Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Text
B e g r ü n d u n g :
Rosina G***** (folgend: Betroffene) war im Dezember 2007 gemäß § 8 UbG in die Landesnervenklinik Graz eingewiesen worden. Sie hatte in einer völlig desolaten und verschmutzten Wohnung gelebt, war verwahrlost, nur teilorientiert und nicht kontaktfähig. Der zuständige Distriktsarzt attestierte bei der Betroffenen Verwahrlosung, Alkoholabusus und keinerlei Krankheitseinsicht.
Die psychologische Begutachtung der Betroffenen im Sachwalterbestellungsverfahren Mitte 2008 ergab eine schwer ausgeprägte Demenz vom Alzheimer Typ und chronischen Alkoholmissbrauch. Im Mini-Mental-Test erzielte die Betroffene 15 von 30 Punkten. Es zeigten sich Störungen des Kurzzeit- und des Altgedächtnisses. Über ihre finanziellen Angelegenheiten hatte die Betroffene keinen Überblick, ihre gesundheitliche Situation konnte sie nicht einschätzen; sie war auf eine Rund-um-die-Uhr-Pflege/Betreuung angewiesen.
Aufgrund der späteren kontinuierlichen Betreuung der Betroffenen im Seniorenkompetenzzentrum F***** stellte sich eine Besserung ihres Gesundheitszustands ein; es fehlte der Betroffenen allerdings immer wieder der Antrieb, ihre Angelegenheiten selbst ausreichend zu verwalten.
Das Erstgericht bestellte in der Folge mit seinem Beschluss vom 22. 7. 2008 (ON 38) der Betroffenen gemäß § 268 Abs 3 Z 2 ABGB einen Sachwalter und betraute diesen mit der Vertretung der Betroffenen vor Gerichten, Behörden und Sozialversicherungsträgern, bei Rechtsgeschäften, die über Geschäfte des täglichen Lebens hinausgehen, sowie bei medizinischen Heilbehandlungen und mit der Verwaltung von Einkünften, Vermögen und Verbindlichkeiten der Betroffenen.
Die Funktion des Sachwalters wird vom VertretungsNetz-Sachwalterschaft ausgeübt; zur Zeit ist Mag. Raphaela W***** mit der Wahrnehmung dieser Aufgabe betraut.
Die Betroffene lebt derzeit immer noch im Seniorenkompetenzzentrum F*****.
Der Sachwalter beantragte mit Eingabe vom 2. 7. 2010 (ON 56) die Ausdehnung seines Wirkungskreises dahin, dass er auch mit der Entscheidung über den Wohnort der Betroffenen betraut werde. Die Betroffene äußere immer wieder den Wunsch, in eine private Wohnung übersiedeln zu wollen. Es sei aber zu bezweifeln, dass eine solche Wohnungsnahme den Interessen der Betroffenen entspreche, die nach seinerzeitiger Ansicht des Sachwalters ihre Pflege- und Betreuungsbedürfnisse noch immer nicht realistisch einschätzen könne.
Nach der Begutachtung durch den gerichtlichen Sachverständigen beantragten der Sachwalter mit Eingabe vom 13. 12. 2010 (ON 66) und auch die Betroffene zuletzt in der Verhandlung am 7. 2. 2011 (ON 69) die Beendigung bzw Aufhebung der Sachwalterschaft, weil bei der Betroffenen keine psychische Krankheit oder geistige Behinderung (mehr) vorliege.
Das Erstgericht wies die Anträge des Sachwalters und der Betroffenen auf Aufhebung der Sachwalterschaft ab und erweiterte den Wirkungskreis des Sachwalters um die „Entscheidung über den Wohnort“. Es traf zusammengefasst folgende wesentliche Feststellungen:
Der Betroffenen wird von der Heimleitung viel Bewegungsfreiheit zugestanden. Sie geht täglich außer Haus in Gasthäuser oder zu einer Tankstelle, wo sie regelmäßig Alkohol konsumiert. Da die finanziellen Mittel der Betroffenen knapp bemessen sind, ist der Alkoholkonsum im Gegensatz zu früher kontrollierter.
