European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0040OB00070.13T.0618.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss des Rekursgerichts sowie die Beschlüsse des Erstgerichts vom 6. Jänner 2013, GZ 10 Ps 1/13s-2, und vom 30. Jänner 2013, GZ 10 Ps 1/13s‑3, werden aufgehoben.
Der Antrag der Mutter, sie vorläufig bis zum Eintritt der Rechtskraft einer Entscheidung über ihren Obsorgeantrag alleine mit der Obsorge zu betrauen, wird zurückgewiesen.
Mit seinem Antrag vom 29. 1. 2013 wird der Vater auf diese Entscheidung verwiesen.
Begründung
Der Minderjährige ist französischer Staatsbürger, seine Mutter besitzt die österreichische, sein Vater die serbische und französische Staatsbürgerschaft. Der gemeinsame Aufenthalt der Familie war in Frankreich.
Am 2. 1. 2013 gab die mit ihrem Kind in Österreich wohnhafte Mutter beim inländischen Erstgericht den Antrag zu Protokoll, sie künftig allein mit der Obsorge für den Minderjährigen zu betrauen; sie verband damit den Antrag, eine derartige Entscheidung vorläufig bereits bis zur Rechtskraft der Entscheidung über ihren erstgenannten Antrag zu treffen. Sie befürchte, dass der Vater auf Druck seiner Mutter im Stande sein könne, das Kind mit Gewalt von Österreich nach Frankreich zu bringen.
Das Erstgericht betraute mit Beschluss vom 6. 1. 2013 (ON 2) die Mutter alleine vorläufig bis zum Eintritt der Rechtskraft einer Entscheidung über den von der Mutter am 2. 1. 2013 gestellten Obsorgeantrag mit der Obsorge für den Minderjährigen und erkannte dieser Entscheidung gemäß § 44 Abs 1 AußStrG vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zu. Es ging dabei von folgendem Sachverhalt aus:
Der Vater wohnt in Frankreich. Die am 15. 8. 2009 geschlossene Ehe der Eltern ist aufrecht. Vor ihrer Eheschließung hatte die Mutter im Inland an ihrer auch jetzt wieder aktuellen Adresse gelebt. Unmittelbar nach Eheschließung bis zum 2. 11. 2012 lebten die Eltern und mit ihnen später das Kind in der Wohnung der väterlichen Großeltern in Frankreich an der auch derzeit aktuellen Adresse des Vaters. Diese Wohnsituation sorgte für Spannungen, vornehmlich zwischen der väterlichen Großmutter und der Kindesmutter. Die Eltern beschlossen daher, dass der Vater für sie und das Kind eine eigene Wohnung suchen werde. Da die väterliche Großmutter den Hinauswurf der Kindesmutter betrieben hatte, beschlossen die Eltern, dass die Mutter mit dem Kind vorläufig zur mütterlichen Großmutter nach Serbien gehen solle. In der Folge suchte der Vater aber keine Wohnung für die Familie, sondern ging stattdessen Freizeitaktivitäten nach. Vermutlich auf Veranlassung der väterlichen Großmutter änderte er schließlich seinen Sinn, ließ den Plan eines gemeinsamen Lebens abseits von Großeltern fallen und bestand auf einer Rückkehr der Mutter mit dem Kind zur väterlichen Großmutter nach Frankreich. Ungeachtet dessen, dass die Hauptprobleme der Mutter weniger mit dem Ehemann als mit der väterlichen Großmutter bestanden, verlief die Ehe als solche für die Mutter nicht befriedigend. Da sich der Vater nicht bemühte, bessere Rahmenbedingungen für die Ehe herbeizuführen, sieht die Mutter keinen Anlass, auf eine Besserung zu hoffen. Sie hat ihren Ehewillen aufgegeben und strebt die Scheidung vom Vater an. Das Kind wurde praktisch ohne Unterbrechung von der Mutter betreut, von den anderen im Haushalt lebenden Personen eher noch vom Vater als von der väterlichen Großmutter. Die Mutter lebt mit dem Kind in einer 3-Zimmer-Wohnung. Ein Zimmer bewohnt die Mutter mit ihrem Kind, eines ihre Schwester und deren zwei Kinder. Daneben besteht noch ein Wohnzimmer, in dem die mütterliche Großmutter (die Wohnungsinhaberin) nächtigt, wenn sie in Wien ist. Die Mutter befürchtet auf Grund von Äußerungen des Vaters am Telefon, dass der Vater das Kind in Österreich an sich nimmt und gegen den Willen der Mutter nach Frankreich bringen könnte.
