OGH 13Os135/11v

OGH13Os135/11v15.12.2011

Der Oberste Gerichtshof hat am 15. Dezember 2011 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher und Dr. Lässig, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Ludwig als Schriftführer im Verfahren zur Unterbringung des Christopher H***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Betroffenen gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Schöffengericht vom 17. August 2011, GZ 25 Hv 69/11k‑51, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Innsbruck zugeleitet.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil ordnete das Landesgericht Innsbruck die Unterbringung des Christopher H***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB an, weil er unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB), der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad, nämlich einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie, beruhte, Samy S***** eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB) absichtlich zuzufügen versuchte und dadurch das Verbrechen der absichtlichen schweren Körperverletzung nach §§ 15, 87 Abs 1 StGB beging, indem er ihm ohne ersichtlichen Grund eine glühende Zigarette in das linke Auge gedrückt hat, wodurch das Opfer verbrannte Wimpern im Bereich des Ober- und Unterlids, gereizte Augenbindehäute und kleine Hornhautverletzungen am linken Auge erlitt.

Rechtliche Beurteilung

Der dagegen aus den Gründen des § 281 Abs 1 Z 4, 5, 5a und 10 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde des Betroffenen kommt keine Berechtigung zu.

Im Rahmen der Verfahrensrüge (Z 4) reklamiert der Beschwerdeführer einerseits die Abweisung seines Antrags auf Vernehmung des Opfers als Zeugen zum Beweis dafür, dass der Betroffene nicht mit auf Zufügung einer schweren Körperverletzung gerichteter Absicht gehandelt habe (ON 50 S 10), und andererseits (der Sache nach Z 3) eine Umgehung der Bestimmungen über das beschränkte Verlesungsverbot (§ 252 Abs 1 und Abs 4 StPO) durch die ‑ ausdrücklich auf § 252 Abs 1 Z 1 StPO gestützte (vgl ON 50 S 11 f) ‑ Verlesung eines Amtsvermerks über die von der Kriminalpolizei durchgeführte Befragung des Opfers (ON 4 S 71). Er spricht damit das von Art 6 Abs 3 lit d MRK garantierte Recht an, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken. Dieses Recht ist nach ständiger Rechtsprechung des EGMR und des Obersten Gerichtshofs kein absolutes und kann bestimmten Beschränkungen unterworfen werden (Grabenwarter, EMRK4 § 24 Rz 114 mwN; Kühne IntKomm EMRK Art 6 Rz 602 ff; Meyer-Ladewig, EMRK3 Art 6 Rz 247; RIS-Justiz RS0074930).

Auf einfachgesetzlicher Ebene finden sich Absicherung und Einschränkungen dieser Konventionsgarantie für das gerichtliche Strafverfahren im hier maßgeblichen Zusammenhang in §§ 247a und 252 iVm § 281 Abs 1 Z 3 und 4 StPO.

§ 252 Abs 1 Z 1 StPO sieht Ausnahmen vom Verlesungsverbot wegen Unmöglichkeit, die persönliche Vernehmung eines Zeugen (oder Mitbeschuldigten) vor dem erkennenden Gericht zu bewerkstelligen, vor. Eine entgegen den dort normierten Voraussetzungen vorgenommene Verlesung verstößt gegen das ‑ durch § 281 Abs 1 Z 3 StPO abgesicherte ‑ Umgehungsverbot des § 252 Abs 4 StPO.

Das ungeachtet einer Verlesung des Protokolls über die Vernehmung eines Zeugen bestehende Recht des Angeklagten, diesen Zeugen ‑ in den Fällen des § 247a Abs 1 und Abs 2 StPO unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung (Videokonferenz) ‑ (ergänzend) zu befragen, schützt § 281 Abs 1 Z 4 StPO, dessen erfolgreiche Geltendmachung die Entscheidung des Schöffengerichts über einen entsprechenden, in der Hauptverhandlung gestellten Antrag voraussetzt (Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 302 f).

Fallbezogen liegt eine Umgehung der Bestimmungen über das beschränkte Verlesungsverbot durch die ‑ ausdrücklich auf § 252 Abs 1 Z 1 StPO gestützte (vgl ON 50 S 11 f) ‑ Verlesung des genannten Amtsvermerks nicht vor. Die Frage, welche Anstrengungen ein Gericht zur Ladung eines Zeugen unternehmen muss, bevor es davon ausgehen kann, dass dessen persönliches Erscheinen „füglich nicht bewerkstelligt werden konnte“ (§ 252 Abs 1 Z 1 StPO), kann immer nur nach Lage des konkreten Einzelfalls beurteilt werden, wobei die Verlesungsvoraussetzungen umso restriktiver zu handhaben sind, je wichtiger der fragliche Zeugenbeweis ‑ insbesondere unter Berücksichtigung der übrigen Verfahrensergebnisse (vgl RIS-Justiz RS0074930) ‑ für die Wahrheitsfindung ist und je schwerer der dem Angeklagten zur Last liegende Vorwurf wiegt (RIS‑Justiz RS0108361). Vorliegend war die persönliche Vernehmung des Opfers in der Hauptverhandlung ‑ wie das Erstgericht zutreffend erkannte (US 7) ‑ aus den unten im Zusammenhang mit der Abweisung des Beweisantrags dargestellten Gründen von untergeordneter Bedeutung. Die über einen Zeitraum von beinahe drei Monaten ohne Ergebnis gebliebene Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung im Inland und eine erfolglose Ladung an einer (danach aktenkundig gewordenen) Adresse in Italien, auf die das Opfer ‑ trotz gegenteiliger, dem Vorsitzenden zuvor telefonisch gegebener Zusicherung (vgl ON 44) ‑ nicht reagierte, stellen fallbezogen unter Berücksichtigung des Umstands, dass die zwangsweise Vorführung eines im Ausland befindlichen Zeugen vor das erkennende Gericht nicht in Betracht kommt (vgl 15 Os 83/11m), die Verlesungsvoraussetzungen des § 252 Abs 1 Z 1 StPO her. Die allenfalls ‑ im Verhältnis zu Italien (welches das Übereinkommen vom 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der EU [EU-RHÜ] nicht anwendet) nur auf der Basis von Gegenseitigkeit (vgl Europäisches Justizielles Netzwerk, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Justiz Band 135, 101) ‑ bestehende Möglichkeit, die Vernehmung gemäß § 247a Abs 2 StPO im Wege einer Videokonferenz in Italien durchzuführen, ändert nichts daran (Kirchbacher, WK-StPO § 247a Rz 8 f und § 252 Rz 64).

