OGH 1Ob154/12x

OGH1Ob154/12x11.10.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.-Prof. Dr. Bydlinski, Dr. Grohmann, Mag. Wurzer und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei W***** E*****, vertreten durch Hauer Puchleitner Majer, Rechtsanwälte OG in Gleisdorf, gegen die beklagte Partei I***** GmbH, *****, vertreten durch Scherbaum/Seebacher Rechtsanwälte GmbH in Graz, wegen 30.000 EUR sA und Feststellung, über die Revision der beklagten Partei (Revisionsinteresse 30.000 EUR) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 31. Mai 2012, GZ 6 R 10/12f-38, mit dem das Teilzwischenurteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 3. Jänner 2012, GZ 13 Cg 102/10g-32, teilweise bestätigt und abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 1.680,84 EUR (darin enthalten 280,14 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

Text

Begründung

Die Beklagte war bei einem Bauvorhaben für die Projektleitung, die örtliche Bauaufsicht und die Planungs- und Baustellenkoordination zuständig. Die Arbeitgeberin des Klägers (im Folgenden auch KG) hatte den Auftrag, das Flachdach herzustellen und die Spenglerarbeiten im Dachbereich durchzuführen. Bei einer Arbeitsbesprechung zum Thema Dacharbeiten wurden die Flämmarbeiten angesprochen. Da feststand, dass die für das Flachdach vorgesehenen Lichtkuppeln zunächst nicht geliefert werden konnten, wurden diverse Sicherheitsmaßnahmen angeordnet. Es wurde festgehalten, dass die für die Lichtkuppeln vorgesehenen Deckenöffnungen mit Pfosten unverschiebbar abgedeckt werden müssten, darüber geflämmt werde und die Öffnung jeweils in der Folge zur Kennzeichnung mit einer Schaltafel abzudecken sei. Die Konstruktion der Absturzsicherung für die Lichtkuppelöffnungen war Aufgabe von Arbeitern der KG, nicht aber des Klägers. Der zuständige Arbeiter der KG sicherte die Deckenöffnungen aber nicht entsprechend den Anweisungen der Beklagten mit unverschiebbaren Pfosten. Er legte nicht fixierte Schaltafeln auf die Deckenöffnungen, über die Teerpappe geflämmt wurde. Die Öffnungen waren für den Kläger erkennbar mit einem Viereck und einem Kreuz markiert.

Nach Abschluss der Flämmarbeiten wurden die ersten Sekuranten (Anschlagpunkte zur Seilsicherung gegen Abstürze) gesetzt. Bei einer weiteren Arbeitsbesprechung legte die örtliche Bauleitung fest, dass ein (an den Seiten des Daches angebrachter) dreiteiliger Seitenschutz (Brust-, Mittel- und Fußwehr) abmontiert werden sollte, um Fassadenarbeiten durchführen zu können, und dass die KG zum Schutz der Arbeiter die Sekuranten am Dach zu montieren habe. Der Kläger wurde davon sowohl von seiner eigenen Arbeitgeberin als auch von dem die Bauleitung und Baukoordination ausübenden Mitarbeiter der beklagten Partei in Kenntnis gesetzt. Er erhielt einen Plan mit den vorgesehenen Standorten der Sekuranten und wurde auch darüber informiert, dass für die durchzuführende Montage der Sekuranten ein Sicherheitsgeschirr und ein Anseilschutz zu verwenden seien. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass die vorhandene Konstruktion der Absturzsicherung für die Lichtkuppelöffnungen am jeweiligen Ort bestehen bleiben müsse.

Am 15. 10. 2007 war der Kläger gemeinsam mit einem weiteren Mitarbeiter der KG auf dem Dach, um zu besprechen, wo die Dämmung aufzubringen sei. Die Sekuranten waren zu diesem Zeitpunkt bereits gesetzt. Der Kläger war zunächst mit Messarbeiten auf dem Dachteil in der Nähe des Lichtbandes beschäftigt. Nach Abschluss dieser Arbeiten ging er quer über das Flachdach, um seine Kollegen zu bitten, ihm sein Werkzeug hinauf zu bringen. Dabei hätten ihm Gurte und Seile gebracht werden sollen, mit denen er sich sichern hätte können. Der Kläger war bei dieser Baustelle als Vorarbeiter eingesetzt. Er hatte in dieser Funktion auch mehrere Kurse besucht, um über Anseilverpflichtungen am Dach Bescheid zu wissen. Noch bevor er seine Kollegen bitten konnte, ihm Sicherheitsgurte und Seile hinauf zu bringen, stürzte er bei einer Dachlucke (Lichtkuppelöffnung), über die Teerpappe geflämmt worden war, ab. Wäre diese Öffnung mit unverrutschbaren Pfosten ordnungsgemäß gesichert worden, wäre der Sturz des Klägers verhindert worden. Dieser hätte sich am 2,5 m von der Absturzstelle entfernten Sekuranten sichern können. Bei richtiger Längeneinstellung des Sicherungsseils wäre der ungebremste Sturz bis auf den Boden verhindert worden.