In rechtlicher Hinsicht ging das Erstgericht davon aus, dass gemäß Artikel 8 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 in Obsorgefragen (Brüssel IIa-VO) die Gerichte jenes Mitgliedsstaates zuständig sind, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Entscheidung diene der Sicherung der Kontinuität der bisherigen Betreuung des Kindes, wobei die Kontinuität der Bezugsperson Vorrang vor der Kontinuität der Wohnumgebung genieße.
Am 24. 1. 2013 (ON 6) stellte der Vater beim Erstgericht einen Antrag auf Rückführung des Minderjährigen nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung ‑ HKÜ, den das Erstgericht dem zuständigen Bezirksgericht Innere Stadt Wien gemäß § 44 JN überwies (ON 8). Am 11. 3. 2013 ordnete das Bezirksgericht Innere Stadt Wien zu 79 Ps 11/13b die Rückführung des Minderjährigen nach Frankreich an; das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien bestätigte diese Entscheidung mit Beschluss vom 19. 4. 2013 (43 R 203/13s), der unbekämpft blieb.
Mit am 29. 1. 2013 eingebrachter Eingabe (ON 12) beantragte der Vater unter Hinweis auf seinen Schriftsatz vom 24. 1. 2013 und den Tatbestand nach Art 3 HKÜ, das Erstgericht möge seinen Beschluss vom 6. 1. 2013 (ON 2) von Amts wegen aufheben und dessen vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit aufheben.
Das Erstgericht wies diesen Antrag mit Beschluss vom 30. 1. 2013 (ON 13) ab. Art 16 HKÜ bestimme, dass die Gerichte oder Verwaltungsbehörden des Vertragsstaats, in den das Kind verbracht oder in dem es zurückgehalten wurde, denen das widerrechtliche Verbringen oder Zurückhalten des Kindes im Sinn des Art 3 mitgeteilt worden sei, eine Sachentscheidung über das Sorgerecht erst treffen dürften, wenn entschieden sei, dass das Kind aufgrund dieses Übereinkommens nicht zurückzugeben sei, oder wenn innerhalb angemessener Frist nach der Mitteilung kein Antrag nach dem Übereinkommen gestellt werde. Weder am 6. 1. 2013 (Beschluss ON 2) noch am 8. 1. 2013 (Tag der Abfertigung von ON 2) und darüber hinaus bis 23. 1. 2013 sei dem Gericht ein widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten des Kindes iSd Art 3 HKÜ nicht mitgeteilt worden, sodass die (ohnedies rein vorläufige) Sachentscheidung zumindest nicht aus dem Grunde des HKÜ fehlerhaft gewesen sei. Da für einen Rückführungsantrag nach dem HKÜ lange Zeit zur Verfügung stehe, in welcher ein mittlerweiliges Tätigwerden eines Pflegschaftsgerichts jenes Vertragsstaats, in den das Kind verbracht wurde oder in dem es zurückgehalten wird, somit nicht unwahrscheinlich erscheine, hätte der Gesetzgeber bzw hätten die Vertragsstaaten in Art 16 HKÜ auch die Rücknahme bereits getroffener Verfügungen angeordnet, wenn diese Rechtsfolge gewünscht gewesen wäre. Überdies sei die Aufrechterhaltung des Beschlusses ON 2 und seiner vorläufigen Verbindlichkeit bzw Vollstreckbarkeit bis zur Entscheidung des zuständigen Gerichts zur Verhinderung etwaiger Selbsthilfeaktionen der Eltern nicht unvorteilhaft, weil dadurch gesichert werde, dass die Klärung der Frage der Rückführung in geordneten Bahnen verlaufe. Der Beschluss schaffe ein „Provisorium zweiter Ordnung“, ehe eine allfällige Rückführungsentscheidung (oder deren Verweigerung) ein „Provisorium erster Ordnung“ schaffe.
