OGH 10ObS17/12s

OGH10ObS17/12s13.3.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Zeitler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Ernst Bassler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei F*****, vertreten durch Ganzert & Partner OG, Rechtsanwälte in Wels, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 20. Dezember 2011, GZ 11 Rs 191/11d-26, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom 5. Oktober 2011, GZ 19 Cgs 308/10b-22, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat ihre Kosten des Rechtsmittelverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 9. 1. 1954 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. In den Zeiträumen 1. 2. 1996 bis 25. 9. 1998 und 1. 7. 1999 bis 30. 9. 2006 arbeitete er in einer Molkerei bzw einer Lebensmittelhandelskette. Er hatte als Hilfsarbeiter in der Warenmanipulation (vorwiegend im Lagerbereich, aber auch in der Produktion) ca 30 % der Arbeitszeit leichte, 60 % mittelschwere und 10 % schwere Arbeiten zu verrichten.

In den letzten 15 Jahren vor dem 1. 2. 2011 hat der Kläger 118 Beitragsmonate (und 25 Tage) erworben. Seit 1. 10. 2006 ist er beschäftigungslos.

Aufgrund der näher festgestellten medizinischen Leidenszustände (insb wegen der verminderten Trageleistung von 5 kg) ist der Kläger nicht mehr in der Lage, die zur Tätigkeit eines Lagerbediensteten im Lebensmittelhandel und der Lebensmittelproduktion (der zu mittelschweren Arbeiten befähigt sein muss) zu verrichten. Möglich und zumutbar sind ihm jedoch noch am allgemeinen Arbeitsmarkt bewertete Tätigkeiten wie etwa Verpackungstätigkeiten, Tischarbeiten, Tischmontagen, leichte Fertigungsarbeiten oder einfache Kontroll- und Aufsichtstätigkeiten.

Mit Bescheid vom 16. 10. 2010 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab.

Das Erstgericht wies die vom Kläger dagegen erhobene, auf die Gewährung der abgelehnten Leistung ab 1. 8. 2010 - allenfalls ab 1. 2. 2011 - gerichtete Klage ab. Der Kläger sei nicht invalid iSd § 255 Abs 3 ASVG, weil er noch die angeführten Verweisungstätigkeiten verrichten könne. Er habe auch keinen Anspruch auf Invaliditätspension nach § 255 Abs 4 ASVG nach Vollendung des 57. Lebensjahrs, weil er das Kriterium der 120 Beitragsmonate in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag nicht erfülle. Krankenstände während der Arbeitslosigkeit seien irrelevant. Sie wären im Höchstausmaß von 24 Monaten nur dann anzurechnen, wenn in den jeweiligen Krankenstandsperioden ein Entgeltanspruch gegen den Arbeitgeber bestehe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. In rechtlicher Hinsicht führte es aus, durch die ergänzende neue Wortfolge des § 255 Abs 4 Z 2 ASVG idF Budgetbegleitgesetz 2011 (BGBl I Nr 111/2010) sei die Judikatur vor der Gesetzesänderung in Frage gestellt, wonach Zeiten des Bezugs von Krankengeld nicht als Zeiten der Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit iSd § 255 Abs 4 ASVG gewertet und daher nicht auf die nach dieser Gesetzesstelle erforderliche Mindestdauer der Ausübung der Tätigkeit von 120 Kalendermonaten angerechnet werden könnten (vgl zuletzt 10 ObS 2/08d mwN), lediglich kurzfristige Unterbrechungen, wie im Urlaub oder Krankenstand, zu vernachlässigen seien, Zeiten eines Krankengeldbezugs (im Gegensatz zu Zeiten der Entgeltfortzahlung durch den Dienstgeber) hingegen nicht zu berücksichtigen seien (10 ObS 91/07s mwN).