Der Kläger begehrte Schmerzengeld von 30.000 EUR und die Feststellung der Haftung der Beklagten für mögliche Spät- und Dauerfolgen.

Die beklagte Partei berief sich - soweit noch relevant - auf das Allein-/Mitverschulden des Klägers, der die Anweisungen, sich anzuseilen, nicht befolgt habe, obwohl er sich über die bereits montierten Sekuranten leicht anseilen hätte können.

Das Erstgericht stellte das Leistungsbegehren als mit 50 % zu Recht bestehend fest.

Das von beiden Parteien angerufene Berufungsgericht sprach aus, dass das Leistungsbegehren dem Grunde nach zur Gänze zu Recht bestehe, und ließ die ordentliche Revision zu. Der Schutzzweck der Norm (Rechtswidrigkeitszusammenhang) sei auch für ein Mitverschulden des allein Geschädigten zu beachten. Der Vorwurf, der Kläger hätte keine Seilsicherung verwendet, scheitere schon daran, dass die Anordnung dazu dienen hätte sollen, Abstürze über den zum Unfallszeitpunkt nicht mehr gesicherten Rand des Flachdaches zu verhindern, nicht aber Stürze durch Lichtkuppelöffnungen. Von diesen ausgehenden Gefahren hätte durch die angeordneten, aber tatsächlich fehlenden Pfosten begegnet werden sollen. Der in Sicherheitsvorkehrungen geschulte Kläger hätte aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Informationen darauf vertrauen können, dass ein Begehen des Daches abgesehen von der hier nicht verwirklichten Seitenabsturzgefahr gefahrlos möglich gewesen wäre.

Den Ausspruch über die Zulässigkeit der Revision begründete das Berufungsgericht damit, dass die Frage, ob die Annahme eines Mitverschuldens nach § 1304 ABGB den Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der durch den allein Geschädigten selbst verletzten Norm und dem eingetretenen Schadensereignis voraussetze, in der Judikatur des Obersten Gerichtshofs unterschiedlich beantwortet worden sei.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der beklagten Partei ist entgegen dem nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig, weil sie keine erhebliche Rechtsfrage aufzeigt.

Zunächst ist klarzustellen, dass Thema des Revisionsverfahrens nur das Mitverschulden des Klägers ist. Die Vorinstanzen bejahten - insoweit übereinstimmend - die Haftung der beklagten Partei, die ihre Verpflichtungen aus dem Bauarbeiterkoordinationsgesetz (BauKG) schuldhaft verletzt habe. Diese Haftung bestreitet die Revisionswerberin in ihren Ausführungen auch nicht. Wenn sie dennoch die Abweisung des Klagebegehrens beantragt und vom Alleinverschulden des Klägers spricht, so meint sie offenbar, dass ihr Verschulden aufgrund des Verhaltens des Klägers zu vernachlässigen ist.

Nach § 15 Abs 1 ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG) haben Arbeitnehmer die zum Schutz (unter anderem) des Lebens und der Gesundheit nach diesem Bundesgesetz, den dazu erlassenen Verordnungen sowie behördlichen Vorschreibungen gebotenen Schutzmaßnahmen anzuwenden, und zwar gemäß ihrer Unterweisung und den Anweisungen des Arbeitgebers. Sie haben sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung so weit als möglich vermieden wird. Sie sind nach Abs 2 leg cit unter anderem verpflichtet, gemäß ihrer Unterweisung und den Anweisungen des Arbeitgebers die Arbeitsmittel ordnungsgemäß zu benutzen sowie die ihnen zur Verfügung gestellte, diesem Bundesgesetz entsprechende persönliche Schutzausrichtung zweckentsprechend zu benutzen.

