OGH 10ObS104/11h

OGH10ObS104/11h8.11.2011

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter KR Mag. Paul Kunsky (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Andrea Eisler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*****, vertreten durch Dr. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. Juli 2011, GZ 10 Rs 70/11d-45, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

1. Der Antrag der Klägerin, eine mündliche Revisionsverhandlung durchzuführen, wird abgewiesen.

2. Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Begründung

Rechtliche Beurteilung

1. Der Oberste Gerichtshof hat in seiner Entscheidung 10 ObS 138/09f, SSV-NF 23/72 (= EvBl 2010/31, 224 [Reisenhofer] = DRdA 2011/38, 380 [B. Födermayr]) ausführlich begründet, dass sich die Bestimmung des § 8 Abs 3 AlVG in der Fassung vor dem Inkrafttreten des SRÄG 2010, BGBl I 2010/62, nur an die regionalen Geschäftsstellen des Arbeitsmarktservice einerseits und die Sozialversicherungsträger andererseits wandte und die im Rahmen der sukzessiven Kompetenz ebenfalls mit der Beurteilung befassten Arbeits- und Sozialgerichte von dieser Bestimmung nicht erfasst wurden. Die Arbeits- und Sozialgerichte haben vielmehr im Rahmen ihrer sukzessiven Zuständigkeit über die mit einer Klage vom Versicherten geltend gemachten sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche nach Abschluss des mit einem über die sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche des Versicherten absprechenden Bescheid des Versicherungsträgers beendeten Verwaltungsverfahrens in einem eigenen selbständigen Verfahren zu entscheiden. Der Oberste Gerichtshof hat sich in dieser erwähnten Vorentscheidung 10 ObS 138/09f mit der auch im gegenständlichen Verfahren allein noch strittigen Rechtsfrage einer allfälligen Bindungswirkung eines bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit durch das Arbeitsmarktservice erstellten ärztlichen Gutachtens für das sozialgerichtliche Verfahren über die Gewährung einer Invaliditätspension umfassend auseinandergesetzt und hat eine solche Bindungswirkung im Sinne einer gesetzlichen Beweisregel ausdrücklich verneint, da damit der Grundsatz der freien Beweiswürdigung außer Kraft gesetzt würde. Diese Rechtsansicht wurde in der Entscheidung 10 ObS 157/10a ausdrücklich aufrecht erhalten und eine außerordentliche Revision des damaligen Klägers unter Hinweis auf die ausführlich begründete Vorentscheidung 10 ObS 138/09f mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückgewiesen.

2. Die von der Revisionswerberin in ihrem Rechtsmittel vorgebrachten Argumente vermögen ein Abgehen von dieser ständigen Rechtsprechung nicht zu rechtfertigen.

2.1 Gegen eine Bindung der Sozialgerichte an ein vom Arbeitsmarktservice eingeholtes Gutachten über die Arbeitsfähigkeit der Klägerin spricht schon der völlig eindeutige Gesetzeswortlaut des § 8 Abs 3 AlVG idF vor dem SRÄG 2010, BGBl I 2010/62, wonach sich diese Norm an die Geschäftsstellen des Arbeitsmarktservice einerseits und die Sozialversicherungsträger andererseits richtete. Nunmehr wurde durch das SRÄG 2010, BGBl I 2010/62, diese Norm sogar dahin eingeschränkt, dass das Arbeitsmarktservice ärztliche Gutachten von Personen zur Beurteilung ihrer Arbeitsfähigkeit, die von der Pensionsversicherungsanstalt im Rahmen der sogenannten „Gesundheitsstraße“ erstellt wurden, anzuerkennen hat, während eine Verpflichtung der Pensionsversicherungsanstalt zur Anerkennung der Gutachten aus dem AlVG nicht mehr vorgesehen ist. Darüber hinaus sprechen auch systematische Überlegungen gegen eine entsprechende Bindung der Gerichte. So ist § 8 AlVG von den Gerichten auch im Rahmen ihrer sukzessiven Zuständigkeit bei der Beurteilung des Anspruchs auf eine Pension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit eines Versicherten nicht anzuwenden. Weiters dürfen die Sozialgerichte, da es sich beim Verfahren vor dem Sozialversicherungsträger und vor dem Sozialgericht um zwei völlig eigenständige Verfahren handelt und die Sozialgerichte nicht wie Behörden zweiter Instanz die Bescheide überprüfen, auch nicht an die im Verwaltungsverfahren erstellten Gutachten gebunden sein. Werden die Gutachten von einer Partei im gerichtlichen Verfahren vorgelegt, sind sie im Rahmen der freien Beweiswürdigung zu berücksichtigen (vgl B. Födermayr in ihrer Entscheidungsbesprechung in DRdA 2011/38, 381 f). Es läge auch ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Trennung von Justiz und Verwaltung (Art 94 B-VG) vor, wenn das Sozialgericht in jenem Umfang, in dem der Bescheid außer Kraft getreten und die Entscheidungsbefugnis auf das Sozialgericht übergegangen ist, an irgendwelche Teilergebnisse des vorangegangenen Verwaltungsverfahrens gebunden wäre. Es ist dem Sozialgericht vielmehr verwehrt, seine Entscheidung auf den Ergebnissen des Verwaltungsverfahrens aufzubauen (vgl Fink, Die sukzessive Zuständigkeit in Verfahren in Sozialrechtssachen 45 und 84 mwN).

