OGH 10ObS177/12w

OGH10ObS177/12w19.3.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisiongericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau (Senat nach § 11a Abs 3 ASGG) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Mag. B*****, vertreten durch Dr. Reinhard Kohlhofer, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65-67, wegen Versehrtenrente, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 24. Oktober 2012, GZ 7 Rs 102/12i-88, mit dem das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 9. November 2011, GZ 29 Cgs 166/06y-75, (mit einer Maßgabe) bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Aus Anlass der Revision werden die Entscheidungen des Berufungsgerichts und des Erstgerichts mit Ausnahme der in Rechtskraft erwachsenen Teile (Anerkennung einer 100%igen Vollrente und einer Zusatzrente für Schwerversehrte von 50 % der Versehrtenrente vom 13. 12. 2005 bis 29. 6. 2006; 55 % der Vollrente und Zusatzrente für Schwerversehrte von 20 % der Versehrtenrente vom 30. 6. 2006 bis 30. 6. 2007 und ab 1. 7. 2007 45 % der Vollrente im gesetzlichen Ausmaß) und das diesen Entscheidungen vorangegangene Verfahren ab Beginn der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 1. 6. 2011 im angefochtenen Umfang

als nichtig aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der Kläger erlitt am 13. 10. 2005 im Zuge seiner freiberuflichen Tätigkeit als Posaunist einen Verkehrsunfall.

Mit Bescheid vom 1. 8. 2006 sprach die beklagte Partei aus, dass dieser Unfall nicht als Arbeitsunfall anerkannt werde, weil für die selbstständige Erwerbstätigkeit des Klägers als Posaunist zum Unfallzeitpunkt weder eine Pflichtversicherung noch eine freiwillige Selbstversicherung in der Unfallversicherung vorgelegen sei. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der (weiters ausgeübten) unselbständigen Tätigkeit als Musikschullehrer sei nicht gegeben.

In seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrt der Kläger die Zuerkennung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß.

Nach Unterbrechung des Verfahrens gemäß § 74 ASGG stand aufgrund des rechtskräftigen Bescheids des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz vom 22. 12. 2009 fest, dass der Kläger als selbstständiger Posaunist in der Unfallversicherung gemäß § 8 Abs 1 Z 3 lit a ASVG in der Zeit vom 1. 1. 2005 bis 31. 12. 2005 teilversichert war.

Das Erstgericht stellte nach Fortsetzung des Verfahrens und Einholung mehrerer Sachverständigengutachten mit Urteil vom 9. 11. 2011 fest, dass die beim Kläger bestehenden Gesundheitsstörungen (Veränderungen des Handgelenks, Hochtonsenke links, Tinnitus links, posttraumatische Anosmie und damit verbundene Geschmacksstörung, Vernarbung der Ober- und Unterlippe, Gefühlsveränderung im Bereich der Gesichtshaut und Druckempfindlichkeit) Folgen des Arbeitsunfalls vom 13. 10. 2005 sind. Weiters erkannte es die beklagte Partei schuldig, dem Kläger für die Folgen dieses Arbeitsunfalls eine Versehrtenrente im Ausmaß von 100 % der Vollrente vom 13. 12. 2005 bis 29. 6. 2006 zuzüglich Zusatzrente für Schwerversehrte im Ausmaß von 50 % der Versehrtenrente und 55 % der Vollrente vom 30. 6. 2006 bis 6. 6. 2007 zuzüglich Zusatzrente für Schwerversehrte im Ausmaß von 20 % der Versehrtenrente sowie von 45 % der Vollrente ab 1. 7. 2007 „im gesetzlichen Ausmaß“ zu gewähren.

Wie sich aus der Aktenlage ergibt, gehörten dem Senat des Erstgerichts in den Tagsatzungen zur mündlichen Streitverhandlung vom 1. 6. 2011 und 9. 11. 2011 jeweils ein fachkundiger Laienrichter aus dem Kreis der Arbeitgeber und aus dem Kreis der Arbeitnehmer an. Auch dem erkennenden Senat des Erstgerichts gehörte je ein Laienrichter aus dem Arbeitgeber- und aus dem Arbeitnehmerstand an. Ferner ergibt sich aus der Aktenlage, dass der Kläger im gesamten erstinstanzlichen Verfahren nicht qualifiziert vertreten war.

