14/01a; M. Bydlinski in Fasching/Konecny² § 419 ZPO Rz 10).

III. Die Berichtigung der von der Urschrift abweichenden Ausfertigung kann dadurch erfolgen, dass den Parteien die mit der Urschrift übereinstimmenden Ausfertigungen zusammen mit dem Berichtigungsbeschluss zugestellt werden (1 Ob 140/13i).

IV. Wenn ‑ wie im Fall der hier erforderlichen Berichtigung ‑ durch die Berichtigung des Urteils eine zweifelhafte bzw neue Lage herbeigeführt wird, kann die Partei ihre bereits gegen das unberichtigte Urteil erhobene Berufung nicht nur durch einen weiteren Berufungsschriftsatz ergänzen (in welchem Falle beide Schriftsätze dann als Einheit aufzufassen wären), sondern auch das ursprünglich eingebrachte Rechtsmittel ersetzen (2 Ob 180/06v; SZ 65/116).

V. Das Berufungsgericht hätte daher die Berufung nicht zurückweisen dürfen. Vielmehr wird es zunächst die Berichtigung der den Parteien zugestellten Urteilsausfertigungen anordnen müssen. Nach Rechtskraft des Berichtigungsbeschlusses wird dem Kläger Gelegenheit zu geben sein, seine bereits erhobene Berufung zu ergänzen oder durch eine neue zu ersetzen.

Unter den hier gegebenen Umständen wird auch dem Beklagten Gelegenheit zu geben sein, seine Berufungsbeantwortung zu ergänzen oder auszutauschen. Erst dann kann über die Berufung entschieden werden.

Dem Rekurs war daher Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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