OGH 11Os59/12d

OGH11Os59/12d28.6.2012

Der Oberste Gerichtshof hat am 28. Juni 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab, Mag. Lendl, Mag. Michel und Dr. Oshidari als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Angrosch als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Christian H***** und einen anderen Angeklagten wegen des Verbrechens des gewerbsmäßig durch Einbruch begangenen Diebstahls nach §§ 127, 129 Z 1, 130 vierter Fall und 15 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Schöffengericht vom 2. Februar 2012, GZ 47 Hv 244/11z‑32, sowie dessen Beschwerde gegen den gemeinsam mit dem Urteil gemäß § 494 Abs 1 Z 2, Abs 6 StPO gefassten Beschluss nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2012:0110OS00059.12D.0628.000

 

Spruch:

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Schuldspruch zu I./A./1./ und I./A./2./ sowie in der dazu gebildeten Subsumtionseinheit, demgemäß auch im Strafausspruch (einschließlich der Vorhaftanrechnung), und im Privatbeteiligtenzuspruch, ebenso der gemäß § 494a StPO gefasste Beschluss aufgehoben, eine neue Hauptverhandlung angeordnet und im Umfang der Aufhebung die Sache an das Landesgericht Salzburg verwiesen.

Mit seiner Berufung und der Beschwerde wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen, auch unbekämpft gebliebene Freisprüche des Angeklagten und einen in Rechtskraft erwachsenen Schuldspruch des Christian K***** enthaltenden Urteil wurde Christian H***** des Verbrechens des gewerbsmäßig durch Einbruch begangenen Diebstahls nach §§ 127, 129 Z 1, 130 vierter Fall und 15 StGB schuldig erkannt.

Danach hat er, soweit für das Verfahren über die Nichtigkeitsbeschwerde von Bedeutung,

I./A./ fremde bewegliche Sachen Nachgenannten mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz und in der Absicht, sich durch die wiederkehrende Begehung von Einbruchsdiebstählen eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen,

1./ am 31. August 2011 in Salzburg im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit einem unbekannten Mittäter dem Michael A***** durch Einschlagen des linken hinteren Dreieckfensters des Pkw der Marke Mercedes mit dem Kennzeichen *****, sohin durch Einbruch, wegzunehmen versucht und

2./ zwischen 9. und 11. Oktober 2011 in Tamsweg der Emma W***** zwei Flachbildfernseher im Gesamtwert von 399,90 Euro weggenommen.

Rechtliche Beurteilung

Der ausschließlich dagegen aus Z 3 und 4 des § 281 Abs 1 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten kommt Berechtigung zu.

Nach der Aktenlage teilte die im Ermittlungsverfahren ohne Beteiligung der Parteien in Tamsweg wohnhafte und dort vernommene 90‑jährige Zeugin Emma W***** telefonisch mit, gesundheitlich nicht mehr in der Lage zu sein, nach Salzburg anzureisen, weshalb der Vorsitzende ohne weitere Erhebungen durchzuführen ‑ trotz Widerspruchs des Beschwerdeführers ‑ in der Hauptverhandlung eine auf § 252 Abs 1 Z 1 StPO gestützte Verlesung vornahm (ON 31 S 37). Aus den Angaben der Zeugin im Vorverfahren ergibt sich, dass sie altersbedingt nur geringe Distanzen zu Fuß zurücklegen kann und am Tatort eine Pension betreibt (ON 12 S 9 und 59).

Davon ausgehend wendet sich die Verfahrensrüge (Z 3) wegen Fehlens der von § 252 Abs 1 Z 1 StPO geforderten Voraussetzungen im Ergebnis zu Recht gegen die in der Hauptverhandlung erfolgte Verlesung der für den Schuldspruch I./A./2./ maßgeblichen Zeugenaussage (vgl US 9).

§ 252 Abs 1 StPO sichert das ‑ mit dem Fragerecht nach Art 6 Abs 3 lit d MRK normativ verknüpfte ‑ strafprozessuale Unmittelbarkeitsprinzip gegen Unmittelbarkeitssurrogate ab (RIS‑Justiz RS0118778). § 252 Abs 1 Z 1 StPO sieht Ausnahmen vom Verlesungsverbot wegen der Unmöglichkeit, die persönliche Vernehmung eines Zeugen (oder Mitbeschuldigten) vor dem erkennenden Gericht etwa wegen Krankheit oder Gebrechlichkeit oder entfernten Aufenthalts zu bewerkstelligen, vor. Die Frage, welche Anstrengungen ein Gericht zur Ladung eines Zeugen unternehmen muss, bevor es davon ausgehen kann, dass dessen persönliches Erscheinen „füglich nicht bewerkstelligt werden konnte“ (§ 252 Abs 1 Z 1 StPO), kann immer nur nach Lage des konkreten Einzelfalls beurteilt werden, wobei die Verlesungsvoraussetzungen umso restriktiver zu handhaben sind, je wichtiger der fragliche Zeugenbeweis ‑ insbesondere unter Berücksichtigung der übrigen Verfahrensergebnisse (vgl RIS‑Justiz RS0074930) ‑ für die Wahrheitsfindung ist und je schwerer der dem Angeklagten zur Last liegende Vorwurf wiegt (RIS‑Justiz RS0108361).