Das Rekursgericht bestätigte die Beschlüsse ON 2 und ON 13 und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob die „Sperrwirkung“ des Art 16 HKÜ auch Provisorialentscheidungen vor Mitteilung eines anhängigen Verfahrens nach dem HKÜ umfasse.
Das Erstgericht sei im Hinblick auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Minderjährigen im Inland gemäß Art 8 Brüssel IIa-VO iVm Art 11 Abs 1 KSÜ zuständig, in dringenden Fällen die erforderlichen Schutzmaßnahmen nach Art 20 Abs 1 Brüssel IIa-VO (dazu zähle auch die vorläufige Einräumung der alleinigen Obsorge) zu treffen. Die kumulativ erforderlichen Voraussetzungen (Dringlichkeit, inländischer Aufenthalt des Betroffenen, Maßnahme vorübergehender Art) lägen vor. Demnach brauche im derzeitigen Verfahrensstadium unter Bedachtnahme auf das erst nach der Fassung der Provisorialentscheidung eingeleitete Verfahren nach dem HKÜ noch nicht auf die Zuständigkeit des Erstgerichts in Bezug auf die Hauptsache (Antrag der Mutter auf Übertragung der alleinigen Obsorge) eingegangen zu werden. Die „Sperrwirkung“ des Art 16 HKÜ, wonach Gerichte des Zufluchtsstaats bei anhängigem Rückführungsverfahren nach dem HKÜ keine Sachentscheidung über das Sorgerecht mehr treffen dürften, könne erst dann eintreten, wenn dem entscheidenden Gericht bekannt sei, dass das Kind widerrechtlich entführt oder nicht zurückgegeben worden sei. Demnach sei nur das Verfahren über die endgültige Obsorgezuteilung auszusetzen, nicht aber die zum maßgebenden Entscheidungszeitpunkt erster Instanz zulässig getroffene Provisorialentscheidung. Diese Entscheidung liege auch im Interesse des Kindes, weil sie seinen Aufenthalt bei der Mutter vorläufig billige und ‑ auch unter Beachtung der Regelungen des HKÜ ‑ einen allfälligen Aufenthaltswechsel des Kindes bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Rückführungsantrag verhindere.
Der Minderjährige sei französischer Staatsbürger und habe seinen letzten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt mit seinen Eltern in Frankreich gehabt. Nach Art 372 Code civil übten die Eltern somit die elterliche Sorge gemeinsam aus. Die Trennung der Eltern berühre die Zuteilungsregelungen für die Ausübung der elterlichen Sorge nicht (Art 373 - 2 Code civil). Nach dem am 1. 4. 2011 für Österreich in Kraft getretenen „Haager Übereinkommen vom 19. 10. 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern“ (Haager Kinderschutzübereinkommen-KSÜ) sei davon auszugehen, dass beiden Elternteilen die Obsorge für das Kind von Gesetzes wegen zustehe. Da aber eine Verbringung des Kindes durch den Vater aus der derzeitigen Obhut der Mutter drohe, sei die vom Erstgericht angeordnete Provisorialmaßnahme erforderlich gewesen. Zwar könne das mit dem Obsorgeantrag der Mutter eingeleitete Hauptverfahren wegen des vom Vater eingeleiteten Verfahrens nach dem HKÜ nicht fortgeführt werden, die getroffene Provisorialentscheidung habe aber aufrecht zu bleiben. Der Vater behaupte auch keine Sachverhaltsänderung, die zwingend die Aufhebung der getroffenen Provisorialmaßnahme rechtfertige.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.
1. Nach Art 16 HKÜ ist es den Gerichten untersagt, nach Erhalt einer Mitteilung über eine widerrechtliche Kindesentführung iSd Art 3 HKÜ eine Sachentscheidung über das Sorgerecht zu treffen, solange nicht entschieden ist, dass das Kind aufgrund des HKÜ nicht zurückzugeben ist, oder wenn innerhalb angemessener Frist nach Mitteilung kein Antrag nach dem HKÜ gestellt wird.
