OGH 14Os78/14y

OGH14Os78/14y16.12.2014

Der Oberste Gerichtshof hat am 16. Dezember 2014 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann in Gegenwart der Richteramtsanwärterin MMag. Spunda als Schriftführerin in der Strafsache gegen Stefka D***** wegen des Verbrechens des grenzüberschreitenden Prostitutionshandels nach § 217 Abs 2 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 25. März 2014, GZ 041 Hv 77/13m‑54, in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Leitner, der Angeklagten Stefka D***** und ihrer Verteidigerin Dr. Scheimpflug zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0140OS00078.14Y.1216.000

 

Spruch:

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Unterbleiben der rechtlichen Unterstellung des zum Schuldspruch B festgestellten Sachverhalts auch unter §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 3

StGB, demgemäß auch im Strafausspruch (einschließlich der Vorhaftanrechnung)

aufgehoben und in der Sache selbst erkannt:

Stefka D***** hat von 7. bis 12. Jänner 2013 in W***** im einverständlichen Zusammenwirken mit den abgesondert verfolgten Mittätern Fatma A*****, Minko Y***** und Asya R***** durch den Einsatz der zu B/1‑5 genannten unlauteren Mittel versucht, Ivanka I***** mit Gewalt und durch gefährliche Drohung zur Prostitution zu veranlassen.

Sie hat hiedurch das Verbrechen der schweren Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 3 dritter Fall StGB begangen und wird hiefür sowie für die ihr weiterhin zur Last liegenden Verbrechen des grenzüberschreitenden Prostitutionshandels nach § 217 Abs 2 StGB und des Menschenhandels nach § 104a Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB unter Anwendung des § 28

Abs 1 StGB nach §

217 Abs 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Mit ihrer Berufung wird die Staatsanwaltschaft hierauf verwiesen.

Die Vorhaftanrechnung wird dem Landesgericht für Strafsachen Wien überlassen.

Der Angeklagten fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Stefka D***** ‑ soweit für das Verfahren über die Nichtigkeitsbeschwerde relevant, abweichend von der zusätzlich auf einen Schuldspruch auch wegen des Verbrechens der schweren Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 3 StGB gerichteten Anklage ‑ der Verbrechen des grenzüberschreitenden Prostitutionshandels nach § 217 Abs 2 StGB (A) sowie des Menschenhandels nach § 104a Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB (B) schuldig erkannt.

Danach hat sie die bulgarische Staatsangehörige Ivanka I*****

(A) am 7. Jänner 2013 in C*****, Bulgarien, mit dem Vorsatz, dass sie in einem anderen Staat als dem, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt oder in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, der Prostitution nachgehe, durch Täuschung über Tatsachen über dieses Vorhaben dazu verleitet, sich in einen anderen Staat, nämlich Österreich, zu begeben, indem sie ihr wahrheitswidrig eine Beschäftigung als Altenpflegerin in Aussícht stellte und sie so veranlasste, von Bulgarien nach Österreich zu reisen;

(B) von 7. Jänner 2013 bis 12. Jänner 2013 in W***** im Rahmen einer kriminellen Vereinigung mit dem Vorsatz, dass sie sexuell und in ihrer Arbeitskraft durch Prostitutionsausübung ausgebeutet werde, unter Einsatz unlauterer Mittel, nämlich

‑ im einverständlichen Zusammenwirken mit den abgesondert verfolgten Mittätern Fatma A*****, Minko Y***** und Asya R***** durch Einsatz von Gewalt und durch gefährliche Drohung, indem sie selbst die Genannte am 7. Jänner 2013 unmittelbar nach der Ankunft in W***** an den Haaren packte, ihren Kopf schüttelte und sie schreiend zur Prostitutionsausübung aufforderte (1), in den Folgetagen sie selbst sowie Fatma A***** (unmittelbar) und Minko Y***** (mehrfach telefonisch) gefährliche Drohungen gegen Ivanka I***** und deren Familie äußerten (2), Fatma A***** im Beisein der Angeklagten der Genannten für den Fall der weiteren Verweigerung der Prostitutionsausübung androhte, sie an einen „sehr bösen Mann“ weiter zu verkaufen (3), die Angeklagte selbst und Fatma A***** der Ivanka I***** die Versorgung mit Essen, Trinken und Warmwasser verweigerten und diese von ihrer Bereitschaft zur Prostitutionsausübung abhängig machten (4), Asya R***** die Genannte auf der Straße beaufsichtigte, sie zur Prostitutionsausübung aufforderte, sie dabei an den Haaren riss und äußerte: „Wenn du nicht arbeiten willst, werde ich dich entweder verkaufen oder es wird dir leid tun, dass du überhaupt geboren bist“ (5), sowie

