OGH 6Ob189/13g

OGH6Ob189/13g28.11.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S*****, vertreten durch Dr. Johann Sommer, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei S***** T*****, vertreten durch Dr. Reinhard Schäfer, Rechtsanwalt in Wien, wegen Aufkündigung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 14. August 2013, GZ 38 R 244/12g‑19, womit das Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 20. August 2012, GZ 48 C 531/11m‑15, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Erstgerichts wird wiederhergestellt.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 1.067,68 EUR (darin enthalten 122,28 EUR USt und 204 EUR Pauschalgebühr) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin ist Vermieterin, die Beklagte ist Mieterin einer Gemeindewohnung in W*****.

Die Klägerin kündigte der Beklagten das Mietverhältnis (Zustellung der Aufkündigung am 16. 9. 2011) und brachte vor, die Beklagte bzw ihr Vater und ihr Bruder verleideten als Mitbewohner durch ihr rücksichtsloses, anstößiges oder sonst grob ungehöriges Verhalten den Mitbewohnern das Zusammenleben. Sie stellte dieses unleidliche Verhalten im Einzelnen dar. Die von der Beklagten gegen ihren Bruder erwirkten einstweiligen Verfügungen seien wirkungslos geblieben. Sie habe ihn dennoch in ihrer Wohnung wohnen lassen, so auch im Jahr 2011.

Die Beklagte wendete im Wesentlichen ein, sie habe betreffend ihren Bruder mit Alkoholproblem bereits vor Einbringung der Kündigung dafür Sorge getragen, dass Störfälle in Zukunft jedenfalls unterbleiben, sodass eine weitere Gefährdung nicht mehr bestehe. Sollten unerwartet irgendwelche Missstände aufgetreten sein, habe sie jedenfalls sofort dafür gesorgt, dass diese in geeigneter Art und Weise abgestellt bzw aufgeklärt werden.

Das Erstgericht erklärte die Aufkündigung für rechtswirksam und verurteilte die Beklagte zur Räumung der Wohnung. Es stellte folgenden Sachverhalt fest:

Die 1977 geborene Beklagte ist seit 1998 Mieterin der Wohnung, bestehend aus einem Zimmer mit einer Nutzfläche von 29 m².

Bis 2009 wohnte die Beklagte alleine in dieser Wohnung, danach zog ihr Vater zu ihr. Der 1974 geborene Bruder der Beklagten hielt sich zunächst gelegentlich in der Wohnung auf und nächtigte dort, ab Februar 2009 war er an dieser Adresse auch amtlich gemeldet. Zuvor hatte er eine eigene Wohnung bewohnt. Als er seine Wohnung verloren hatte, nahm die Beklagte ihn bei sich auf.

Der Bruder der Beklagten ist Alkoholiker, der bereits mehrfach einen Entzug versuchte, jedoch immer wieder scheiterte. Wegen seines Alkoholkonsums kam es immer wieder zu Konfliktsituationen mit der Beklagten und ihrem Vater, aber auch mit Nachbarn. Der Bruder war zunächst noch als Softwareentwickler tätig, ging tagsüber arbeiten und trank in der Nacht. Wenn er alkoholisiert ist, wird er laut und aggressiv, er schreit herum und wird ausfällig.

Im Jahr 2008 schrie der Bruder beim offenen Fenster der Wohnung hinunter: „Ich hole mir jetzt einen runter. Ich wichse mir jetzt einen.“, was von der Hausbesorgerin wahrgenommen wurde. Er hinterließ weiters im Aufzug des Hauses eine Nachricht, bei der er der Hausbesorgerin vorwarf, ein asozialer Mensch zu sein, weil sie immer die Polizei rufe und er dann die Kosten der Polizeieinsätze tragen müsse.

Im Februar 2009 kam es nach einem Vorfall zu einer Anzeige gegen den Bruder. Er machte eine erste Therapie in Kalksburg und wohnte weiterhin bei der Beklagten. Diese wollte dadurch sichergehen, dass er in der Früh auch tatsächlich zur Therapie fuhr. Die Therapie scheiterte. Der Bruder kehrte zur Beklagten zurück, was neuerlich Spannungen in der Familie und im Haus erzeugte.