2. Art 16 HKÜ bewirkt die Unterbrechung eines anhängigen Sorgerechtsverfahrens und gibt dem Rückführungsverfahren nach dem HKÜ Vorrang. Bereits anhängige Sorgerechtsverfahren im Zufluchtsstaat sind jedenfalls auszusetzen (5 Ob 260/09k mwN). Es tritt eine sogenannte „Sperrwirkung“ ein, aufgrund derer keine Sachentscheidung über das Sorgerecht mehr getroffen werden darf (RIS-Justiz RS0125759).
3. Der Vater gesteht im Rechtsmittel ausdrücklich zu, dass das Erstgericht im Zeitpunkt der vorläufigen Obsorgeentscheidung (6. 1. 2013) keine Kenntnis vom (erst am 24. 1. 2013 eingebrachten) Rückführungsantrag haben konnte. Die Sperrwirkung des Art 16 HKÜ konnte demnach im Zeitpunkt der Entscheidung noch gar nicht eintreten.
Der im erstgerichtlichen Verfahren nicht angehörte Vater hat aber im Rekurs den Tatbestand der widerrechtlichen Kindesentführung iSd Art 3 HKÜ geltend gemacht. Er war gemäß § 49 AußStrG dazu auch berechtigt, da das erstgerichtliche Verfahren einseitig geblieben ist.
4. In einem vergleichbaren Fall (dass dort der Rückführungsantrag des einen Elternteils einen Tag vor dem Antrag auf Obsorgeregelung gestellt wurde, ist im hier gegebenen Zusammenhang unerheblich) hat der Oberste Gerichtshof zu 2 Ob 228/11k Folgendes ausgesprochen:
„5. Aus mehreren Gründen kommt die Anwendbarkeit des Art 20 Brüssel IIa-VO ohne vorherige Prüfung der Zuständigkeit nach den Art 8 ff Brüssel IIa-VO aber dennoch nicht in Betracht:
5.1 Die Mutter hat den Provisorialantrag beim Erstgericht gleichzeitig mit dem Antrag auf Übertragung der alleinigen Obsorge auf sie eingebracht und sich dabei auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Kinder in Österreich gestützt. Sie hat damit das Erstgericht mit ihren Anträgen gemäß Art 8 Brüssel IIa-VO als Hauptsachegericht befasst, welches ‑ wie in Punkt 3.2 erörtert ‑ auch zur Erlassung einstweiliger Maßnahmen berufen ist. Das Erstgericht hat seine Zuständigkeit in der Hauptsache bisher nicht abgelehnt.
Zu dem vom Europäischen Gerichtshof betonten Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (Erwägungsgrund 21 der Verordnung) gehört es, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem ein Antrag hinsichtlich der elterlichen Verantwortung anhängig gemacht wird, seine Zuständigkeit anhand der Art 8 ff Brüssel IIa-VO prüft und dass aus der Entscheidung dieses Gerichts klar hervorgeht, ob es sich den in dieser Verordnung vorgesehenen unmittelbar anwendbaren Zuständigkeitsvorschriften hat unterwerfen wollen oder nach diesen entschieden hat (EuGH 15. 7. 2010, C‑256/09, Purrucker/Vallés Peréz, Rz 73). Ehe sich das Gericht auf Art 20 Brüssel IIa-VO stützt, hat es daher zu prüfen, ob eine eigene Zuständigkeit nach den Art 8 ff besteht (vgl Rauscher aaO Art 20 Brüssel IIa-VO Rz 16).
5.2 Läge ein Entführungsfall vor, wie dies hier der Vater behauptet, wäre die Zuständigkeit nach der speziellen Regelung des Art 10 Brüssel IIa-VO zu prüfen (Punkt 2.2). Einstweilige Maßnahmen und Schutzmaßnahmen iSd Art 20 Brüssel IIa-VO könnten zwar im Verbringungsmitgliedstaat erlassen werden, soweit sie aufgrund der bloßen Anwesenheit des Kindes notwendig sind, nicht jedoch durch Zuerkennung der einstweiligen Obsorge an den entführenden Elternteil (vgl 1 Ob 254/11a; EuGH 23. 12. 2009, C-403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, Rz 49; Kaller‑Pröll aaO Art 10 EuEheKindVO Rz 12). Art 20 Brüssel IIa-VO kann nicht dahin ausgelegt werden, dass er dem Elternteil, der das Kind rechtswidrig verbracht hat oder es rechtswidrig zurückhält, als Mittel dafür diente, die durch sein rechtswidriges Handeln geschaffene tatsächliche Situation länger andauern zu lassen oder die Folgen dieses Handelns zu legitimieren (1 Ob 254/11a; EuGH 23. 12. 2009, C‑403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, Rz 57).