Gegen die Entscheidung des Erstgerichts richtete sich die von einem Rechtsanwalt eingebrachte Berufung des Klägers mit dem Antrag auf Gewährung einer Versehrtenrente im Ausmaß von 100 vH der Vollrente ab 13. 12. 2005 zuzüglich Zusatzrente für Schwerversehrte im Ausmaß von 50 % der Vollrente.

Das Berufungsgericht gab der Berufung nicht Folge und bestätigte die Entscheidung des Erstgerichts mit der Maßgabe, dass die beklagte Partei schuldig sei, für die Folgen des Arbeitsunfalls eine Versehrtenrente von 100 % der Vollrente vom 13. 12. 2005 bis 29. 6. 2006 zuzüglich Zusatzrente für Schwerversehrte im Ausmaß von 50 % der Versehrtenrente und von 55 % der Vollrente, vom 30. 6. 2006 bis 30. 6. 2007 55 % der Vollrente zuzüglich Zusatzrente für Schwerversehrte im Ausmaß von 20 % der Versehrtenrente sowie von 45 % der Vollrente ab 1. 7. 2007 „im gesetzlichen Ausmaß“ zu gewähren. Das Berufungsgericht übernahm die Feststellungen des Erstgerichts und verneinte die behauptete Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens. Rechtlich ging es davon aus, auf die Frage des Vorliegens einer Körperschädigung gelange auch in Sozialrechtssachen der Anscheinsbeweis nicht zur Anwendung. Ausgehend von der Feststellung, dass kein organisches Psychosyndrom vorliege, sei die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts nicht zu beanstanden. Das Fehlen des Zeitraums 6. 6. 2007 bis 30. 6. 2007 im Spruch der erstinstanzlichen Entscheidung erkläre sich - wie sich eindeutig aus den Feststellungen ergebe - aus einem offenkundigen und berichtigungsfähigen Schreibfehler, sodass insofern mit einer Maßgabebestätigung vorzugehen gewesen sei.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei. Es entschied in nichtöffentlicher Sitzung (ohne Anberaumung einer Berufungsverhandlung), wobei dem erkennenden Senat je ein fachkundiger Laienrichter aus dem Kreis der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer angehörte.

Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das Urteil des Berufungsgerichts aufzuheben und dem Berufungsgericht eine neuerliche Entscheidung aufzutragen.

Die beklagte Partei hat trotz Freistellung keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil aus Anlass des Rechtsmittels von Amts wegen eine Nichtigkeit wahrzunehmen ist und dieser Frage immer erhebliche Bedeutung zur Wahrung der Rechtssicherheit zukommt (vgl 10 ObS 69/11m; RIS-Justiz RS0042743).

1. Gemäß § 12 Abs 3 zweiter Halbsatz ASGG haben in Streitsachen unter anderem nach dem GSVG alle fachkundigen Laienrichter dem Kreis der Arbeitgeber anzugehören. Dies gilt nach ständiger Rechtsprechung auch für Sozialrechtssachen, die Angelegenheiten der Unfallversicherung der gewerblich selbständig tätigen Personen betreffen (RIS-Justiz RS0085526).

2. Dennoch gehörte dem erkennenden Senat des Berufungsgerichts ein fachkundiger Laienrichter aus dem Kreis der Arbeitnehmer an. Das Berufungsgericht war daher nicht vorschriftsmäßig besetzt, was die Entscheidung nach § 477 Abs 1 Z 2 ZPO nichtig macht (RIS-Justiz RS0042176).