unter Ausnützung einer Autoritätsstellung als ihre ältere Verwandte,

unter Ausnützung einer Zwangslage, in der sich die Genannte in Österreich ohne jede Arbeitsmöglichkeit und jegliches soziales Umfeld befand, und

durch Einschüchterung

beherbergt, indem sie Ivanka I***** dazu veranlasste, in der von ihr und Fatma A***** gemeinsam bewohnten Wohnung Quartier zu nehmen.

Text

Begründung: Schwaighofer in WK² StGB § 106 Rz 33; so auch Nimmervoll SbgK § 104a Rz 108, der §§ 105 ff StGB infolge „Spezialität“ als „konsumiert“ erachtet, hiezu jedoch auf eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs [11 Os 4/95] verweist, die den nicht vergleichbaren Fall des Zusammentreffens von § 105 StGB mit auf Sexualakte gerichteten Nötigungen nach §§ 201 ff StGB behandelt).

Ein Zurücktreten von § 106 Abs 1 Z 3 StGB gegenüber § 104a StGB aufgrund stillschweigender Subsidiarität scheidet schon aufgrund des Charakters des Verbrechens des Menschenhandels als Vorbereitungsdelikt zur eigentlichen Ausbeutung sowie zur ‑ gleichzeitig normierten - Qualifikation des § 106 Abs 1 Z 3 StGB (vgl erneut ErläutRV 294 BlgNR 22. GP 11 ff; Fabrizy, StGB11 § 104a Rz 2) aus (Ratz, WK² StGB Vor §§ 28‑31 Rz 44).

Konsumtion erfordert wiederum ‑ anders als Subsidiarität, bei der es nur auf das abstrakte Verhältnis der strafbaren Handlungen zueinander ankommt ‑ zusätzlich die Berücksichtigung der konkreten Umstände des Tatgeschehens, setzt also ein kriminologisches Naheverhältnis voraus, von dem angenommen werden kann, der Gesetzgeber habe es bei Aufstellung der Strafsätze berücksichtigt (Ratz in WK² StGB Vor §§ 28‑31 Rz 57 mwN).

Wird ‑ wie im vorliegenden Fall ‑ das Opfer durch den Einsatz einer Reihe von unlauteren Mitteln des § 104a Abs 2 StGB (darunter auch Gewalt und gefährliche Drohung) nicht nur ‑ im Vorfeld der Ausbeutung ‑ zur Duldung einer der von § 104a StGB genannten Verhaltensweisen veranlasst, sondern ‑ tateinheitlich - zusätzlich versucht, dieses durch Gewalt und gefährliche Drohung zur Prostitution zu nötigen, kann schon aufgrund der damit verbundenen weitergehenden Rechtsgutbeeinträchtigung und des solcherart gesteigerten Unwertgehalts der Handlung nicht ‑ soweit hier wesentlich ‑ von einer „typischen Begleittat“ die Rede sein (vgl dazu Ratz in WK² StGB Vor §§ 28‑31 Rz 58, RIS-Justiz RS0124022, RS0090829, RS0091453, RS0091710 [T1]), womit auch Verdrängung durch den Scheinkonkurrenztypus der Konsumtion nicht in Betracht kommt.

