OGH 9ObA31/13v

OGH9ObA31/13v27.8.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kuras und Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johannes Pflug und Mag. Ernst Bassler als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei R***** S*****, vertreten durch Dr. Thomas Brückl und Mag. Christian Breit, Rechtsanwälte in Ried im Innkreis, gegen die beklagte Partei B***** T*****, vertreten durch Anwälte Mandl und Mitterbauer GmbH in Altheim, wegen 51.267,54 EUR sA und Feststellung (4.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse 51.217,54 EUR) gegen das Teilurteil des Oberlandesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 14. Jänner 2013, GZ 12 Ra 90/12k‑21, mit dem der Berufung der klagenden Partei gegen das Teil‑ und Zwischenurteil des Landesgerichts Ried im Innkreis als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 22. Mai 2012, GZ 19 Cga 20/12k‑14, nicht, jener der beklagten Partei hingegen teilweise Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:009OBA00031.13V.0827.000

 

Spruch:

Die Revision der klagenden Partei wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.001,81 EUR (darin 333,63 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Begründung

Das Berufungsgericht wies das Klagebegehren überwiegend ab. Es ließ die Revision mit der Begründung zu, dass zur Anwendung bzw Auslegung des Art 85 Abs 2 VO (EG) 883/2004 bei innerösterreichischen Arbeitsunfällen mit Beteiligung eines in einem anderen Mitgliedsstaat Unfallversicherten eine höchstgerichtliche Rechtsprechung fehle.

Rechtliche Beurteilung

Der Kläger schließt sich dieser Begründung zwar nominell an, nimmt aber inhaltlich nicht zu dieser Rechtsfrage Stellung, sondern legt nur dar, weshalb dem Beklagten die ‑ aus der Anwendung des Art 85 Abs 2 VO (EG) 883/2004 resultierende ‑ Haftungsfreistellung nach § 106 Abs 3 Fall 3 des deutschen SGB VII nicht zugute komme. Eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO wird damit aber nicht aufgezeigt. Dem Obersten Gerichtshof kommt nämlich keine Leitfunktion bei der Anwendung fremden Rechts zu; es ist nicht seine Aufgabe, einen Beitrag zur Auslegung ausländischen (hier: deutschen) Rechts zu leisten (RIS-Justiz RS0042948 [T1, T19]).

Der Rechtsansicht des Klägers, die Voraussetzungen für das Haftungsprivileg nach § 106 Abs 3 Fall 3 SGB VII seien schon deshalb nicht erfüllt, weil nicht Schädiger und Geschädigter nach dem deutschen Sozialversicherungsrecht unfallversichert seien, ist nicht zu folgen.

§ 106 Abs 3 Fall 3 SGB VII stellt auf „Versicherte“ mehrerer Unternehmen ab. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) ist daher unabdingbar, dass der Schädiger selbst zu den versicherten Personen zählt. Das Haftungsprivileg des § 106 Abs 3 Fall 3 SGB VII beruht auf dem Gesichtspunkt der Gefahrengemeinschaft. Letztere bewirkt, dass demjenigen, der als Schädiger von Haftungsbeschränkungen profitiert, als Geschädigtem auch zugemutet werden kann, die entsprechenden Nachteile hinzunehmen, dass er selbst bei einer Verletzung keine Schadensersatzansprüche wegen seiner Personenschäden geltend machen kann (vgl BGH 27. 6. 2002 ‑ III ZR 234/01 ua).

Die Rechtsansicht des Revisionswerbers, „Versicherte“ mehrerer Unternehmen seien nur jene Personen, die nach dem deutschen SGB VII versichert seien, gründet sich auf die von zwei Autoren (Pabst, Internationale Abladefälle und der OGH, ZESAR 2010, 423, und Ricke in Kasseler Kommentar, SGB VII § 106 Rz 12) veröffentlichte Auffassung. Pabst begründet seine Ansicht im Wesentlichen damit, dass der inländische Unternehmer für den ausländischen Schädiger keine Beiträge zur gesetzlichen (heimischen) Unfallversicherung entrichtet habe; dieser stehe auch sonst in keiner Beziehung zu ihr. Ferner würden Wortlaut, Territorialitätsprinzip, verfassungs- und völkerrechtliche Erwägungen sowie das System der Haftungsprivilegierung gegen eine Einbeziehung von Schädigern sprechen, die in ausländischen SV-Systemen versichert seien. Ricke kommt zum gleichen Ergebnis.