Bei der zuletzt am 18. 11. 2010 erfolgten Untersuchung erzielte die Betroffene im Mini-Mental-Test 28 von 30 Punkten. Eine demenzielle Symptomatik war nicht mehr verifizierbar. Der gerichtliche Sachverständige diagnostizierte (nur mehr) einen schweren langjährigen chronischen Alkoholmissbrauch. Hinsichtlich ihrer Alkoholkrankheit ist die Betroffene weiterhin völlig uneinsichtig; insoweit ist ihre kritik- und urteilsfähig eingeschränkt.
Auch ihre gesundheitliche Situation kann die Betroffene nicht adäquat einschätzen. Bei der Behandlung einer Wunde am Oberschenkel lässt sie sich kaum helfen und wendet eigenständig Salben und Franzbranntwein an, weshalb die Wunde bislang nicht abgeheilt ist. Die Betroffene ist auch inkontinent und schon mehrmals aus dem Bett gefallen.
Bei der Wahl ihres Wohnortes ist die Betroffene krankheitsbedingt nicht ausreichend kritik- und urteilsfähig.
Gravierende Störungen des Kurzzeit- und des Altgedächtnisses waren bei der Betroffenen nicht (mehr) zu objektivieren. Ein größerer geistiger Abbau bedingt durch den Alkoholabusus ist nicht gegeben. Die Stabilisierung der Lebenssituation der Betroffenen ist der kontinuierlichen Betreuung im Heim sowie der Betreuung durch den Sachwalter zu verdanken. Bei Aufhebung der Sachwalterschaft (und Wegfall der bestehenden Pflege und Betreuung) besteht die Gefahr, dass es bei der Betroffenen wieder zu einer totalen Verwahrlosung kommt und diese erneut den Überblick über ihre finanziellen Angelegenheiten verliert.
Aus neuropsychiatrischer Sicht empfahl der gerichtliche Sachverständige, die bei der Betroffenen bestehende Sachwalterschaft aufrecht zu lassen.
Rechtlich war das Erstgericht der Ansicht, dass sich die Auslegung der Begriffe „psychische Krankheit“ und „geistige Behinderung“ iSd § 268 Abs 1 ABGB mittlerweile einigermaßen gefestigt habe. Diese Termini seien unbestimmte, daher auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe, wobei allerdings die medizinischen Krankheitsbegriffe nicht unreflektiert übernommen werden dürften. Wesentlich sei, ob eine psychische bzw seelische Störung mit einer Beeinträchtigung der Fähigkeit zur selbstbestimmten Verhaltenssteuerung verbunden sei. Für das Vorliegen einer psychischen Krankeit bzw geistigen Behinderung komme es nicht auf das Ausmaß oder die Art der Abweichung von sozialen Verhaltensnormen, das subjektive Leiden des Patienten oder die Zuordnung zu einer bestimmten medizinischen Diagnose an. Bei der Betroffenen bestehe weiterhin eine Alkoholproblematik bei gleichzeitig eingeschränkter Krankheitseinsicht, mangelndem Realitätsbezug und einer sozialen Anpassungsstörung höheren Grades. Es zeige sich damit doch, ohne dass diese Umstände einer bestimmten medizinischen Diagnose zugeordnet werden könnten, eine psychische Krankheit bzw geistige Behinderung der Betroffenen, die die Aufrechterhaltung der Sachwalterschaft im bisherigen Umfang und deren Erweiterung um die Wohnortentscheidung erfordere. Andernfalls würde die Betroffene mit großer Wahrscheinlichkeit wieder verwahrlosen, ihren Haushalt nicht in Ordnung halten können, neuerlich hemmungslos dem Alkohol verfallen und den Überblick über ihre Finanzen verlieren.
Das Rekursgericht gab dem vom Sachwalter gegen diese Entscheidung des Erstgerichts erhobenen Rekurs keine Folge. Es folgerte rechtlich, dass die Gerichte auch dann, wenn eine Geisteskrankheit oder -schwäche medizinisch nicht einwandfrei feststellbar sei, berechtigt seien, aufgrund eines durch Sachverständigengutachten und auf andere Weise ermittelten Zustandsbildes der Betroffenen eine Geistesstörung anzunehmen, die diese unfähig mache, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen. Da feststehe, dass der Betroffenen die erforderliche Kritik- und Urteilsfähigkeit in Bezug auf ihre Alkoholkrankheit und die Wahl des Wohnortes fehle, laufe sie ohne Hilfestellung Gefahr, wieder völlig dem Alkohol zu verfallen und zu verwahrlosen. Wenn das Erstgericht unter diesen Umständen eine psychische Störung der Betroffenen bejaht habe, könne darin kein Rechtsirrtum erblickt werden.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei, weil Rechtsfragen iSd § 62 Abs 1 AußStrG nicht zu lösen gewesen seien.
Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs des Sachwalters und der Betroffenen wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit den Anträgen auf Abänderung dahin, dass die Sachwalterschaft beendet und der Beschluss des Erstgerichts in seinem Punkt 1. (Festlegung des Wirkungskreises des Sachwalters) ersatzlos aufgehoben werde. Hilfsweise stellen die Rechtsmittelwerber auch einen Aufhebungsantrag. Die Rechtsmittelwerber machen zusammengefasst geltend, die Vorinstanzen seien von bestehender Rechtsprechung und Lehre insoweit abgewichen, als Alkoholmissbrauch nur dann die Bestellung eines Sachwalters rechtfertige, wenn er gleichzeitig Symptom einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung sei, was bei der Betroffenen wegen fehlender demenzieller Abbauerscheinungen und deren klarer Bewusstseinslage nicht zutreffe. Auch die Erweiterung der Sachwalterschaft um die „Entscheidung über den Wohnort“ sei unbegründet erfolgt, weil insoweit kein zusätzlicher Regelungsbedarf vorliege.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinn seines hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt, weil sich die Frage, ob bei der Betroffenen die Sachwalterschaft aufrecht zu erhalten, allenfalls auszudehnen oder aber aufzuheben ist, nach den bisher vorliegenden Verfahrensergebnissen nicht abschließend beurteilen lässt.
1. Vermag eine volljährige Person, die an einer psychischen Krankheit leidet oder geistig behindert ist (behinderte Person), alle oder einzelne ihrer Angelegenheiten nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu besorgen, so ist ihr gemäß § 268 Abs 1 ABGB auf ihren Antrag oder von Amts wegen dazu ein Sachwalter zu bestellen. Nach § 284a Abs 1 ABGB entscheidet über ihren Wohnort eine behinderte Person, soweit sie einsichts- und urteilsfähig ist, selbst. Sonst hat gemäß § 284a Abs 2 ABGB der Sachwalter diese Aufgabe zu besorgen, soweit dies zur Wahrung des Wohls der behinderten Person erforderlich ist und sein Wirkungskreis die Besorgung dieser Angelegenheit umfasst. Soll der Wohnort der behinderten Person dauerhaft geändert werden, so bedarf dies der gerichtlichen Genehmigung.
2. Psychische Krankheit und geistige Behinderung sind Rechtsbegriffe, die nicht mit medizinischen Definitionen übereinstimmen müssen (2 Ob 574/89 EFSlg 96.783; 8 Ob 503/93; 9 Ob 216/02h; Pfurtscheller in Schwimann, ABGB-TaKomm, § 268 Rz 4), die aber auch nicht völlig losgelöst von medizinischen Regeln und Erfahrungssätzen zu interpretieren sind (Stabentheiner in Rummel³, § 273 ABGB [aF] Rz 1; Hopf in KBB³, § 268 ABGB Rz 2; Tschugguel in Kletecka/Schauer, ABGB-ON 1.00 § 268 Rz 2; vgl auch Barth/Ganner, Handbuch des Sachwalterrechts, 35 f). Die genannten Begriffe umfassen jede geistige Störung, die die gehörige Besorgung der eigenen Angelegenheiten hindert (RIS-Justiz RS0049003). Die Gerichte sind daher auch dann, wenn eine Geisteskrankheit oder Geistesschwäche medizinisch nicht einwandfrei feststellbar ist, berechtigt, aufgrund des durch Sachverständigengutachten und auf andere Weise ermittelten Zustandsbildes der betroffenen Person eine Geistesstörung anzunehmen, die diese unfähig macht, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen (2 Ob 574/89 EFSlg 96.783; 7 Ob 547/86; 8 Ob 503/93 EFSlg 99.002).
