OGH 14Os47/13p

OGH14Os47/13p11.6.2013

Der Oberste Gerichtshof hat am 11. Juni 2013 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Marek, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Fürnkranz in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Bitsakos als Schriftführer in der Strafsache gegen Joseph M***** und andere Angeklagte wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 4 Z 3 SMG und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Angeklagten Renate S***** sowie die Berufungen des Angeklagten Heinrich S***** und der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 8. November 2012, GZ 041 Hv 68/12m-131, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde und aus deren Anlass werden das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt,

- in Ansehung der die Angeklagte Renate S***** betreffenden rechtlichen Unterstellung der dem Schuldspruch A/I/1/A zugrunde liegenden Taten unter § 28a Abs 4 Z 3 SMG und der hinsichtlich dieser Angeklagten zu diesem Schuldspruch gebildeten Subsumtionseinheit;

- im den Angeklagten Heinrich S***** betreffenden Schuldspruch A/I/1/A/a,

- im die Angeklagten Alexander R***** und Ulrike Mi***** betreffenden Schuldspruch A/I/3;

- demgemäß in den diese vier Angeklagten betreffenden Strafaussprüchen,

- im Einziehungserkenntnis

- sowie der Ulrike Mi***** betreffende Beschluss auf Erteilung einer Weisung

aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Wien verwiesen.

Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde zurückgewiesen.

Die Angeklagten Renate S***** und Heinrich S***** sowie die Staatsanwaltschaft werden mit ihren Berufungen auf die Kassation der Strafaussprüche verwiesen.

Der Angeklagten Renate S***** fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurden - soweit im Verfahren über die Nichtigkeitsbeschwerde und für die amtswegige Maßnahme von Bedeutung - Renate S***** (zu A/I/1/A) und Heinrich S***** (zu A/I/1/A/a) des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 4 Z 3 SMG, Renate S***** darüber hinaus der Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs 2 SMG (A/II/2) sowie Alexander R***** und Ulrike Mi***** des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall SMG (richtig: A/I/3) schuldig erkannt.

Danach haben in Wien

(A) vorschriftswidrig Suchtgift

I) in einer die Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge durch gewinnbringenden Verkauf

1) anderen überlassen, wobei Renate S***** und Heinrich S***** die Straftat in Bezug auf Suchtgift in einer das 25-fache der Grenzmenge übersteigenden Quantität begangen haben, und zwar

A/a) Renate S***** und Heinrich S***** im einverständlichen Zusammenwirken als Mittäter (§ 12 StGB) dem abgesondert verfolgten Andreas K***** von 2004 bis 2007 und von Ende 2009 bis 21. Mai 2012 1700 Stück Substitolkapseln à 200 mg (Wirkstoff Morphinsulfatpen-tahydrat);

A/b) Renate S***** in zahlreichen Angriffen zwischen 2004 und 21. Mai 2012 Andreas K***** und fünf weiteren, im Urteil namentlich genannten Abnehmern insgesamt 636 Gramm Heroin (mit einem Reinheitsgehalt von 1 % Diacetylmorphin), 24 Gramm Kokain (mit einem Reinheitsgehalt von 20 % Cocain), 285 Gramm Cannabiskraut (mit einem Reinheitsgehalt von 2 % THC) und weitere 75 Substitolkapseln á 200 mg mit dem Wirkstoff Morphinsulfatpentahydrat;

3) Alexander R***** und Ulrike Mi***** im einverständlichen Zusammenwirken als Mittäter (§ 12 StGB) den Mitangeklagten Renate S***** und Heinrich S***** von September 2011 bis 22. Mai 2012 175 Stück Substitolkapseln á 200 mg (Wirkstoff Morphinsulfatpen-tahydrat).

A/II/2) Renate S***** von November 2011 bis 22. Mai 2012 Kokain (Wirkstoff: Cocain) ausschließlich zum persönlichen Gebrauch erworben und besessen.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen von der Angeklagten Renate S***** aus den Gründen der Z 5 und „9“ des § 281 Abs 1 StPO ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde ist teilweise im Recht.

Soweit die Beschwerde, die das Urteil ausdrücklich „zur Gänze“ anficht, auch den Schuldspruch A/II/2 umfasst, blieb sie mangels deutlicher und bestimmter Bezeichnung von Nichtigkeit bewirkenden Umständen unausgeführt (§§ 258 Abs 1, 285a Z 2 StPO).