Nach der ausdrücklichen Anordnung des § 255 Abs 4 Z 2 ASVG seien seit 1. 1. 2011 auch Monate des Bezugs von Krankengeld nach § 138 ASVG im Höchstausmaß von 24 Monaten auf die gemäß § 255 Abs 4 Satz 1 ASVG geforderten 120 Kalendermonate anzurechnen. Nach den zitierten Gesetzesmaterialien gelte dies jedoch nur für Krankengeldbezugszeiten aus der „Erwerbstätigkeit“, daher nicht auch für jene Zeiträume des Krankengeldbezugs, in denen die Arbeitsunfähigkeit nicht während eines aufrechten Arbeitsverhältnisses oder innerhalb der Schutzfrist des § 122 Abs 2 Z 2 ASVG, sondern erst während des Arbeitslosengeldbezugs eingetreten sei. Trete nämlich die Arbeitsunfähigkeit nicht während eines aufrechten Arbeitsverhältnisses oder innerhalb der Schutzfrist des § 122 Abs 2 Z 2 ASVG, sondern erst während der Arbeitslosigkeit ein, fehle es am Kriterium der Ähnlichkeit der ausgeübten Tätigkeit bzw infolge Krankheit vorübergehend nicht ausübbaren Tätigkeit, um von „einer“ Tätigkeit iSd § 255 Abs 4 ASVG ausgehen zu können; werde doch während der Dauer des Arbeitslosengeldbezugs der Eintritt der Arbeitsunfähigkeit nach den Verweisungsbestimmungen des pensionsrechtlichen Invaliditäts- bzw Berufsunfähigkeits-begriffs bestimmt (Sonntag, ASVG², 138 Rz 11). Andernfalls käme es auch zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Besserstellung von kranken gegenüber gesunden Arbeitslosen.

Nach dem vom Kläger selbst vorgelegten Versicherungsdatenauszug der Beklagten vom 6. 6. 2011 (Beilage ./A) seien jene Zeiträume des Krankengeldbezugs, die der Berufungswerber zusätzlich berücksichtigt wissen wolle (nämlich vom 16. 2. bis 22. 2. 1999, vom 12. 11. bis 24. 11. 2006, vom 30. 11. 2006 bis 5. 6. 2007 sowie vom 22. 2. 2008 bis 19. 2. 2009) nicht während einer Erwerbstätigkeit oder unmittelbar im Anschluss an eine Erwerbstätigkeit oder unmittelbar vor Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit des Klägers eingetreten, sondern nach einem Arbeitslosengeldbezug, der am 14. 10. 1998 begonnen und - lediglich vom Krankengeldbezug unterbrochen - bis 30. 6. 1999 gedauert, bzw am 1. 10. 2006 begonnen und - mit Unterbrechungen durch Krankengeldbezug schlussendlich - bis 30. 5. 2009 angedauert habe. Diese zusätzlichen Zeiten des Krankengeldbezugs habe das Erstgericht zu Recht nicht auf die geforderten 120 Kalendermonate der Ausübung einer Tätigkeit nach § 255 Abs 4 ASVG angerechnet und dem Kläger daher einen Tätigkeitsschutz versagt.

Die ordentliche Revision sei zulässig, weil zur Auslegung des § 255 Abs 4 ASVG idF des Budgetbegleitgesetzes 2011, BGBl I Nr 111/2010 noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung vorliege.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht angeführten Grund zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

1. Der Kläger zieht nicht in Zweifel, dass bei ihm keine Invalidität iSd § 255 Abs 3 ASVG vorliegt, weil er noch die von den Vorinstanzen genannten Verweisungstätigkeiten verrichten kann. Ohne auf die (auch mit dem Hinweis auf die Gesetzesmaterialien näher begründeten) Ausführungen des Berufungsgerichts einzugehen, macht der Revisionswerber allein geltend, die Vorinstanzen hätten die „zusätzlichen“ (vom Berufungsgericht im Einzelnen dargestellten) Zeiten des Krankengeldbezugs zu Unrecht nicht angerechnet, obwohl diese Zeiträume, in denen der Kläger Krankengeld bezogen habe, relevante „Beitragsmonate“ seien, eine „homogene Tätigkeit“ iSd § 255 Abs 4 Z 2 ASVG darstellten und daher „dazuzuzählen“ gewesen wären.

Diesen Ausführungen ist Folgendes entgegenzuhalten:

2. Nach § 255 Abs 4 ASVG gilt ein Versicherter, der das 57. Lebensjahr vollendet hat, als invalid, wenn er infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte außer Stande ist, einer Tätigkeit, die er in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag mindestens 120 Kalendermonate hindurch ausgeübt hat, nachzugehen. Dabei sind zumutbare Änderungen dieser Tätigkeit zu berücksichtigen.