Wie der Vollständigkeit halber festzuhalten ist, ist umgekehrt auch eine ‑ aufgrund des Verhältnisses von Vorbereitungsdelikt zum Versuch des vorbereiteten Delikts allenfalls indizierte (Ratz in WK² StGB Vor §§ 28‑31 Rz 30; vgl RIS‑Justiz RS0113820 [T7]) ‑ Verdrängung von § 104a StGB durch §§ 105, 106 Abs 1 Z 3 StGB nicht anzunehmen, weil durch die mit Gewalt und gefährliche Drohung bewirkte Veranlassung des Tatopfers zur Prostitution der deliktsspezifische Ausbeutungsvorsatz im Sinn des § 104a StGB gerade nicht umgesetzt wird (vgl Ratz in WK² StGB Vor §§ 28‑31 Rz 37, 44; RIS‑Justiz RS0090566; vgl auch RIS‑Justiz RS0087766).

Somit war in Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt zu bleiben hatte, im Unterbleiben der rechtlichen Unterstellung des zum Schuldspruch B festgestellten Sachverhalts auch unter §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 3

StGB, demgemäß auch im Strafausspruch

aufzuheben und wie aus dem Spruch ersichtlich zu erkennen.

Bei der damit notwendig gewordenen Strafneubemessung waren als erschwerend das Zusammentreffen von drei Verbrechen sowie die Kumulation zahlreicher unlauterer Mittel des § 104a Abs 2 StGB und der Einsatz beider Nötigungsmittel des § 105 StGB zu werten, als mildernd dagegen der bisher ordentliche Lebenswandel der Angeklagten, sowie der Umstand, dass es hinsichtlich der Nötigung zur Prostitution beim Versuch geblieben ist, sodass eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten dem Unrechtsgehalt der Taten und der Schuld der Angeklagten entspricht.

Die Staatsanwaltschaft war mit ihrer Berufung hierauf zu verweisen.

Über die Anrechnung der Vorhaft (§ 38 StGB) hat gemäß § 400 StPO der Vorsitzende des Erstgerichts mit Beschluss zu entscheiden.

Der Ausspruch über die Kostenersatzpflicht beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

Rechtliche Beurteilung

Gegen dieses Urteil richtet sich die aus dem Grund der Z 10 des § 281 Abs 1 StPO zum Nachteil der Angeklagten erhobene Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft, die die rechtliche Unterstellung des zum Schuldspruch B festgestellten Sachverhalts auch unter §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 3 StGB anstrebt.

Soweit im Verfahren über die Nichtigkeitsbeschwerde relevant stellten die Tatrichter neben der ‑ dem zusammenfassenden Referat der entscheidenden Tatsachen im

Erkenntnis (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO) entsprechenden ‑ Konstatierung der zu B/1 bis 5 geschilderten Gewalthandlungen und der gefährlichen Drohungen (US 6 ff) ‑ zusammengefasst ‑ fest, dass die Angeklagte ihre (volljährige) Nichte Ivanka I***** im Rahmen einer kriminellen Vereinigung in der Absicht, dass sie sexuell und in ihrer Arbeitskraft durch Prostitutionsausübung ausgebeutet werde, unter Einsatz unlauterer Mittel beherbergte, indem sie die Genannte bewusst und gewollt unter Ausnützung ihrer Autoritätsstellung als ältere Verwandte, unter Ausnützung einer Zwangslage, in der sich das Tatopfer in Österreich ohne Arbeitsmöglichkeit befand, sowie durch Einschüchterung dazu veranlasste, in der von ihr und der abgesondert verfolgten Fatma A***** gemeinsam bewohnten Wohnung Quartier zu nehmen, wobei sie um eine schwere Krankheit des Vaters ihrer Nichte wusste und diese Informationen auch an andere „Gruppenmitglieder“ weitergab, damit auch diese Ivanka I***** mit dem Argument dieser Erkrankung einschüchtern und sie und ihre Familie bedrohen konnten (US 9 f).

