OGH 12Os116/14x

OGH12Os116/14x23.9.2014

Der Oberste Gerichtshof hat am 23. September 2014 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel und Dr. Michel-Kwapinski als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin MMag. Alice Spunda als Schriftführerin, in dem beim Landesgericht St. Pölten zu AZ 36 Hv 25/13b anhängigen Verfahren zur Unterbringung des Dr. Harald S***** über die Grundrechtsbeschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 11. August 2014, AZ 20 Bs 264/14s (ON 46 in den Hv-Akten), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0120OS00116.14X.0923.000

 

Spruch:

 

In Stattgebung der Grundrechtsbeschwerde und aus deren Anlass wird festgestellt, dass Dr. Harald S***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt wurde.

Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

Dem Bund wird der Ersatz der mit 800 Euro zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer bestimmten Beschwerdekosten auferlegt.

Gründe:

Rechtliche Beurteilung

Mit dem angefochtenen Beschluss ordnete das Oberlandesgericht Wien anlässlich der Entscheidung über den Einspruch des Betroffenen gegen den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Unterbringung des Betroffenen in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB (§ 214 Abs 3 iVm § 429 Abs 1 StPO) wegen der Haftgründe der Fremdgefährlichkeit und der Tatbegehungsgefahr erneut die Fortsetzung der Anhaltung gemäß § 429 Abs 4 StPO iVm § 173 Abs 2 Z 3 lit c StPO an.

Rechtlich nahm es in Bezug auf die Verdachtslage ein für den Fall der Zurechnungsfähigkeit als Vergehen des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15 Abs 1, 269 Abs 1 dritter Fall StGB, der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 2 Z 4 StGB und des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15 Abs 1, 269 Abs 1 erster Fall StGB zu beurteilendes Verhalten des Betroffenen an.

Bei dem als dringlich eingestuften Tatverdacht ging es mit höhergradiger Wahrscheinlichkeit davon aus, dass der drei einschlägige Vorverurteilungen wegen § 83 Abs 1 StGB aufweisende Dr. Harald S***** am 22. April 2014 in St. P***** unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB), der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad, nämlich einer anhaltenden wahnhaften Störung mit hoher Wahndynamik beruht, die Polizeibeamten Michael W***** und Wilhelm P***** mit Gewalt an einer Amtshandlung, und zwar der polizeilichen Vorführung zum Vollzug einer Verwaltungsstrafe und in der Folge an seiner Festnahme, zu hindern versuchte, indem er die Eingangstüre gegen die Beamten stieß und sich in massiver Weise körperlich der Festnahme widersetzte und dabei Michael W*****, somit einen Beamten während der Vollziehung seiner Aufgaben und Erfüllung seiner Pflichten am Körper verletzt habe, wodurch der Genannte Hautabschürfungen erlitt. Überdies ging das Beschwerdegericht davon aus, dass der Betroffene am 20. März 2013 in St. P***** im Rahmen des Vollzugs einer Fahrnisexekution versucht habe, mehrere Polizeibeamte des Stadtpolizeikommandos St. P***** mit einer gefährlichen Drohung durch Zugehen und Erheben einer Rohrzange an einer Amtshandlung, nämlich der Öffnung der Tür und dem Vollzug der Fahrnisexekution zu hindern.

Gestützt auf das Gutachten des Sachverständigen Prim. DI Dr. med. Werner B***** und dessen Ausführungen in der Haftverhandlung vom 30. Juli 2014, wonach als Tatfolgen auch schwere Körperverletzungen zu befürchten seien (ON 28, ON 40, ON 42 S 9 ff) bejahte das Oberlandesgericht das Vorliegen konkreter Indizien zur qualifizierten Annahme der Gefahr der Begehung weiterer strafbarer Handlungen mit schweren Folgen (BS 7).

Der Beschwerdeführer bringt inhaltlich vor, dass aus den (insgesamt drei) Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts keine konkreten Anhaltspunkte für die Annahme einer Befürchtung zu gewinnen seien, Dr. Harald S***** werde auch künftig mit Strafe bedrohte Handlungen mit schweren Folgen begehen (dSn § 281 Abs 1 Z 5 vierter Fall StPO iVm § 10 GRBG).

Im angefochtenen Beschluss wird zur Gefährlichkeitsprognose ausgeführt, dass eine gesteigerte Verdachtslage bestehe, wonach mit einer „hohen Wahrscheinlichkeit ähnliche Aggressionshandlungen wie in der Vergangenheit verübten bzw die verfahrensgegenständlichen, auch mit schweren Folgen zu erwarten seien“ (BS 7). Ergänzend dazu wird festgehalten, dass zu befürchten sei, dass Dr. Harald S***** auch künftigen Vorgehen einer Behörde „Widerstand in Form von Aggressionshandlungen entgegensetzt, in deren Verlauf auch schwere Körperverletzungen möglich wären“ (BS 8).

