Spruch:
In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das Urteil aufgehoben, eine neue Hauptverhandlung angeordnet und die Sache an das Landesgericht Innsbruck verwiesen.
Mit ihren Berufungen werden der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Armin S***** der Verbrechen des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 1 StGB (I) und der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB (II) schuldig erkannt.
Danach hat er am 26. Mai 2011 in Wörgl Nadja L*****,
(I) die aufgrund ihrer Alkoholisierung und ihres tiefen Schlafs unfähig war, die Bedeutung des Vorgangs einzusehen, unter Ausnützung dieses Zustands zum Beischlaf missbraucht, indem er (mit seinem Penis) vaginal in sie eindrang;
(II) indem er sie (im Anschluss an die zu I beschriebene Tat) an den Handgelenken festhielt, unter Anwendung seiner überlegenen Körperkraft ihren Körper mit seinem Gewicht fixierte und gegen ihren Willen mit Gewalt zur weiteren Duldung des Beischlafs genötigt.
Rechtliche Beurteilung
Dagegen richtet sich die aus § 281 Abs 1 Z 4, 5 und 9 lit a StPO ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der bereits aus dem erstgenannten Grund Berechtigung zukommt.
Besteht nämlich in einem Verfahren Verteidigerzwang in der Hauptverhandlung (§ 61 Abs 1 Z 4 [und 5] StPO) und wird das Beweisverfahren (wie hier) durch kontradiktorische Vernehmung der einzigen Tatzeugin im Ermittlungsverfahren gleichsam vorweggenommen, kann der Angeklagte ‑ im Zusammenhang mit einem entsprechenden Widerspruch oder Antrag in der Hauptverhandlung ‑ nach gefestigter Rechtsprechung aus Z 4 mit Erfolg geltend machen, dass er nicht rechtzeitig, ausdrücklich und in einer für ihn verständlichen Weise auf den Wert, den ein zur kontradiktorischen Vernehmung beigezogener geschulter Rechtsbeistand darstellt (vgl Art 6 Abs 3 lit c und d MRK), und das Recht hingewiesen wurde, mit Blick auf ein (zwanglos zu bejahendes) Erfordernis im Sinn des § 61 Abs 2 StPO nach Maßgabe der sonstigen Voraussetzungen die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers zu verlangen (RIS‑Justiz RS0125706).
In der Hauptverhandlung widersprach der Beschwerdeführer der Verlesung des Protokolls über die polizeiliche Vernehmung des Opfers (ON 2 S 7 ff) und der Vorführung der Ton- und Bildaufnahme über dessen kontradiktorische Vernehmung (ON 22) und beantragte dessen (nochmalige) Befragung vor dem erkennenden Gericht. Den Antrag begründete er im Wesentlichen damit, dass er sich in einem Telefonat mit der zuständigen Haft‑ und Rechtsschutz‑Richterin erfolglos um Verlegung des Termins für die kontradiktorische Vernehmung bemüht habe, den er wegen beruflicher Tätigkeit im Ausland nicht habe wahrnehmen können. Er sei bei diesem Gespräch „weder über den Wert, das Wesen noch die Wichtigkeit der kontradiktorischen Einvernahme für das Hauptverfahren belehrt“ worden, die Haft‑ und Rechtsschutz‑Richterin habe ihn auch nicht auf die Möglichkeit hingewiesen, „einen Verteidiger daran teilnehmen zu lassen bzw. einen Antrag auf Beigebung eines Verfahrenshelfers zu stellen“. Durch diese Vorgangsweise sei dem Beschwerdeführer die Möglichkeit genommen worden, entweder selbst oder durch einen Verteidiger Fragen an die Belastungszeugin zu stellen (ON 39 S 10 f).