Im Anschluss daran traf das Erstgericht folgende Feststellungen (US 10):

„Womit die Angeklagte während der Zeit der Beherbergung I*****s allerdings nicht rechnete, war, dass sich diese standhaft weigern würde, der Prostitution nachzugehen. Sofort nach Ankunft in W***** sowie in den Folgetagen setzte die Angeklagte daher bewusst und gewollt Gewalt ein und bedrohte I***** allein und im Zusammenwirken mit anderen Mitgliedern der Tätergruppe. Die Angeklagte handelte dabei den gesamten Tatzeitraum über in der Absicht, sich den Einfluss über ihre Nichte zu erhalten und weiterhin mit ihr zu wohnen, um zu kontrollieren, dass sie der Prostitution nachgehe. Ihre Aufgabe war es, I***** in W***** zu beherbergen, diese (teilweise gemeinsam mit A*****) zum Straßenstrich zu begleiten bzw. wieder in die Wohnung zu bringen und aufzupassen, dass sie nicht flüchtete. ... Dabei kam es der Angeklagten besonders darauf an, I***** streng zu maßregeln, zu beschimpfen, zu bedrohen und mit körperlicher Gewalt gegen sie vorzugehen, um sie dadurch weiter zur Prostitutionsausübung unter ausbeuterischen Bedingungen zu zwingen.“

Das Unterbleiben der rechtlichen Unterstellung des festgestellten Täterverhaltens auch unter §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 3

StGB begründete das Erstgericht damit, dass „die Drohungen und Gewalt“ gegen Ivanka I***** „einzig dem Erhalt der Herrschaft über sie (dienten) und um sie im Sinne des erweiterten Vorsatzes des § 104a StGB zur Prostitutionsausübung zu bewegen“. Dieser Zweck sei „von der Strafdrohung des Menschenhandels bereits erfasst. Eine Bestrafung der Tathandlungen auch als (versuchte) schwere Nötigung nach § 106 Abs 1 Z 3 StGB wäre ein Wertungswiderspruch und würde dem Doppelverwertungs-verbot widersprechen.“ Unter Berufung auf zwei Kommentarstellen (Schwaighofer in WK² StGB § 106 Rz 33; Nimmervoll SbgK § 104a Rz 108) vertrat der Schöffensenat die Ansicht, der unter Einsatz von Gewalt oder gefährlicher Drohung begangene Menschenhandel (§ 104a Abs 3 idF vor BGBl I 2013/116, nunmehr § 104a Abs 1 StGB) sei ein Sonderfall der schweren Nötigung und verdränge §§ 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 3 StGB (US 14).

Der Oberste Gerichtshof hat der Angeklagten, die in ihrer Gegenausführung zur Nichtigkeitsbeschwerde und zur Berufung der Staatsanwaltschaft keine Einwände im Sinn der Z 2 bis 5a des § 281 Abs 1 StPO gegen die oben zitierten Urteilsfeststellungen erhoben hatte, obwohl ihr dies offen stand (Ratz, WK‑StPO § 285 Rz 14), vor dem Gerichtstag noch eine Frist für das deutliche und bestimmte Vorbringen solcher Einwände eingeräumt.

Derartige Mängel oder erhebliche Bedenken wurden weder in der von der Angeklagten erstatteten Äußerung aufgezeigt noch haben sie sich aus der amtswegigen Prüfung durch den Obersten Gerichtshof ergeben, womit die Urteilsannahmen dem Erkenntnis zugrunde gelegt werden konnten (Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 415).

Der Nichtigkeitsbeschwerde kommt Berechtigung zu:

Zutreffend weist die Staatsanwaltschaft zunächst darauf hin, dass die Tatrichter mit den oben wörtlich wiedergegebenen Konstatierungen ‑ auch unter Berücksichtigung der zitierten, dazu angestellten rechtlichen Erwägungen ‑ unmissverständlich ihre Überzeugung zum Ausdruck brachten, dass sowohl der festgestellte Einsatz von Gewalt als auch die gefährlichen Drohungen nach der Intention der Angeklagten nicht (zu ergänzen: nur) dem Zweck dienten, die Beherbergung der Ivanka I***** zu begründen oder aufrecht zu halten, sondern darüber hinaus auch erfolgten, um diese zur Prostitution zu veranlassen, was alleine aufgrund ihrer beharrlichen Weigerung unterblieb (US 2 bis 8). Damit enthalten die Entscheidungsgründe eine ausreichende Sachverhaltsgrundlage für die rechtliche Unterstellung des Täterverhaltens auch nach §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 3 dritter Fall StGB.