Steht der leugnenden Verantwortung des Angeklagten ‑ wie hier ‑ nur die Aussage der einzigen Belastungszeugin entgegen, kommt der persönlichen Vernehmung des Opfers besondere Bedeutung zu. Davon ausgehend unternahm das Gericht fallbezogen keine ausreichenden Versuche, um das persönliche Erscheinen der Zeugin zu veranlassen. Welche Gründe der Anreise der Zeugin mit einem Transportmittel entgegen stehen würden, wurde nicht abgeklärt. Gemäß § 221 Abs 3 zweiter Halbsatz StPO hätte die Hauptverhandlung zum Zweck der Wahrheitsfindung auch an einem anderen im Sprengel des Landesgerichts gelegenen Ort, etwa in Tamsweg, durchgeführt werden können, oder die durch Krankheit bzw Gebrechlichkeit glaubhaft verhinderte, für die Beurteilung der Schuldfrage aber ausschlaggebende Zeugin nach § 248 Abs 1 StPO iVm § 160 Abs 1 zweiter Satz StPO in ihrer Wohnung oder an ihrem sonstigen Aufenthaltsort befragt werden können. Dadurch hätten auch die Interessen der Zeugin und der Wahrheitsfindung mit dem in Art 6 Abs 3 lit d MRK verankerten Verteidigungsrecht des Angeklagten akkordiert und der Verteidigung die Gelegenheit eingeräumt werden können, die Glaubwürdigkeit der Belastungszeugin Emma W***** durch Befragung in Zweifel zu ziehen (vgl zur Rechtsprechung des EGMR Meyer‑Ladewig , MRK 3 Rz 150). Das Vorliegen des Verlesungstatbestands des § 252 Abs 1 Z 1 StPO konnte somit zumindest derzeit noch nicht zu Recht angenommen werden (vgl Kirchbacher , WK‑StPO § 252 Rz 62, 63; RIS‑Justiz RS0108361). Der Vollständigkeit halber ist in diesem Zusammenhang auf die ‑ allerdings auch ein Surrogat darstellende ‑ Möglichkeit der Vernehmung der Zeugin mittels Videokonferenz (§ 247a Abs 1 StPO) hinzuweisen, welche im Fall der Zustimmung der Beteiligten zur Vermeidung eines Reiseaufwands auch indiziert wäre (vgl 13 Os 135/11v, EvBl 2012, 320; vgl Kirchbacher , WK‑StPO § 247a, Rz 8 f).

Die entgegen § 252 Abs 1 StPO vorgenommene Verlesung verstößt gegen das ‑ durch § 281 Abs 1 Z 3 StPO abgesicherte ‑ Umgehungsverbot des § 252 Abs 4 StPO und erfordert demnach die Kassation des Schuldspruchs.

Betreffend den Schuldspruch I./A./1./ kritisiert der Beschwerdeführer (Z 4) zu Recht die Abweisung seines zur Entlastung geführten Antrags (ON 31 S 38) auf Vernehmung der Tatzeugin Sylvia R***** wegen angeblicher Unerheblichkeit sowie wegen geklärter Sach‑ und Rechtslage (ON 31 S 37).

Dem Amtsvermerk des Stadtpolizeikommandos Salzburg vom 31. August 2011 zufolge trat Sylvia R***** bei der Sachverhaltsaufnahme unmittelbar nach der Tat an die Polizeibeamten heran und teilte mit, den Vorfall zum Teil beobachtet und einen der beiden Tatverdächtigen als den in der G***** wohnhaften H***** erkannt zu haben (ON 11 S 31). Bei ihrer späteren telefonischen Befragung behauptete sie, Christian H***** zufolge starker Kurzsichtigkeit und mangels Tragens einer Brille nicht identifizieren zu können (ON 11 S 37).

Anträge auf Vernehmung von Tatzeugen zur Entlastung eines leugnenden Angeklagten dürfen grundsätzlich nicht abgelehnt werden. Lediglich solche Umstände, die ausnahmsweise zur gesicherten Annahme führen, dass die verlangte Beweisaufnahme keinesfalls zur Wahrheitsforschung beitragen kann, rechtfertigen die Ablehnung solcher Anträge (vgl RIS‑Justiz RS0075016). Vorliegend hat die Zeugin R***** den Täter unmittelbar nach der Tat angeblich eindeutig erkannt und namentlich bezeichnet. Da sie später behauptete, ihn wegen ihrer Kurzsichtigkeit und dem Nichttragen einer Brille nicht identifizieren zu können, kann aufgrund dieses aktenkundigen Widerspruchs eine Entlastung des Angeklagten durch die Aussage der Zeugin nicht ausgeschlossen werden.

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde ‑ und in teilweiser Übereinstimmung mit dem Croquis der Generalprokuratur ‑ war daher das angefochtene Urteil sowie der gemäß § 494a StPO gefasste Beschluss spruchgemäß aufzuheben, eine neue Hauptverhandlung anzuordnen und im Umfang der Aufhebung die Sache an das Erstgericht zu verweisen (§ 285e StPO).

Mit seiner Berufung und der Beschwerde (§ 498 Abs 3 StPO) war der Angeklagte auf diese Entscheidung zu verweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

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