Nach Vernehmung der Haft‑ und Rechtsschutz‑Richterin als Zeugin zum Inhalt der dem Beschwerdeführer erteilten Belehrung wies das Erstgericht den neuerlich (im Wesentlichen mit derselben Begründung) gestellten Antrag auf Befragung des Opfers in der Hauptverhandlung ab und führte die Ton‑ und Bildaufnahme über dessen kontradiktorische Vernehmung vor (ON 42 S 9 ff).
Ob die kritisierte Lösung der Verfahrensfrage rechtsrichtig erfolgte, ergibt sich aus einem Vergleich der Verfügung mit der vom Erkenntnisgericht dafür erkennbar herangezogenen Sachverhaltsgrundlage. Vorliegend hat dieses jedoch, weil es (irrtümlich) von der Unerheblichkeit dieser Frage ausging, zum Inhalt der dem Beschwerdeführer vor Durchführung der kontradiktorischen Vernehmung erteilten Belehrung ausdrücklich keine Annahmen getroffen (ON 42 S 11), weshalb der Oberste Gerichtshof den insoweit maßgeblichen Sachverhalt (bezogen auf den Verfügungszeitpunkt) selbst in freier Beweiswürdigung festzustellen hatte (Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 50).
Die als Zeugin vernommene Haft‑ und Rechtsschutz‑Richterin bestätigte, dem Beschwerdeführer in dem vor der kontradiktorischen Vernehmung geführten Telefonat keine Belehrung erteilt zu haben, die inhaltlich über jene in der schriftlichen Benachrichtigung von diesem Termin hinausgegangen wäre; sie habe vielmehr auf diese verwiesen (ON 42 S 8). Der Text der schriftlichen Belehrung lautete in der hier maßgeblichen Passage (ON 29 S 3): „Sie sind nicht verpflichtet, an der Vernehmung teilzunehmen; im Falle ihres Ausbleibens besteht jedoch die Möglichkeit, dass Sie Ihr Fragerecht etwa mangels Anwesenheit des Zeugen in der Hauptverhandlung nicht mehr ausüben können. Als Verdächtiger/Beschuldigter können Sie auch einen Verteidiger mit der Wahrung Ihrer Rechte in der Vernehmung beauftragen.“ Mit dem bloßen Hinweis auf die (nicht näher spezifizierte) „Möglichkeit“ der Abwesenheit der Zeugin in der Hauptverhandlung wurde auf die besondere Bedeutung einer kontradiktorischen Vernehmung gerade als Voraussetzung eines Rechts auf Aussagebefreiung (§ 156 Abs 1 Z 2 StPO) nach den Kriterien der zuvor zitierten Rechtsprechung ebenso wenig ausreichend deutlich hingewiesen wie mit der abschließenden Formulierung auf den Wert der Beiziehung eines geschulten Rechtsbeistands zu dieser Beweistagsatzung.
Der aufgezeigte Verfahrensfehler erfordert die Aufhebung des Urteils und die Anordnung einer neuen Hauptverhandlung bereits in der nichtöffentlichen Sitzung (§ 285e StPO), weshalb sich eine Erörterung des weiteren Beschwerdevorbringens erübrigt.
Mit ihren Berufungen waren der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung zu verweisen.
Bleibt anzumerken, dass das von der Justizverwaltung zur Verfügung gestellte Formular für die Benachrichtigung des Beschuldigten von einer kontradiktorischen Vernehmung mittlerweile geändert wurde, wobei im dazu ergangenen Erlass des Bundesministeriums für Justiz vom 17. Februar 2012 (BMJ‑S611.440/0002‑IV 3/2012) auf die (aufhebende) Entscheidung 12 Os 152/11m hingewiesen wird, die sich auf den Text der auch im nunmehr gegenständlichen Verfahren noch verwendeten Fassung dieses Formulars bezog.
Im zweiten Rechtsgang wird das Erstgericht im Fall eines neuerlichen Schuldspruchs darauf zu achten haben, Feststellungen (auch) zu sämtlichen subjektiven Tatbestandsmerkmalen zu treffen und diese mängelfrei zu begründen.
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