Weil Exklusivität als Begründung für die Subsumtion bloß unter einen der in Rede stehenden Tatbestände ‑ zufolge in § 104a Abs 1 und §§ 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 3 StGB enthaltener übereinstimmender, demnach gerade nicht (wie für Exklusivität erforderlich) widerstreitender Merkmale ‑ ausscheidet, käme Verdrängung nur im Wege von Scheinkonkurrenz in Betracht (Ratz in WK² StGB Vor §§ 28‑31 Rz 3 ff, 26, 81).

Die Annahme des vom Erstgericht herangezogenen Scheinkonkurrenztypus der Spezialität setzt voraus, dass zwei strafbare Handlungen im Verhältnis von Gattung und Art stehen, eine also sämtliche Merkmale der anderen und dazu noch mindestens ein weiteres ‑ spezielles ‑ Merkmal enthält („lex specialis derogat legi generali“; Ratz in WK² StGB Vor §§ 28‑31 Rz 32 mwN; RIS‑Justiz RS0091146; vgl auch Seiler SbgK § 106 Rz 47).

Zwar trifft es zu, dass der unter Einsatz von Gewalt oder gefährlicher Drohung begangene Menschenhandel (§ 104a Abs 1 StGB) ein Sonderfall der Nötigung (§ 105 StGB) ist, und dass sich allgemein die Spezialität der selbständigen Abwandlung in der Regel auch auf die Qualifikation des Grunddelikts erstreckt, wenn eine unselbständige Qualifizierung eines Grundtatbestands (hier: § 106 Abs 1 Z 3 StGB) mit dessen selbständiger Abwandlung zusammentrifft (Ratz in WK² StGB Vor §§ 28‑31 Rz 35 mwN).

Annahme von Spezialität im Verhältnis von § 104a Abs 1 StGB und der ‑ die gleiche Strafdrohung aufweisenden ‑ Qualifikation des § 106 Abs 1 Z 3 StGB würde aber voraussetzen, dass erstere auch die in der zweitgenannten Bestimmung genannte Nötigung meint, was ‑ wie die Staatsanwaltschaft mit Recht hervorhebt - gerade nicht der Fall ist:

§ 104a Abs 1 StGB pönalisiert nämlich überwiegend als solche neutrale oder sozialadäquate Verhaltensweisen, etwa ‑ wie hier ‑ die Beherbergung des Tatopfers, unter der Voraussetzung, dass sie mit dem Vorsatz (späterer) ‑ soweit hier wesentlich sexueller ‑ Ausbeutung sowie unter Einsatz unlauterer Mittel (Abs 2; hier: Gewalt und gefährliche Drohung, Ausnützung einer Autoritätsstellung und einer Zwangslage sowie Einschüchterung) begangen werden. Die Bestimmung bezieht sich demnach auf Verhalten im Vorfeld der eigentlichen Ausbeutung und zwar unabhängig davon, ob es später tatsächlich zu der im Zeitpunkt der Handlung intendierten Ausbeutung kommt und ob der nach dieser Bestimmung strafbare Täter die betroffene Person selbst auszubeuten oder sie der Ausbeutung durch einen Dritten zuzuführen gedenkt (ErläutRV 294 BlgNR 22. GP 11 ff).

Der Täter nach § 106 Abs 1 Z 3 StGB nötigt das Opfer demgegenüber mit Gewalt oder gefährlicher Drohung zur tatsächlichen Ausübung der Prostitution, was nach dem Vorgesagten von § 104a StGB gerade nicht umfasst ist, wenn auch die zur Erreichung des Ziels eingesetzten Nötigungsmittel einzelnen der in § 104a Abs 2 StGB genannten unlauteren Mittel entsprechen. Somit zeigt in diesem Fall die Auslegung, dass die Annahme von Spezialität nicht in Frage kommt (für diese ohne eingehendere

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