Zu Unrecht moniert die Mängelrüge (Z 5 vierter Fall) - pauschal in Bezug auf die Begründung der Urteilsannahmen zum Reinheitsgehalt sämtlicher der tatverfangenen Suchtgifte (US 14, 29) - eine Verletzung des aus Art 6 Abs 1 MRK ableitbaren Rechtes der Angeklagten, nicht von einer ihr unbekannten Gerichtsnotorietät im Tatsachenbereich überrascht zu werden.

Auf den gerichtsnotorischen Reinheitsgehalt von Heroin und Kokain, dessen Untergrenze (Heroin: 1 %, Kokain: 20 %) den diesbezüglichen Urteilsannahmen zugrunde gelegt wurde (US 14 f, 20), hat die Staatsanwaltschaft bereits in der Begründung der - eingangs der Hauptverhandlung vorgetragenen (ON 130 S 7) - schriftlichen Anklageschrift hingewiesen (ON 111 S 9), womit insoweit ein Verstoß gegen das fair-trial-Gebot nicht vorliegt (RIS-Justiz RS0119094; Kirchbacher, WK-StPO § 246 Rz 34; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 463).

Entsprechende Feststellungen zu den in Verkehr gesetzten Substitolkapseln wurden gar nicht getroffen, wie die Beschwerde an anderer Stelle zutreffend aufzeigt (vgl dazu unten).

Dass die „langjährige Gerichtserfahrung“, auf die die Tatrichter auch ihre Überzeugung von einem (nur) 2%igen Wirkstoffgehalt an THC im tatverfangenen Cannabiskraut stützten (US 14, 20), weder in der Anklageschrift erwähnt noch sonst in der Hauptverhandlung erörtert wurde, betrifft hinwieder mit Blick auf die konstatierten Reinsubstanzmengen der übrigen weitergegebenen Substanzen keine für den Schuldspruch oder die Subsumtion entscheidenden Tatsachen und begründet demzufolge keine Nichtigkeit (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 398 ff).

Es trifft zu, dass sich strafrechtlich relevantes Verhalten nach dem Suchtmittelgesetz nur auf konkrete, in der Suchtgiftverordnung oder der Psychotropenverordnung erfasste Wirkstoffe bezieht, weshalb zur Subsumtion eines Sachverhalts nach §§ 27 ff SMG Feststellungen zur Beschaffenheit, nämlich der Wirkstoffart tatverfangener Substanzen, unabdingbar sind. Weshalb aber die Urteilsannahme, wonach sämtliche vom Schuldspruch umfassten Substitolkapseln den Wirkstoff Morphinsulfatpentahydrat enthielten (US 4 f, 13 ff, 20), insoweit nicht ausreichen sollte, obwohl nach § 1 Abs 1 SV iVm Anhang I.1.b und c nicht nur Morphin, sondern ausdrücklich auch dessen Salze (einschließlich der möglichen Salze der Ester, Äther und Molekülverbindungen sowie Salze der Isomere) Suchtgifte sind, erklärt die Rechtsrüge (Z 9 lit a) nicht.

Insoweit war die Nichtigkeitsbeschwerde daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO).

Im Recht ist die Beschwerde jedoch, soweit sie in Bezug auf die Qualifikation nach § 28a Abs 4 Z 3 SMG einen Rechtsfehler mangels Feststellungen zum Reinheitsgehalt der weitergegebenen Substanzen geltend macht (nominell „Z 9“, der Sache nach Z 10). Mit Blick auf die Konstatierungen zum Vorliegen einer auch den mit der kontinuierlichen Tatbegehung verbundenen Additionseffekt sowie die Weitergabe einer die Grenzmenge des § 28b SMG jedenfalls übersteigenden Suchtgiftquantität umfassenden Willensausrichtung der Beschwerdeführerin (US 15) vermögen die Urteilsannahmen zum Schuldspruch A/I/1/A zwar die rechtliche Beurteilung nach § 28a Abs 1 fünfter Fall SMG zu tragen, weil schon die Wirkstoffmengen der gehandelten Substanzen Heroin (6,36 Gramm Reinsubstanz Diacetylmorphin) und Kokain (4,8 Gramm reines Cocain) - unabhängig vom darüber hinaus weitergegebenen Cannabiskraut (5,7 Gramm THC) - etwa dem Zweifachen der Grenzmenge des § 28b SMG (Heroin: 3 Gramm, Cocain: 15 Gramm) entsprechen. Für die rechtliche Annahme eines Übersteigens dieser Grenzmenge um mehr als das 25-fache bietet die vom Erstgericht in Bezug auf die Substitolkapseln festgestellte Reinsubstanz von 200 mg Morphinsulfat-pentahydrat pro Tablette jedoch keine ausreichende Sachverhaltsgrundlage. Die im Anhang 1 zur Suchtgift-Grenzmengenverordnung festgesetzte Grenzmenge von 10 Gramm „Morphin“ bezieht sich nämlich gemäß § 2 SGV nicht auf Salze, sondern nur auf die Base dieses Suchtgifts (vgl zu Kokain: 11 Os 116/10h, EvBl-LS 2011/47; 14 Os 86/12x).