Dem Bruder wurde über Antrag der Beklagten mit einstweiliger Verfügung vom 25. 8. 2009 der Aufenthalt in der Wohnung der Beklagten verboten und aufgetragen, das Zusammentreffen und die Kontaktaufnahme mit der Beklagten zu vermeiden; beides für die Dauer von einem Jahr.

Der Beklagten gelang es danach, ihren Bruder zu einer Entzugstherapie nach Ybbs zu bringen. Er blieb dort drei Monate stationär von Oktober bis Dezember 2010. Danach zog er zu einer Freundin nach Floridsdorf, wo er einige Monate wohnte, bis diese ihn schließlich der Wohnung verwies.

Mit Schreiben vom 4. 11. 2010 teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass es wegen übermäßigen Lärms aus ihrer Wohnung zu Mieterbeschwerden gekommen sein solle. Die Beklagte wurde ersucht, die Hausordnung einzuhalten, jeden unnötigen Lärm zu vermeiden und Kontakt mit den Wohnpartnern aufzunehmen, die in einen Nachbarschaftskonflikt schlichtend eingreifen. Die Beklagte persönlich hat dieses Schreiben nicht erhalten. Hätte sie es bekommen, hätte sie sich bei den Wohnpartnern gemeldet um die Angelegenheit abzuklären.

Während der Therapie in Ybbs (Oktober 2010 bis April 2011) wohnte der Bruder nicht bei der Beklagten. Nachdem ihn seine Freundin schließlich der Wohnung verwiesen hatte, stand er wiederum vor der Tür der Beklagten. Er meinte, wenn sie ihn nicht wieder aufnehme, komme er ins Gefängnis. Er beteuerte, mit dem Trinken aufzuhören. Die Beklagte nahm ihn wieder in ihre Wohnung auf, weil sie ihm glaubte, dass er es ernst meine, dem Alkohol abzuschwören.

Der Bruder kam jedoch nicht vom Alkohol weg. Im Mai 2011 kam es dazu, dass er durch den Hof ging, während die Hausbesorgerin von ihrem Balkon hinunter schaute. Er schrie zu ihr hinauf: „S*****, du Fotze, dich kriege ich auch noch!“

Im Mai 2011 fand über die Wohnpartner der Klägerin eine Mediation zwischen der Beklagten und der Hausbesorgerin statt. Diesmal hatte die Beklagte zuvor ein Ersuchen der Klägerin erhalten, sich mit den Wohnpartnern in Verbindung zu setzen, und sie hatte dies auch getan. Vereinbart wurde dort, dass die Beklagte dafür sorgen werde, dass ihr Vater beim Telefonieren das Fenster geschlossen halte, und sie mit der Hausbesorgerin im Gespräch bleiben werde, insbesondere bezüglich aktueller Anliegen und Konflikte. Die Beklagte erkannte erst durch die Mediation den Ernst der Lage, nämlich, dass ihr der Verlust der Wohnung drohte. Sie sah ein, dass sie jeden Kontakt zu ihrem Bruder abbrechen musste, wollte sie die Wohnung nicht verlieren.

Die Beklagte ließ ihren Bruder noch bis Juli 2011 in ihrer Wohnung wohnen und teilte ihm mit, dass er in Zukunft nicht mehr zu ihr kommen dürfe. Der Bruder der Beklagten schaffte es nicht, vom Alkohol weg zu kommen. Es gab in dieser Zeit wiederum diverse Vorfälle aufgrund des Alkoholkonsums und Streitereien mit der Beklagten. Sie verwies ihren Bruder schließlich der Wohnung. Am 30. 8. 2011 meldete sie ihn von ihrer Wohnung ab. Sie änderte auch ihre Telefonnummer. Er kam trotzdem wieder, insbesondere im September und Oktober 2011 kam es zu neuen Konfliktsituationen mit der Familie. Es gab laute Streitereien zwischen der Beklagten, ihrem Bruder und ihrem Vater; tagsüber und manchmal auch nachts.

Auch während er eine Therapie auf der Baumgartner Höhe machte, kam der Bruder wiederholt zur Beklagten, zuletzt im Winter 2011, als er persönliche Sachen von ihr abholte. Er ging davon aus, dass er wieder zur Beklagten kommen könne, was diese jedoch nicht wollte. Sie übergab ihm seine restlichen Sachen außerhalb der Wohnanlage.