Detaillierte Regelungen zu Sicherungsmaßnahmen bei Vorliegen einer in diesem Fall relevanten Absturzgefahr enthält die Bauarbeiterschutzverordnung (BauV), BGBl 1994/340. Nach ihrem § 7 Abs 1 sind bei Absturzgefahr unter anderem Absturzsicherungen anzubringen. Diese werden in § 8 Abs 1 BauV als tragsichere und unverschiebbare Abdeckungen von Öffnungen und Vertiefungen (Z 1) oder (soweit hier relevant) Umwehrungen (Geländer) an den Absturzkanten, die aus Brust-, Mittel- und Fußwehren bestehen (Z 2 Satz 1) definiert. Müssen diese Absturzsicherungen zur Durchführung von Arbeiten entfernt werden, sind nach § 7 Abs 3 BauV geeignete andere Schutzmaßnahmen zu treffen, wie die Verwendung von persönlichen Schutzausrüstungen. Zu diesen gehören nach § 30 Abs 1 BauV (Schutz gegen Absturz) auch Sicherheitsgeschirre und Sicherheitsseile (Fangseile).

Der Vorwurf der Revisionswerberin, der Kläger hätte sich entgegen den ausdrücklichen Anweisungen nicht angeseilt (und deshalb gegen § 15 ASchG verstoßen), findet in den Feststellungen keine Deckung. Nach diesen beschränkte sich die Anweisung, Sicherheitsgeschirr und Anseilschutz zu verwenden, nämlich auf die durchzuführende Montage der Sekuranten. Diese waren aber bereits gesetzt worden, als der Kläger mit Ausmessarbeiten (im Zusammenhang mit dem Aufbringen der Dämmung) beschäftigt war und in der Folge beim Queren des Daches durch eine nicht ordnungsgemäß gesicherte Öffnung stürzte.

Wäre allerdings davon auszugehen, dass der Kläger unabhängig vom festgestellten Inhalt der erteilten Anweisung im Sinne des § 15 Abs 1 und Abs 2 ASchG iVm § 7 Abs 3 und 30 Abs 1 BauV verpflichtet gewesen wäre, sich wegen der von ihm durchzuführenden Arbeiten mit einem Seil (über die bereits vorhandenen Sekuranten) zu sichern, könnte er durch das ungesicherte Queren des Daches gegen zu seinem Schutz bestehende gesetzliche Vorschriften verstoßen haben.

Richtig ist, dass das Mitverschulden im Sinne des § 1304 ABGB nach der ständigen Rechtsprechung (RIS-Justiz RS0022681) weder ein Verschulden im technischen Sinn noch Rechtswidrigkeit des Verhaltens des Geschädigten voraussetzt. Eine Sorglosigkeit gegenüber den eigenen Gütern reicht aus. Das Mitverschulden wird mangels Rechtspflicht, eigene Güter zu schützen, auch als Obliegenheitsverletzung bezeichnet (RIS-Justiz RS0022681 [T6]; Schacherreiter in Kletecka/Schauer, ABGB-ON 1.00 § 1304 Rz 9 mwN). Wird es aber auf die Verletzung eines Schutzgesetzes durch den Geschädigten gestützt, ist es nach herrschender Meinung bei der Schadenersatzpflicht des Schädigers nur zu berücksichtigen, wenn die vom Geschädigten übertretene Norm den Zweck hatte, diesen vor dem eingetretenen Schaden zu schützen (s zum „Mitverschuldenszusammenhang“ nur Reischauer in Rummel, ABGB3 § 1304 ABGB Rz 3 mzN aus der Judikatur; Harrer in Schwimann, ABGB3 § 1304 ABGB Rz 24; Wittwer in Schwimann, ABGB-TaKomm § 1304 ABGB Rz 3 mwN; implizit [„Rechtswidrigkeitszusammenhang“ bejahend] auch 2 Ob 183/06k; 2 Ob 21/07p = SZ 2007/199; zur Begrenzung der Zurechnung der Schadensfolgen aus dem Normzweck bei der Beurteilung des Mitverschuldens RIS-Justiz RS0027420; RS0022975; 2 Ob 97/72 = ZVR 1974/5; 2 Ob 135/04y = ZVR 2006/33 [Schoditsch/Griehser]: Verbot des § 68 Abs 3 lit b StVO dient auch dem Schutz des klagenden geschädigten Radfahrers). Die (gegenteilige) im Zulassungsausspruch zitierte Entscheidung 2 Ob 351/99b = ZVR 2000/70 verneinte den beim Mitverschulden als nicht erforderlich erachteten „Rechtswidrigkeitszusammenhang“ bei Übertretung der Schutznorm des § 16 Abs 2 lit a StVO durch den geschädigten Kläger, lastete ihm aber dennoch den Verstoß gegen dieses Überholverbot als bei der Verschuldensteilung zu berücksichtigende Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten an. Sie blieb jedoch vereinzelt und wurde in der Lehre bereits abgelehnt (Reischauer aaO 614). Ihre Existenz bedeutet nicht die vom Berufungsgericht angenommene Judikaturdivergenz als Grundlage für eine erhebliche Rechtsfrage. Zu erwähnen ist noch, dass (jüngere) höchstgerichtliche Entscheidungen auch in Fällen der Sorglosigkeit im Umgang mit eigenen Rechtsgütern, denen kein Verstoß gegen ein Schutzgesetz oder eine sonstige, dem später Geschädigten bestimmte Schutzmaßnahmen abverlangende Rechtsvorschrift zu Grunde lag, unter Hinweis auf die Meinung Reischauers das Vorliegen eines Mitverschuldenszusammenhangs fordern (8 Ob 78/07i; 1 Ob 214/08i: Entstehung des Schadens durch eine „ganz atypische Gefahrenquelle“).