Dass „Substitol 200mg“ allenfalls gerichtsnotorisch nach seiner Produktbeschreibung „200 mg Morphinsulfat entsprechend 150 mg Morphin“ enthält, vermag daran ebensowenig zu ändern, wie die Erwähnung des Umrechnungsschlüssels in der Anklageschrift (ON 111 S 9), weil es in Betreff notorischer Tatsachen zwar keiner Beweisaufnahme, wohl aber deren Konstatierung bedarf (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 600), worauf die Rüge ebenso zutreffend verweist.

Dieses Feststellungsdefizit hat die Aufhebung der die Beschwerdeführerin betreffenden Subsumtion der dem angefochtenen Schuldspruch A/I/1/A zugrunde liegenden Taten nach § 28a Abs 4 Z 3 SMG und der zu diesem Schuldspruch gebildeten Subsumtionseinheit zur Folge.

Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde überzeugte sich der Oberste Gerichtshof - in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur - davon, dass dem Urteil aus den selben Gründen auch in Ansehung der die Angeklagten Heinrich S*****, Alexander R***** und Ulrike Mi***** betreffenden Schuldsprüche A/I/1/A/a und A/I/3 materielle Nichtigkeit (Z 10) anhaftet, die diesen Angeklagten, die keine Nichtigkeitsbeschwerde erhoben haben, zum Nachteil gereicht und demnach von Amts wegen wahrzunehmen war (§ 290 Abs 1 zweiter Satz StPO).

Die Genannten wurden nämlich insoweit jeweils des - ausschließlich durch Überlassung von Substitolkapseln an andere begangenen - Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall SMG, Heinrich S***** auch nach Abs 4 Z 3 dieser Bestimmung schuldig erkannt, wobei sich die Feststellungen zum Reinheitsgehalt gleichermaßen auf die in den Tabletten enthaltene Menge von Morphinsulfatpentahydrat beschränken. Auf dieser Sachverhaltsbasis lässt sich - wie dargelegt - weder eine Überschreitung des 25-fachen noch (insoweit) der einfachen Grenzmenge (§ 28b SMG) verlässlich beurteilen.

Urteilsannahmen, die einen - hier nicht erfolgten - Schuldspruch nach § 27 Abs 1 Z 1 erster, zweiter und achter Fall SMG allenfalls zu tragen vermögen, können nicht bestehen bleiben (RIS-Justiz RS0115884), was die Aufhebung der genannten Schuldsprüche zur Gänze unumgänglich macht.

Der (teilweise) Erfolg der Nichtigkeitsbeschwerde und die amtswegige Maßnahme führen zur Kassation der Strafaussprüche der davon betroffenen Angeklagten. Dies zieht auch die Aufhebung des - verfehlt (RIS-Justiz RS0101841; Jerabek, WK-StPO § 494 Rz 1) in die Urteilsausfertigung aufgenommenen (US 12) - Beschlusses auf Erteilung einer Weisung an die Angeklagte Ulrike Mi***** nach sich.

Schließlich determiniert das Einziehungserkenntnis in Bezug auf das „sichergestellte Suchtgift“ (US 11) den Gegenstand der Einziehung nicht (vgl für viele: 13 Os 67/11v, 12 Os 160/11p), was ebenfalls von Amts wegen wahrzunehmen war (Ratz, WK-StPO § 292 Rz 39).

Mit ihren Berufungen waren die Angeklagten Renate S***** und Heinrich S***** sowie die Staatsanwaltschaft, die nur die diese beiden Angeklagten betreffenden Strafaussprüche bekämpft, auf diese Entscheidung zu verweisen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO).

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