Am 8. 3. 2012 versuchte der Bruder der Beklagten erneut, im Stiegenhaus zu übernachten. Er wurde von der Hausbesorgerin auf Stiege 9 entdeckt, wo das Schloss kaputt und ein Zugang möglich war. Sie erkannte ihn zuerst nicht, weil er einen kahl geschorenen Kopf hatte. Sie forderte ihn auf zu gehen und er tat dies zunächst auch. Als die Hausbesorgerin wegging, kehrte er auf die Stiege 9 zurück. Sie sah dies, konnte ihn nicht mehr auffinden und rief die Polizei. Im Stiegenhaus wurden unter anderem ein Rucksack, ein Kapperl, eine Flasche Wein, Pommes frites und Zigaretten des Bruders gefunden. Er selbst wurde bei der Dachbodentür im 5. Stock aufgefunden und von der Polizei mitgenommen. Dies dauerte auf Grund seines starken Alkoholkonsums länger. Die Hausbesorgerin musste im Stiegenhaus die vom Bruder verursachten Verschmutzungen wie Essensreste, Alkoholflecken und Urin entfernen.

In der letzten Märzwoche 2012 kam es erneut zu einem Polizeieinsatz wegen des Bruders der Beklagten. Die Mieterin N***** Ö***** sah eine Person, die sie für einen „Sandler“ hielt, vor dem im Hof der Wohnanlage befindlichen Kindergarten auf einer Bank liegen. Sie hatte Angst und rief die Polizei, die den Bruder wiederum mitnahm. Er war von der Therapie zurückgekehrt, alkoholisiert, hatte keinen Schlafplatz und die Beklagte hatte ihm keinen Einlass gewährt.

Da ihr Bruder immer wieder in die Wohnanlage kam, beantragte die Beklagte erneut die Erlassung einer einstweiligen Verfügung gegen ihn. Mit einstweiliger Verfügung vom 2. 4. 2012 wurde dem Bruder neuerlich der Aufenthalt in der Wohnung und der unmittelbaren Umgebung verboten und ihm aufgetragen, das Zusammentreffen und die Kontaktaufnahme mit der Beklagten zu vermeiden; dies wiederum für die Dauer eines Jahres.

Insgesamt wurde gegen den Bruder der Beklagten seit dem Jahr 2009 (bevor er nach Ybbs zur Therapie ging) bis zum April 2012 viermal ein Betretungsverbot ausgesprochen (am 20. 3. 2009, 26. 4. 2009, 25. 7. 2009 und 2. 4. 2012), zweimal erging eine einstweilige Verfügung gegen ihn. Er befand sich in diesem Zeitraum fünf Mal ‑ erfolglos ‑ in Therapie wegen seines Alkoholismus.

In den Jahren 2009 bis 2011 kam es aufgrund des Verhaltens des Bruders zu mehreren Polizeieinsätzen, allein im Jahr 2011 drei- bis viermal. Die Beklagte ließ ihn zunächst aus Mitleid immer wieder zu sich in die Wohnung, auch nach Erlassung der ersten einstweiligen Verfügung. Seit Sommer 2011 verweigerte sie ihm den Einlass, er kam jedoch trotzdem wieder ins Haus, wenn ihm jemand öffnete, und schrie dann laut auf dem Gang, wenn die Beklagte ihm die Wohnungstüre nicht öffnete. Dies tat er beispielsweise auch zu einem Zeitpunkt nach der Tagsatzung vom 15. 2. 2012. Da er keine andere Unterkunft hatte, schlief er in solchen Fällen auf dem Gang vor der Türe der Beklagten. Er deckte sich teilweise mit dem Schuhabstreifer zu. Er hinterließ Essensreste und Pizzakartons im Stiegenhaus. Gelegentlich saß er im Hof der Wohnanlage, trank Alkohol und unterhielt sich lautstark mit Freunden über seine Situation. Er ließ die leeren Bier- oder Weinflaschen im Hof liegen und urinierte zwischen die dortigen Müllcontainer. Fallweise schlief er auf der Bank im Hof. Die Hausbesorgerin beschimpfte und bedrohte er in den letzten Jahren mehrmals, sie fürchtet sich vor ihm.