3. Gegen die oben zu Pkt 1 wiedergegebene Rechtsprechung hat auch das Erstgericht verstoßen. Dessen nicht vorschriftsmäßige Besetzung in den Tagsatzungen zur mündlichen Streitverhandlung vom 1. 6. 2011 und 9. 11. 2011 sowie bei der Urteilsschöpfung hat die Nichtigkeit auch des Ersturteils und des diesem vorangegangen Verfahrens nach § 477 Abs 1 Z 2 ZPO im angefochtenen Umfang (wie aus dem Spruch ersichtlich) zur Folge.

4. Wird in einer Arbeits- und Sozialrechtssache gegen die §§ 11 oder 12 Abs 1 oder Abs 3 zweiter Halbsatz ASGG verstoßen, ist § 260 Abs 4 ZPO sinngemäß anzuwenden, sofern die Parteien zur Zeit des Verstoßes durch qualifizierte Personen (§ 40 Abs 1 ASGG) vertreten waren (§ 37 Abs 1 ASGG). Liegt eine qualifizierte Vertretung vor, so kann die unrichtige Senatsbesetzung nicht mehr berücksichtigt werden, wenn sich beide Parteien in die mündliche Streitverhandlung eingelassen haben.

4.1. Der dem Berufungsgericht unterlaufene Verstoß gegen § 12 Abs 3 ASGG wurde aber nicht nach § 37 Abs 1 ASGG geheilt, weil die Entscheidung des Berufungsgerichts in nichtöffentlicher Sitzung ohne vorhergehende mündliche Verhandlung erfolgte und daher keine Möglichkeit bestand, die nicht vorschriftsmäßige Gerichtsbesetzung geltend zu machen (RIS-Justiz RS0040259).

4.2. Auch eine Heilung der im erstinstanzlichen Verfahren gegebenen unrichtigen Gerichtsbesetzung ist nicht erfolgt, weil der Kläger im gesamten Verfahren vor dem Erstgericht nicht qualifiziert vertreten war. Eine Heilung infolge Einlassung in die mündliche Streitverhandlung durch eine qualifizierte Vertretung konnte deshalb nicht eintreten.

5. Auch durch den Umstand, dass die mangelhafte Besetzung des Erstgerichts nicht in der Berufung und die mangelhafte Besetzung des Berufungsgerichts nicht in der Revision gerügt wurde, ist es zu keiner „Heilung“ gekommen. Es ist gerade das Charakteristikum der Nichtigkeitsgründe des § 477 ZPO, dass sie regelmäßig von Amts wegen, also auch ohne entsprechende Rüge in einem Rechtsmittel aufzugreifen sind. Dies wird hinsichtlich des Nichtigkeitsgrundes des § 477 Abs 1 Z 2 ZPO betreffend die nicht vorschriftsgemäße Besetzung des erkennenden Gerichts insoweit relativiert, als hier unter bestimmten Voraussetzungen durch Einlassung „Heilung“ eintreten kann. Dabei handelt es sich nicht um eine Frage der „amtswegigen“ Wahrnehmung von Nichtigkeitsgründen, sondern inwieweit überhaupt noch das Vorliegen eines Nichtigkeitsgrundes anzunehmen ist, ob also dieser nicht bereits „geheilt“ wurde (9 ObA 132/07p mwN).

6. Der der Entscheidung des Erstgerichts anhaftende Nichtigkeitsgrund wäre - ebenso wie der Nichtigkeitsgrund, der dem dieser Entscheidung vorangegangenen Verfahren anhaftet - schon vom Berufungsgericht von Amts wegen aufzugreifen gewesen. Da das Berufungsgericht diese Frage aber unerörtert gelassen hat, musste der Oberste Gerichtshof aus Anlass der Revision die Urteile beider Vorinstanzen - soweit mangels Anfechtung des klagestattgebenden Teils der Entscheidung des Erstgerichts noch nicht Rechtskraft eingetreten war - als nichtig aufheben. Ebenso war das dem Ersturteil vorangegangene Verfahren in diesem Umfang als nichtig aufzuheben (9 ObS 26/87, RIS-Justiz RS0042176).

Der Ausspruch über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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