5.3 Zur Voraussetzung der Dringlichkeit vertritt der Europäische Gerichtshof die Auffassung, dass sich dieser Begriff sowohl auf die Lage, in der sich das Kind befindet, als auch auf die praktische Unmöglichkeit bezieht, den die elterliche Verantwortung betreffenden Antrag vor dem Gericht zu stellen, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist (EuGH 23. 12. 2009, C‑403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, Rz 42; EuGH 15. 7. 2010, C-256/09 , Purrucker/Vallés Peréz, Rz 94; Simotta aaO Art 20 EuEheKindVO Rz 35). Wären - wie dies das Rekursgericht unterstellte ‑ luxemburgische Gerichte in der Hauptsache zuständig, müsste für die Bejahung der Dringlichkeit daher auch geklärt werden, aus welchen Gründen die Mutter die Antragstellung in Luxemburg unterließ. Ist aber das österreichische Gericht Hauptsachegericht käme es auf die Voraussetzung der Dringlichkeit iSd Art 20 Brüssel IIa-VO überhaupt nicht an (Simotta aaO Art 20 EuEheKindVO Rz 15). Bei Prüfung dieser Voraussetzung stellt sich somit jedenfalls die Vorfrage nach dem (potentiellen) Hauptsachegericht.
5.4 Mit der Begründung, Art 20 Brüssel IIa-VO stelle eine Ausnahme von der durch die Verordnung geschaffenen Zuständigkeitsregelung dar, legt der Europäische Gerichtshof diese Bestimmung restriktiv aus (EuGH 23. 12. 2009, C-403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, Rz 38).“
5. Der Senat teilt die in dieser Entscheidung vertretene Auffassung, dass der Rückgriff auf die Zuständigkeit für einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen nach Art 20 Abs 1 Brüssel IIa-VO ohne vorherige Prüfung der Zuständigkeit nach Art 8 Brüssel IIa‑VO nicht zulässig ist. In einem (im Anlassfall behaupteten und inzwischen rechtskräftig festgestellten) Entführungsfall darf keine vorläufige Obsorgeregelung erfolgen.
6. Das Rekursgericht hätte daher das Vorbringen des Vaters im Rechtsmittel, es liege ein Entführungsfall vor, zum Anlass nehmen müssen, die Zuständigkeit des Erstgerichts nach Art 8 Brüssel IIa-VO in Bezug auf die Hauptsache zu prüfen, und hätte diese Frage nicht offen lassen dürfen.
7. Mittlerweile ist allerdings die Rückführungsanordnung rechtskräftig geworden. Damit steht fest, dass das Erstgericht in Ansehung der Hauptsache keine Zuständigkeit nach Art 8 Brüssel IIa-VO besitzt. Es ist damit nach der dargestellten Rechtslage zwar befugt, Einstweilige Maßnahmen und Schutzmaßnahmen iSd Art 20 Brüssel IIa-VO im Verbringungsmitgliedstaat zu erlassen, soweit sie aufgrund der bloßen Anwesenheit des Kindes notwendig sind, nicht jedoch durch Zuerkennung der einstweiligen Obsorge an den entführenden Elternteil.
8. Der Antrag der Mutter auf Erlassung einer einstweiligen Obsorgeregelung ist daher mangels Zuständigkeit zurückzuweisen. Der Vater ist mit seinem Antrag, das Erstgericht möge seine Sicherungsmaßnahme von Amts wegen aufheben, auf diese Entscheidung zu verweisen.
9. Über den Obsorgeantrag im Hauptverfahren wird das ‑ dafür funktionell zuständige ‑ Erstgericht nach Prüfung seiner Zuständigkeit im aufgezeigten Sinne zu entscheiden haben.
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