Diese rechtliche Beurteilung überzeugt nicht:

Zunächst spricht der Wortlaut der Bestimmung nicht zwingend für diese enge Auslegung, weil § 106 Abs 3 Fall 3 SGB VII ohne regionale oder sonstige Beschränkung nur von „Versicherten“ spricht.

Das Territorialitätsprinzip hat für die Auslegung des europäischen koordinierenden Sozialrechts keine Bedeutung (Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union4 Rz 94). Das Argument, zwischen der Person des Beitragszahlers und dem Geschädigten müsse eine Art leistungsmäßige Kongruenz bestehen, wird ebenfalls bezweifelt. Im Rahmen des Dienstgeberhaftungsprivilegs muss es ausreichen, dass der Dienstgeber Sozialversicherungsbeiträge zahlt, egal an welche Versicherungsanstalt. Dass der Nationalität des Versicherungsträgers dabei keine Bedeutung zukommt, unterstreicht Art 5 VO (EG) 883/2004 („Gleichstellung von Leistungen, Einkünften, Sachverhalten oder Ereignissen“). Die Vorschrift formuliert den allgemeinen Grundsatz der Tatbestandsgleichstellung, womit auch ein Äquivalenzprinzip verbunden ist, das die spezifische europäisch-soziale Gerechtigkeit ausmacht (vgl Pletzenauer, Die neue Koordinierung der sozialen Sicherheit in der EU ‑ VO (EG) 883/2004, VO (EG) 987/2009, DRdA 2010, 440 [442]). Daraus folgt, dass die Beitragszahlung an einen ausländischen Versicherungsträger in Bezug auf das Haftungsprivileg dieselbe Wirkung haben muss, als ob die Zahlung an einen inländischen Versicherungsträger geleistet worden wäre. Selbst wenn man die inländische Beitragszahlung in den Vordergrund rückt, finanziert in Deutschland auch bei reinen Inlandssachverhalten der Arbeitgeber des Schädigers nicht stets dessen Haftungsfreistellung mit. In Deutschland wird die Unfallversicherung von mehreren Berufsgenossenschaften verwaltet. Ist der Geschädigte bei einer anderen Berufsgenossenschaft als der Schädiger unfallversichert, trägt die Kosten der Versorgung des Geschädigten ausschließlich dessen Unfallversicherung, ohne dass er vom Unfallversicherungsträger des Schädigers entlastet wird.

Insbesondere aber stehen primärrechtliche Vorgaben der Auffassung des Klägers entgegen. Wären nur die inländischen Versicherten aus der unbeschränkten Haftpflicht entlassen, würde sich der in einem Betrieb im EU‑Ausland tätige Arbeitnehmer bedeutenden Haftungsrisiken aussetzen. Für das Eingreifen des Haftungsprivilegs bei grenzüberschreitendem Sachverhalt blieben damit gerade nur jene Konstellationen übrig, in denen Schädiger und Geschädigter im Inland beschäftigt sind, die Schädigung allerdings im EU‑Ausland erfolgt. Damit wäre aber die Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV), der eine zentrale Stellung im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zukommt (Budischowsky in Mayer/Stöger, EUV/AEUV, Art 56, 57 AEUV Rz 1 mwN ua), empfindlich beeinträchtigt. Sie soll es ermöglichen, für Dienstleistungen vorübergehend in einen anderen Mitgliedsstaat reisen zu können (Art 57 AEUV). Verboten sind bereits Beschränkungen, die die Erbringung der Dienstleistung weniger attraktiv machen (vgl 4 Ob 28/02z mwN; Kluth in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV4 Art 56, 57 AEUV Rz 57 mwN).

Die überwiegende Abweisung des Klagebegehrens durch das Berufungsgericht erfolgte daher im Ergebnis zu Recht. Die Revision des Klägers ist mangels Geltendmachung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen. Auf Überlegungen, dass man auch nach dem Haftungsprivileg des § 333 ASVG zur überwiegenden Klagsabweisung komme, muss nicht eingegangen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO. Der Beklagte hat auf die Unzulässigkeit der Revision in seiner Revisionsbeantwortung hingewiesen.

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