D***** Ö***** bewohnt mit seiner Familie die Wohnung unmittelbar neben der Beklagten. Seine 1998 geborene Tochter G***** Ö***** und sein 12‑jähriger Sohn fürchten sich vor dem Bruder der Beklagten. Sie trauen sich nicht, an ihm vorbeizugehen, wenn er vor der Türe der Beklagten am Gang schläft. D***** Ö***** hat Angst, dass seinen Kindern durch den Bruder etwas passieren könnte. Er selbst erschrak, als der Bruder einmal mit geöffnetem Hemd und den Armen über dem Kopf am Gang vor der Wohnung der Beklagten lag und für ihn wie tot aussah.

Zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt gab es einen Vorfall bei einem nahe der Wohnung liegenden Zielpunkt, als G***** Ö***** mit ihrem Bruder auf den Bruder der Beklagten und einen seiner Freunde traf. Dieser Freund drohte Ö*****, er werde sie umbringen, wenn sie um Hilfe schreie. Dies war die Reaktion darauf, dass die Familie Ö***** ihn und den Bruder der Beklagten angezeigt hatten, als sie betrunken gewesen waren.

Zu einem ebenso nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt wollte G***** Ö***** mit ihrer Mutter spazieren gehen, als der Bruder der Beklagten nur mit einer Unterhose bekleidet vor dem Fenster stand. G***** Ö***** hat Angst vor dem Bruder, wenn sie ihn im Hof oder im Stiegenhaus sieht. Sie hat Angst, dass er „etwas machen wird“, wenn er betrunken ist. Sie traut sich nicht, alleine mit dem Lift zur Wohnung zu fahren, da er dort am Gang liegen könnte. Im Dezember 2011 rief sie in ihrer Verzweiflung ihre Nachbarin an und teilte ihr mit, dass der Bruder der Beklagten vor der Türe stehe und sie Angst habe.

In den Jahren 2009 bis 2012 kam es ‑ sofern der Bruder in der Wohnung und alkoholisiert war ‑ regelmäßig zu lautstarken Streitereien mit der Beklagten und dem Vater. Beide stellten den Bruder der Beklagten wegen seines Alkoholkonsums zur Rede und die familiäre Situation war auch im Hinblick darauf, dass die Wohnung nur über ein Zimmer verfügt, äußerst angespannt. Bruder und Vater schrien einander an, wenn die Beklagte „genug“ hatte, schrie sie auch selbst. Zu solchen Streitereien und Schreiereien kam es zu verschiedenen Uhrzeiten, tagsüber und auch nach 22 Uhr sowie gegen 4 Uhr in der Früh. Im Jahr 2011 gab es mindestens zwei bis drei Mal im Monat laute Konversationen nach 22 Uhr.

Die Mieterin Z***** S***** wurde durch diese Schreiereien seit mehreren Jahren in der warmen Jahreszeit durchschnittlich zwei- bis dreimal im Monat in der Nacht aufgeweckt, wenn sie ihre Fenster geöffnet hatte, so auch im Frühling und Sommer 2011. Sie konnte dann nicht mehr einschlafen. In der kalten Jahreszeit hat sie die Fenster in der Nacht geschlossen und nimmt keinen Lärm wahr. Auch die Mieterin E***** G***** wird durch den aus der Wohnung der Beklagten kommenden Lärm aufgeweckt, so auch im Jahr 2012. Sie muss bei solchen Vorfällen auch im Sommer die Fenster schließen, um Ruhe zu haben. Die Familie Ö***** auf Tür 13 unmittelbar neben der Beklagten wird ebenso durch die Schreiereien gestört. Sie tauschten sogar die Zimmer, sodass nunmehr jenes der Eltern an die Wohnung der Beklagten angrenzt und die Kinder nachts ruhig schlafen können, ohne durch Lärm aufgeweckt zu werden. Die Kinder erschraken durch den Lärm, hatten Angst und konnten kaum schlafen. Die Hausbesorgerin, ihr Mann sowie ihr Kind, die drei Stiegen weiter wohnen als die Beklagte, wurden ebenso durch den Lärm gestört und aufgeweckt und mussten deswegen im Sommer die Balkontüre und die Fenster schließen. Im Sommer 2011 wurden sie 10‑15 Mal durch Lärm aus der Wohnung der Beklagten aufgeweckt.