Die Frage, ob ein Schaden vom Schutzzweck einer Norm erfasst wird, kann nur im jeweiligen Einzelfall danach beurteilt werden, welchen konkreten Inhalt die übertretene Rechtsvorschrift hatte und welches Risiko sich verwirklichte. Das vom Berufungsgericht hier erzielte Ergebnis ist nicht korrekturbedürftig:

Dass eine (allenfalls bestehende) Verpflichtung der auf dem Dach tätigen Arbeitnehmer, sich bei den bereits gesetzten Sekuranten anzuseilen, den Zweck hatte, den Absturz über den nach Entfernung des dreiteiligen Seitenschutzes ungesicherten Dachrand zu verhindern, ergibt sich (wie schon vom Berufungsgericht dargelegt) aus den unmissverständlichen Anordnungen der BauV, die klar definiert, wann Absturzgefahr vorliegt (§ 7 Abs 2) und eine nach Art der Absturzgefahr differenzierende geeignete Absturzsicherung vorschreibt (§ 8 Abs 1 Z 1 und 2). Die durch die Lichtkuppelöffnungen geschaffene Absturzgefahr (§ 7 Abs 2 Z 1 BauV) wäre durch das Anbringen von tragsicheren und unverschiebbaren Abdeckungen (§ 8 Abs 1 Z 1 BauV) zu verhindern gewesen. Der Sturz des Klägers und seine schweren Verletzungen waren nicht darauf zurückzuführen, dass bei den Lichtkuppelöffnungen angebrachte Absturzsicherungen entfernt wurden. Diese waren vielmehr von vornherein entgegen der Anordnungen des § 8 Abs 1 Z 1 BauV und auch der beklagten Partei nicht tragsicher und unverschiebbar angebracht worden, weshalb sie nicht als Absturzsicherung geeignet waren.

Dass der Kläger von dieser mangelnden Sicherung wusste oder sie hätte erkennen können, brachte die beklagte Partei, die ein Mitverschulden des Geschädigten behaupten und beweisen müsste (RIS-Justiz RS0022560; RS0027129), in erster Instanz nicht vor. Auch eine Kenntnis des Klägers von dieser Gefahr wurde nicht festgestellt. Konnte er sich aber auf eine den Vorschriften der BauV und den Anweisungen der beklagten Partei entsprechend angebrachte Absicherung der Lichtkuppelöffnungen, die nach den Feststellungen seinen Sturz durch die Öffnung verhindert hätte, verlassen, begründet das festgestellte Betreten der mit einem Kreuz und einem Viereck markierten Flächen über diesen Öffnungen keine Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten, die die Ersatzpflicht der beklagten Schädigerin mindert.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 41 iVm § 50 Abs 1 ZPO. Der Kläger hat in seiner Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des gegnerischen Rechtsmittels hingewiesen.

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