Der weiteren Verfahrensrüge (Z 4) zuwider führte die Abweisung des Antrags auf Vernehmung des Opfers zu keiner Beeinträchtigung von Verteidigungsrechten. Der objektive Tathergang wurde vom Beschwerdeführer in der Hauptverhandlung nämlich nicht in Abrede gestellt (ON 50 S 5). Unter Berücksichtigung der Aussagen der weiteren Tatzeuginnen, wonach das Opfer den Beschwerdeführer vor der Tat gar nicht wahrgenommen und deshalb auch keinerlei Abwehrreaktion gezeigt habe (ON 40 S 7 f und 9), war dessen (ergänzende) Vernehmung ausschließlich zur Frage der subjektiven Tatseite auf unzulässige Erkundungsbeweisführung gerichtet (vgl RIS‑Justiz RS0107040). Dass das Erstgericht selbst zunächst offenbar von der Erheblichkeit des Beweisthemas ausging, ist und daher die Hauptverhandlung zum Zweck der Vernehmung vertagte (vgl ON 40 S 15), bindet den Obersten Gerichtshof bei seiner Beurteilung nicht (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 341).

Hinzu kommt, dass die begehrte Beweisaufnahme auch an der ‑ bereits dargestellten ‑ Unerreichbarkeit des Beweismittels scheiterte. Eine Vernehmung in Form einer Videokonferenz (im Rechtshilfeweg), wurde nicht beantragt. Ein solches Begehren ist dem Antrag auch nicht ohne weiteres zu unterstellen, weil eine derartige Vernehmung ‑ wie sich aus § 247a StPO und Art 10 Abs 3 und letzter Absatz EU‑RHÜ unzweifelhaft ergibt ‑ bloß ein Surrogat der unmittelbaren, persönlichen Befragung vor dem erkennenden Gericht darstellt und dem Antragsgegenstand daher nicht gleichzuhalten ist.

Mit den ‑ im Übrigen keinen erheblichen Umstand betreffenden (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 409) ‑ Angaben des Beschwerdeführers, das Opfer habe ihn (einige Zeit) vor der Tat „mit einem Leuchtstab belästigt“, haben sich die Tatrichter der insoweit Unvollständigkeit reklamierenden Mängelrüge (Z 5 zweiter Fall) zuwider ohnehin auseinandergesetzt (US 6). Das in diesem Zusammenhang im Rahmen der Tatsachenrüge (Z 5a) vorgetragene Argument, es handle „derjenige regelmäßig aber nicht mit Absicht, der sich in einer Auseinandersetzung mit dem Opfer befindet“, ist nicht nachvollziehbar.

Was an der Feststellung zur Tathandlung, der Beschwerdeführer habe dem Opfer „zielstrebig“ eine „glühende Zigarette in das linke Auge gedrückt“ (US 4), undeutlich sein soll, vermag die weitere Mängelrüge (Z 5 erster Fall) nicht darzulegen.

Die Tatsachenrüge (Z 5a) entwickelt ihren Einwand, die festgestellten Verletzungsfolgen (vgl US 4: verbrannte Wimpern, gereizte Augenbindehäute und kleine Hornhautverletzungen am linken Auge) sprächen gegen den vom Erstgericht angenommenen Tathergang, nicht aus den Akten (vgl RIS-Justiz RS0117961, RS0117446). Die auf diesen Feststellungen aufbauenden, eigenständigen Erwägungen zur (nach Ansicht des Beschwerdeführers nicht erfüllten) subjektiven Tatseite bekämpfen bloß die tatrichterliche Beweiswürdigung nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren unzulässigen Schuldberufung.

Die erneut Absicht und somit das Vorliegen einer von § 21 Abs 1 StGB vorausgesetzten (nämlich mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedrohten) Anlasstat in Abrede stellende Subsumtionsrüge (Z 10) nimmt prozessordnungswidrig nicht auf die unmissverständlichen Feststellungen zur subjektiven Tatseite Bezug (US 4), die ‑ dem weiteren Einwand zuwider (der Sache nach Z 5 vierter Fall) ‑ unter dem Aspekt der Begründungstauglichkeit unbedenklich auf das vom Beschwerdeführer gezeigte Verhalten gestützt wurden (US 7; RIS-Justiz RS0098671).

Aus der Zurückweisung der Nichtigkeitsbeschwerde schon bei der nichtöffentlichen Beratung (§ 285d Abs 1 StPO) folgt die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung (§ 285i StPO).

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