Die Beklagte bemühte sich seit der Mediation im Mai 2011 ernsthaft, ihren Bruder von der Wohnung fernzuhalten, was ihr jedoch nicht gelang. Sie wollte in eine andere Gemeindewohnung wechseln, was seitens der Klägerin nicht möglich war. Aus finanziellen Gründen ist es für die Beklagte nicht möglich, in eine andere Mietwohnung umzuziehen. Sie steht mit der Krisenintervention in Verbindung. Ihr Bruder hat seine Therapie auf der Baumgartner Höhe abgebrochen und ist derzeit obdachlos. Es ist davon auszugehen, dass er die Beklagte wieder aufsuchen und um Unterkunft ersuchen wird.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Vater der Beklagten ebenfalls oft alkoholisiert ist. Er verhält sich Nachbarn gegenüber nicht aggressiv. Er telefonierte laut bei offenem Fenster, wodurch sich Nachbarn gestört fühlten. Von November 2010 bis April 2011 war er im Ausland und daher nicht an Streitereien zwischen seinen Kindern beteiligt. Zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt legte er im Aufzug einer Nachbarin, die sehr viel abgenommen hatte, seine Hände auf und meinte, sie schaue „super“ aus. Sie meinte, er solle die Hände wieder wegnehmen; er tat dies auch. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Vater einer anderen Nachbarin einmal auf die Brust gegriffen und gefragt hat, ob dieser echt sei.

Rechtlich führte das Erstgericht aus, das Verhalten des Bruders der Beklagten in alkoholisiertem Zustand, aber auch das Verhalten der Beklagten selbst, die sich laut an den Streitereien beteiligt habe, verwirklichten in ihrer Gesamtheit den Kündigungsgrund des unleidlichen Verhaltens nach § 30 Abs 2 Z 3 zweiter Fall MRG. Diese Verhaltensweisen seien den benachbarten Mietern nicht länger zumutbar. Aus der Tatsache, dass es der Beklagten in Gesprächen offensichtlich nicht gelungen sei, das alkoholbedingte Fehlverhalten ihres Bruders günstig zu beeinflussen, könne nicht geschlossen werden, dass geeignete Abhilfe überhaupt nicht möglich wäre. Sie habe ihren Bruder auch nach dem Sommer 2011 noch in ihre Wohnung gelassen, wenngleich zuletzt nur damit er seine Sachen abholen habe können. Dadurch habe er jedoch geglaubt, nach wie vor in der Not wieder zu ihr gehen zu können. Trotz Betretungsverboten, einstweiliger Verfügungen, neuer Telefonnummer und Abmeldung von der Wohnung habe es die Beklagte nicht geschafft, ihren Bruder auf Dauer von der Wohnanlage fernzuhalten. Da anzunehmen sei, dass er auch künftig wieder zu ihr kommen werde, sei die Zukunftsprognose negativ. Solange der Bruder der Beklagten es nicht schaffe, sein Alkoholproblem in den Griff zu bekommen, lasse sich kein Anhaltspunkt dafür finden, dass er in Zukunft nicht mehr Zuflucht bei der Beklagten suchen, herumschreien und Hausbewohner beschimpfen werde.

Das Berufungsgericht änderte das Urteil des Erstgerichts dahin ab, dass es die Aufkündigung als rechtsunwirksam aufhob und das Klagebegehren abwies. Die Beklagte habe alle zumutbaren Abwehrmittel ausgeschöpft, um Abhilfe zu schaffen. Da die Beklagte dem Bruder seit Sommer 2011 den Einlass verweigere, gehöre er bereits seit einem vor dem Zeitpunkt der Zustellung der gerichtlichen Aufkündigung gelegenen Zeitpunkt nicht mehr zu jenem Personenkreis, deren Verhalten die Beklagte nach § 30 Abs 2 Z 3 zweiter Fall MRG verantworten müsse. Die festgestellten Verhaltensweisen des Bruders seit Sommer 2011 könnten daher der Beklagten nicht angelastet werden. Aus den Feststellungen des Erstgerichts ergebe sich, dass es nach Zustellung der gerichtlichen Aufkündigung im September und Oktober 2011 noch etwa vier- bis fünfmal nächtliche laute Konversationen gegeben habe, danach offenkundig nicht mehr. Ausgehend davon könne entgegen den Ausführungen des Erstgerichts ‑ gerade noch ‑ eine positive Zukunftsprognose angenommen werden; dies nicht zuletzt aufgrund der von der Beklagten am 2. 4. 2012 gegen ihren Bruder erwirkten einstweiligen Verfügung. Der Kündigungsgrund des § 30 Abs 2 Z 3 zweiter Fall MRG sei nicht verwirklicht.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision der Klägerin ist zulässig und berechtigt.