2.2 Entgegen der Ansicht der Revisionswerberin kann auch § 71 Abs 2 ASGG, der eine Besonderheit der Wirkungen einer Leistungsklage im Rahmen der sukzessiven Zuständigkeit regelt, nicht als Begründung für die Verpflichtung der Verwendung von Gutachten, die die Pensionsversicherungsanstalt bzw das Arbeitsmarktservice in ihren Verfahren erstellt haben, von den Sozialgerichten herangezogen werden. § 71 Abs 2 ASGG fingiert das unwiderrufliche Anerkenntnis der im Bescheid zuerkannten Leistung. Aus dieser Bestimmung kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass sich das Gericht Gutachten bedienen müsste, zu deren Anerkennung die Pensionsversicherungsanstalt gemäß § 8 Abs 3 AlVG aF im Verfahren verpflichtet war. Dies wäre, wie bereits erwähnt, mit den Grundsätzen der sukzessiven Zuständigkeit der Gerichte nicht vereinbar, da es dadurch jedenfalls zu einer verfassungswidrigen Vermengung von Justiz und Verwaltung käme (vgl B. Födermayr in ihrer Entscheidungsbesprechung in DRdA 2011/38, 381 f [382]).

2.3 Wie B. Födermayr aaO 383 zutreffend aufzeigt, ist auch durch die wechselseitige Bindung des Arbeitsmarktservice und der Pensionsversicherungsanstalt (bzw seit den Änderungen durch das SRÄG 2010 die Bindung des Arbeitsmarktservice) an die eingeholten Gutachten nicht in jeden Fall sichergestellt, dass bei Vorliegen von Arbeitsfähigkeit das Arbeitsmarktservice Arbeitslosengeld zuspricht und im umgekehrten Fall von der Pensionsversicherungsanstalt die Pension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit zuerkannt wird. Es bedürfte dazu vielmehr einer umfassenden Umstrukturierung der derzeit geltenden Systeme der Arbeitslosen- und Pensionsversicherung.

3. Da der erkennende Senat auch nicht die von der Revisionswerberin in diesem Zusammenhang gegen die geltende Gesetzeslage vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken teilt, besteht auch keine Veranlassung für eine entsprechende Antragstellung an den Verfassungsgerichtshof.

4. Die Anberaumung einer mündlichen Revisionsverhandlung steht im Ermessen des Obersten Gerichtshofs (vgl 10 ObS 414/02h mwN ua). Ein Anlass dazu ist jedoch im vorliegenden Fall nicht erkennbar.

Auch der von der Revisionswerberin ausdrücklich begehrte Zuspruch der Revisionskosten nach Billigkeit (§ 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG) kommt im Hinblick auf die zur gegenständlichen Rechtsfrage bereits vorliegende ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht in Betracht.

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