3.1. Der Missbrauch von Alkohol (allein) ist allerdings kein Grund für eine Sachwalterbestellung, sofern damit nicht eine psychische Krankheit oder geistige Behinderung zum Ausdruck kommt (6 Ob 195/98i EvBl 1999/11 = EFSlg 96.784; Stabentheiner aaO; Tschugguel aaO; Hopf aaO; Pfurtscheller aaO) oder dessen Folge ist, was etwa dann der Fall sein kann, wenn die Suchtkrankheit bereits zu schweren Hirnschädigungen geführt hat (Weitzenböck in Schwimann³, § 273 ABGB [aF] Rz 2).
3.2. Im vorliegenden Fall besteht bei der Betroffenen zwar ein langjähriger Alkoholmissbrauch, doch sind daraus resultierende, gravierende, also krankheitswertige geistige oder psychische Beeinträchtigungen nach der zuletzt erfolgten Sachverständigenbegutachtung nicht verifizierbar. Dass alkoholkranken Personen in gewissem Maße die Einsicht in ihre Suchterkrankung und insofern die Kritikfähigkeit fehlt, ist für derartige Krankheitsfälle wohl eine geradezu typische Begleiterscheinung und per se ebenfalls keine geistige oder psychische Beeinträchtigung mit Krankheitswert.
4. Sachverständiger und Erstgericht attestieren der Betroffenen, sie vermöge ihre gesundheitliche Situation nicht adäquat einzuschätzen; dies zeigte sich zuletzt allerdings nur in der Form, dass die Betroffene eine Wunde am Oberschenkel auf recht eigenwillige Art versorgte. Dass daraus schwerwiegende gesundheitliche Folgen drohten oder dieses Verhalten Ausdruck tiefer gehender Fehleinschätzungen der Betroffenen über ihre gesundheitlichen Bedürfnisse sei, ist nicht nachvollziehbar dokumentiert.
5. Zum vorgeblich von der Betroffenen angestrebten Wohnortwechsel wird dieser zwar (wiederum) eine nicht ausreichende Kritik- und Urteilsfähigkeit zugeschrieben; worin diese Defizite konkret bestehen und wie sich diese gegebenenfalls auswirken könnten, ist aufgrund der bisherigen Verfahrensergebnisse nicht zu erkennen.
6. Insgesamt zeigt sich daher, dass das (Nicht-)Vorliegen einer aktuellen oder im Fall der Beendigung der Sachwalterschaft unmittelbar drohenden krankheitswertigen Beeinträchtigung der Betroffenen, die auch im Zuge ihres Auftretens vor dem Erstgericht einen durchaus orientierten und kontaktfähigen Eindruck hinterlassen hat, derzeit nicht abschließend beurteilt werden kann. Zur Klärung der Frage, ob bei der Betroffenen die Sachwalterschaft (im bisherigen Umfang) aufrecht zu bleiben hat, der Wirkungskreis des Sachwalters im Sinn der Entscheidungen der Vorinstanzen allenfalls sogar auszudehnen oder aber die Sachwalterschaft aufzuheben ist, bedarf es weiterer Erhebungen. Sinnvollerweise bietet sich dafür zunächst eine eingehende Befragung der Betroffenen darüber an, wie sich diese im Fall der Aufhebung der Sachwalterschaft ihre künftigen Lebensverhältnisse, insbesondere betreffend Wohnort, Haushaltsführung und persönliche Betreuung vorstellt. Diese Befragung soll besonders einen Beitrag dafür leisten, das Ausmaß realistischer Selbsteinschätzung, also die schon im bisherigen Verfahren mehrfach angesprochene Kritik- und Urteils(un)fähigkeit der Betroffenen genauer einschätzen zu können. Der gerichtliche Sachverständige wird dann sein Gutachten zu ergänzen und dabei herauszuarbeiten haben, wie rasch und schwerwiegend sich der Wegfall der bisherigen sachwalterschaftlichen Betreuung bei der Betroffenen voraussichtlich auswirken wird und was konkret unter der vermeintlich fehlenden Kritik- und Urteilsfähigkeit der Betroffenen bei der Wahl ihres Wohnortes zu verstehen ist. Auf der Grundlage des so ergänzten Verfahrens wird dann das Erstgericht eine neuerliche Entscheidung zu treffen haben.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
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