Für die Beurteilung, ob hier der Kündigungsgrund des § 30 Abs 2 Z 3 zweiter Fall MRG (unleidliches Verhalten) erfüllt ist, ist folgende ständige Rechtsprechung maßgeblich:

Dem Mieter soll die Verantwortung für das Verhalten der mit ihm in Hausgemeinschaft lebenden Personen (nur) dann nicht auferlegt werden, wenn er davon keine Kenntnis hatte und infolgedessen dagegen auch nicht einschreiten konnte. War der Mieter aber in der Lage einzuschreiten, kann er sich nicht auf sein Unvermögen oder etwa darauf berufen, dass er alle ihm zu Gebote stehenden bzw ihm nach der Sachlage zumutbaren Abwehrmittel ausgeschöpft habe (RIS-Justiz RS0070371). Wollte man dem Mieter den Einwand zugestehen, dass er alle zumutbaren Abwehrmittel ausgeschöpft habe, ihm aber subjektiv tatsächlich die Abhilfe nicht gelungen sei, wäre der Schutzzweck des Kündigungsgrundes nach § 30 Abs 2 Z 3 zweiter Fall MRG unterlaufen: Dieser Schutzzweck liegt primär darin, die übrigen Hausbewohner vor Beeinträchtigungen zu schützen (RIS-Justiz RS0070371 [T7]). Das Gesetz gewährt den in ihrem Hausfrieden bedrohten Mietern Schutz und lässt die „Verewigung“ eines untragbaren Zustands nicht zu, mag er nun durch das Verhalten eines Mieters selbst oder durch das seiner Familienangehörigen hervorgerufen sein (RIS-Justiz RS0070371 [T3]). Der Bestandnehmer verantwortet auch das Verhalten anderer Personen, die mit seinem Willen den Bestandgegenstand benützen (10 Ob 42/04f mwN).

Nach ständiger Rechtsprechung ist für die Berechtigung der Aufkündigung wesentlich, ob der Tatbestand zur Zeit der Aufkündigung erfüllt war. Allerdings kann eine Einstellung eines dem Mieter zum Vorwurf gemachten Verhaltens nach der Aufkündigung bei der Beurteilung, ob das Gesamtverhalten die Aufkündigung im Einzelfall rechtfertigte, mitberücksichtigt werden (RIS-Justiz RS0070378). Eine Verhaltensänderung nach Einbringung der Aufkündigung hat nur dann Einfluss auf das Schicksal der Aufkündigung, wenn der Schluss zulässig ist, dass die Wiederholung der bisherigen Unzukömmlichkeit auszuschließen ist (RIS-Justiz RS0070340).

Die Klägerin weist in ihrer Revision zutreffend darauf hin, dass das Berufungsgericht nicht den ganzen entscheidungswesentlichen Sachverhalt berücksichtigt hat. Entgegen den berufungsgerichtlichen Ausführungen fanden nach den erstgerichtlichen Feststellungen auch nach Oktober 2011 noch im Jahr 2012 lautstarke nächtliche Streitereien und Schreiereien in der Wohnung der Beklagten statt, an der sie, ihr Vater und ihr Bruder beteiligt waren und die zur Störung der Nachtruhe der Nachbarn führten. Die Beklagte kann sich daher nicht darauf berufen, alles in ihrer Macht Stehende getan zu haben, um die Störungen der Mitbewohner hintanzuhalten.

Dass hier objektiv der Kündigungsgrund des unleidlichen Verhaltens gemäß § 30 Abs 2 Z 3 zweiter Fall MRG erfüllt ist und die festgestellten Zustände den Mitbewohnern nicht länger zumutbar sind, hat bereits das Erstgericht zutreffend ausgeführt. Aufgrund der vom Berufungsgericht nicht berücksichtigten Feststellungen über weitere Störungen auch im Jahr 2012 kann von einer positiven Zukunftsprognose, also davon, der Schluss sei zulässig, dass die Wiederholung der bisherigen Unzukömmlichkeiten auszuschließen sei, nicht gesprochen werden. In einem vergleichbaren Fall hat der Oberste Gerichtshof den Kündigungsgrund für gegeben erachtet (6 Ob 701/87).

Die Kostenentscheidung gründet auf den §§ 41, 50 ZPO.

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