3. Bezüglich der allein strittigen Invalidität nach § 255 Abs 4 ASVG entspricht es ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats (RIS-Justiz RS0118621; RS0122063; RS0122455), dass diese Regelung nicht auf das Vorliegen von 120 „Beitragsmonaten“ in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag, sondern darauf abstellt, dass die Ausübung „einer“ Tätigkeit in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag mindestens 120 Kalendermonate hindurch erfolgte (10 ObS 18/10k, SSV-NF 24/36; 10 ObS 113/10f). Dabei sind in analoger Anwendung des § 133 Abs 2 letzter Satz GSVG jeweils 30 Kalendertage zu einem Monat zusammenzufassen. Kurzfristige Unterbrechungen wie durch Urlaub oder Krankenstand sind zu vernachlässigen. Zeiten eines Krankengeldbezugs waren hingegen (im Gegensatz zu Zeiten der Entgeltfortzahlung durch den Dienstgeber) nicht zu berücksichtigen (RIS-Justiz RS0117787; 10 ObS 264/02z, SSV-NF 18/15 = SZ 2004/37; 10 ObS 79/04x; 10 ObS 62/04x, SSV-NF 18/70; 10 ObS 91/07s, SSV-NF 21/60 mwN).

4. Mit dem Budgetbegleitgesetz 2011 (BGBl I Nr 111/2010) wurde der Bestimmung des § 255 Abs 4 ASVG ein dritter Satz mit folgendem Wortlaut angefügt:

Fallen in den Zeitraum der letzten 180 Kalendermonate vor dem Stichtag

1. […];

2. Monate des Bezugs von Krankengeld nach § 138, so sind diese im Höchstmaß von 24 Monaten auf die im ersten Satz genannten 120 Kalendermonate anzurechnen.“

4.1. Nach den Gesetzesmaterialien sollten zur Erleichterung der Erlangung des in § 255 Abs 4 ASVG geregelten besonderen Tätigkeitsschutzes nunmehr auf die 120 (Kalender-)Monate auch Krankengeldbezugszeiten „aus der Erwerbstätigkeit“ im Ausmaß von höchstens 24 Monaten angerechnet werden. Solche Zeiten des Krankengeldbezugs sollten also in die zu berücksichtigenden 10 Jahre eingerechnet werden (ErläutRV 981 BlgNR 24. GP 206). Darauf hat bereits das Berufungsgericht - zutreffend - hingewiesen.

5. Entgegen dem nicht begründeten gegenteiligen Standpunkt der Revision ist daher auch in der Rechtsansicht keine Fehlbeurteilung zu erblicken, dass aufgrund der im vorliegenden Fall vom Erstgericht getroffenen Feststellungen, des Akteninhalts und des eigenen Prozessvorbringens des Klägers, dieser im maßgebenden Zeitraum vor dem Stichtag (1. 2. 2011) eben nicht durch mindestens 120 Kalendermonate hindurch „eine“ Tätigkeit iSd § 255 Abs 4 ASVG ausgeübt hat:

5.1. Sämtliche Krankengeldbezugszeiten, deren zusätzliche Berücksichtigung der Kläger weiterhin anstrebt, betreffen nämlich unstrittig Zeiträume, in denen er längst arbeitslos war. Sie stammen also nicht „aus der Erwerbstätigkeit“ und sind daher - auch nach der Intention der Neuregelung des § 255 Abs 4 Z 2 ASVG - nicht auf die erforderliche Mindestdauer von 120 Kalendermonaten anzurechnen.

5.2. Dies ergibt - wie die Revisionsbeantwortung zutreffend aufzeigt - auch die systematisch-historische Berücksichtigung der beiden Vorgängerbestimmungen (§ 253d ASVG und des § 255 Abs 4 ASVG aF):

5.3. Die Einführung des § 255 Abs 4 ASVG (also eines besonderen Tätigkeitsschutzes nach Vollendung des 57. Lebensjahrs) erfolgte gleichzeitig mit der Aufhebung der vorzeitigen Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit gemäß § 253d ASVG durch das SVÄG 2000 (vgl dazu Sonntag in Sonntag, ASVG², 2011, § 255 Rz 140 ff). Auch nach der Novellierung der Voraussetzungen des besonderen Tätigkeitsschutzes gemäß § 255 Abs 4 Z 2 ASVG (bezüglich der für die Ausübung „einer“ Tätigkeit maßgebenden Zeiten) soll daher offenbar nicht jeder, sondern nur ein solcher Bezug von Krankengeld (durch maximal 24 Monate) angerechnet werden, der einer entsprechenden „Erwerbstätigkeit“ zuzuordnen ist; käme es doch andernfalls auch zu einer Besserstellung von kranken gegenüber gesunden Arbeitslosen, für die keine sachliche Rechtfertigung ersichtlich ist.

Der Revision des Klägers muss daher ein Erfolg versagt bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Berücksichtigungswürdige Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers, die den ausnahmsweisen Kostenzuspruch nach Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden nicht dargetan und sind aus der Aktenlage nicht ersichtlich.

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