Zur Gefährlichkeitsprognose iSd § 21 StGB genügt die bloß hypothetisch-abstrakte Besorgnis einer (durch die höhergradige seelische Abartigkeit des Betroffenen bedingten) Tatwiederholung nicht. Eine solche Besorgnis muss vielmehr zu einer real-konkreten Befürchtung verdichtet sein, also mit so hoher Wahrscheinlichkeit vorliegen, dass bei realistischer Betrachtung mit ihrer Aktualität als naheliegend zu rechnen ist (RIS-Justiz RS0090401; Leukauf-Steininger Komm3 § 21 Rz 12). Eine bloß abstrakt-hypothetische Möglichkeit genügt insoweit ebensowenig wie eine bloß geringe Wahrscheinlichkeit (Ratz in WK2 StGB Vorbem zu §§ 21 bis 25 Rz 4).

Zur Prognose führte der beigezogene psychiatrische Sachverständige zusammengefasst Folgendes aus:

Zunächst besteht beim Betroffenen ein „erhöhtes Rückfallrisiko, sodass insgesamt ein keineswegs unerhebliches Risiko neuerlicher analoger Handlungen“ auszugehen ist. Es sind daher „auch in Zukunft bei unvermeidlichen Konflikten mit Behörden ähnliche (wie die inkriminierten) Verhaltensweisen bis hin zu abwehrenden Tätlichkeiten zu befürchten“ (Gutachten ON 28 S 75 und Ergänzungsgutachten ON 40 S 3). „Die bisherigen Verhaltensweisen in Konflikten weisen jedoch darauf hin, dass auch hier Dr. S***** hinsichtlich des Ausmaßes seiner Gewaltbereitschaft zwar zu einem sozial höchst inadäquaten, auch verbotenen, nicht aber zu einem völlig die Kontrolle verlierenden Verhalten gegriffen hat“ (ON 40 S 5). „Angesichts der Art seiner Störung wäre ein derartiges plötzliches Hervorbrechen unkontrollierter, unkontrollierbarer Wut zwar möglich, aber angesichts der bisherigen Verhaltensweisen nicht notwendiger Weise sehr wahrscheinlich“ (ON 40 S 7).

Weiters hielt der Gutachter bei der mündlichen Befragung anlässlich der Haftverhandlung am 30. Juli 2014 fest, dass es „psychiatrisch nicht unwahrscheinlich ist“, dass der Beschwerdeführer bei Auseinandersetzungen seinem Kontrahenten einen Stoß versetzt, der zu einem Sturz und einen nachfolgenden Knochenbruch führt, solche Verletzungen daher durchaus möglich sind, weil man „so etwas nie ausschließen kann“ (ON 42 S 3) und dass bei Auseinandersetzungen des Betroffenen mit Behörden „natürlich auch entsprechend schwere Verletzungen auftreten können“ (ON 42 S 4) sowie dass der Sachverständige eine „Tendenz der Eskalation“ bei Dr. Harald S***** oder eine Verstärkung seiner Gewaltbereitschaft aus den vorliegenden Informationen nicht ableiten könne (ON 42 S 5).

Dem Rechtsmittelwerber ist ‑ sofern man dem angefochtenen Beschluss die Konstatierung einer hohen Wahrscheinlichkeit, Dr. Harald S***** werde auch künftig mit Strafe bedrohte Handlungen mit schweren Folgen begehen, entnehmen kann ‑ beizupflichten, dass aus dieser Expertise der Auffassung des Beschwerdegerichts zuwider lediglich eine hohe Wahrscheinlichkeit abermaliger aggressiver Vorgangsweisen des Betroffen, nicht aber auch auf die vom Gesetz geforderte gesteigerte Befürchtung im Sinn einer hohen Wahrscheinlichkeit der Verursachung schwerer Tatfolgen (Ratz in WK2 StGBVorbem zu §§ 21 bis 25 Rz 4; Fabrizy, StGB11 § 21 Rz 6) abgeleitet werden kann.

Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass das Oberlandesgericht in diesem Haftfortsetzungsbeschluss ausdrücklich nur den Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit c StPO annahm (BS 10 f), obgleich in dieser Entscheidung ‑ wie bereits dargelegt ‑ zutreffend (vgl Ratz in WK2 StGB§ 21 Rz 27) ausgeführt wurde, dass schwere Folgen iSd § 21 StGB mit jenen des § 173 Abs 2 Z 3 lit a StPO vergleichbar sein müssen (BS 9). In diesem Zusammenhang verweist der Beschwerdeführer zu Recht auch darauf, dass auch in der im damals noch getrennt geführten Verfahren 12 HR 71/14x des Landesgerichts St. Pölten (nunmehr ON 31) gefassten Vorentscheidung des Oberlandesgerichts Wien vom 21. Mai 2014, AZ 17 Bs 151/14a, 17 Bs 165/14k, 17 Bs 169/14y, zu den Haftgründen in Kenntnis des bereits zu AZ 36 Hv 25/13b des Landesgerichts St. Pölten anhängigen Verfahrens lediglich jener der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit c StPO angenommen und jener nach § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO „noch“ ausgeschlossen worden war (ON 25 in ON 31 BS 9).

Des Weiteren hielt das Beschwerdegericht in der angefochtenen Entscheidung fest, dass im Hinblick auf den auch angenommenen Unterbringungsgrund der Fremdgefährdung die Befürchtung, der Betroffene werde eine Tat mit schweren Folgen begehen, nicht notwendig ist (BS 11).

Aus den entsprechenden Beschlusspassagen lässt sich bei verständiger Lesart indes lediglich ableiten, dass das Beschwerdegericht von einer hohen Wahrscheinlichkeit aggressiven Verhaltens des Betroffen ausging, zu einer gesteigerten Befürchtung, Dr. Harald S***** werde auch künftig mit Strafe bedrohte Handlungen mit schweren Folgen begehen, aber keine ausreichenden Feststellungen traf. Insoweit liegt daher auch ein Rechtsfehler mangels Feststellungen zu einer qualifizierten Verdachtslage betreffend eine Prognosetat iSd § 21 Abs 1 StGB vor, der nach §§ 281 Abs 1 Z 11 zweiter Fall, 290 Abs 1 StPO, § 10 GRBG von Amts wegen aufzugreifen ist; vgl 15 Os 55/14y; 12 Os 18/10d.

Bleibt in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass sich der für die Prognose iSd § 21 StGB maßgebliche Begriff der strafbaren Handlung mit schweren Folgen nach der Persönlichkeit des Rechtsbrechers, seinem Zustand im Urteils- bzw (hier maßgeblich) Beschlusszeitpunkt und der Art der Anlasstaten ‑ deren konkrete Umstände daher jedenfalls Berücksichtigung zu finden haben ‑ richtet (Ratz in WK² StGB § 21 Rz 24). Dessen Bedeutungsinhalt deckt sich mit jenem des § 173 Abs 2 Z 3 lit a StPO. Es sind daher nicht nur die tatbestandsmäßigen Folgen, sondern darüber hinaus alle konkreten Tatauswirkungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu berücksichtigen, also Art, Ausmaß und Wichtigkeit aller effektiven Nachteile sowohl für das einzelne Tatopfer als auch für die Gesellschaft im Ganzen, der gesellschaftliche Störwert einschließlich der Eignung, umfangreiche und kostspielige Abwehrmaßnahmen auszulösen und weitreichende Beunruhigung und Besorgnisse herbeizuführen (Ratz in WK² StGB § 21 Rz 27).

Ein aggressiv-gewalttätiger Widerstand und nicht weiter qualifizierte (anders bei der Drohung mit dem Tode; vgl RIS-Justiz RS0116500; 15 Os 55/14y; 14 Os 143/11b) gefährliche Drohungen gegen ihre Aufgaben vollziehende oder ihre Amtspflichten erfüllende Beamte, insbesondere strafbare Handlungen nach §§ 269, 84 Abs 2 Z 4 StGB entsprechen allerdings nicht per se einer Tat mit schweren Folgen (vgl die Ausführungen zu AZ 17 Bs 151/14a, 17 Bs 165/14k, 17 Bs 169/14y des Oberlandesgerichts Wien in ON 25 in ON 31 S 11), und zwar auch dann nicht, wenn daraus ‑ wie fallbezogen ‑ bloß leichte Verletzungen resultieren. Die begründete Besorgnis einer Wiederholung der im vorliegenden Verfahren als Anlasstaten inkriminierten strafbaren Handlungen vermögen daher eine Prognose iSd § 21 Abs 1 StGB nicht zu tragen.

Mit Blick auf diese im angefochtenen Beschluss als Begründung für die Prognoseentscheidung herangezogenen (BS 7) Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen erscheint dem Obersten Gerichtshof die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung erforderlich (§ 7 Abs 1 GRBG), weil unter Zugrundlegung der oben dargestellten Umstände vom Bestehen eines höhergradigen Verdachts einer Prognose iSd § 21 Abs 1 StGB nicht auszugehen war.

Gemäß § 7 Abs 2 GRBG sind die Gerichte verpflichtet, mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln unverzüglich einen der Rechtsauffassung des Obersten Gerichtshofs entsprechenden Zustand herzustellen. Demnach wird der Beschwerdeführer umgehend aus der vorläufigen Anhaltung zu entlassen sein.

Die Kostenersatzpflicht des Bundes gründet sich auf § 8 GRBG.

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