OGH 4Ob57/11b

OGH4Ob57/11b10.5.2011

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Schenk als Vorsitzende und die Hofräte Dr. Vogel, Dr. Jensik, Dr. Musger und Dr. Schwarzenbacher als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei ***** Rechtsanwaltskammer, *****, vertreten durch Piaty Müller-Mezin Schoeller Rechtsanwälte GmbH in Graz, gegen die beklagte Partei D*****-Aktiengesellschaft, *****, vertreten durch Themmer, Toth & Partner Rechtsanwälte OG in Wien, wegen Unterlassung und Urteilsveröffentlichung (Streitwert im Sicherungsverfahren 32.000 EUR), über den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz vom 26. Jänner 2011, GZ 5 R 4/11i-18, mit welchem der Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 10. Dezember 2010, GZ 10 Cg 52/10y-14, bestätigt wurde,den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 1.821,24 EUR bestimmten Kosten der Revisionsrekursbeantwortung (darin 303,54 EUR Umsatzsteuer) zu ersetzen.

Text

Begründung

Die klagende Rechtsanwaltskammer ist eine Körperschaft öffentlichen Rechts. Ihr obliegt unter anderem die Wahrung der Rechte des Rechtsanwaltsstands (§ 23 RAO). Die Beklagte betreibt eine Rechtsschutzversicherung. In Art 8 ihrer Versicherungsbedingungen ist unter anderem vorgesehen, dass der Versicherungsnehmer

bei der Geltendmachung oder Abwehr von zivilrechtlichen Ansprüchen […] dem Versicherer vorerst die Möglichkeit einzuräumen [hat], Ansprüche selbst innerhalb angemessener Frist außergerichtlich durchzusetzen oder abzuwehren.“

Die Beklagte leitet daraus ein „Selbstregulierungsrecht“ ab. Auf dieser Grundlage richtet sie „im Namen“ ihrer Versicherungsnehmer Schreiben an Dritte, in denen sie zivilrechtliche Ansprüche geltend macht oder das Bestehen solcher Ansprüche der Gegenseite bestreitet. Ähnliche Bestimmungen sind in Bedingungen für die Rechtsschutzversicherung seit langem üblich; sie finden sich auch in den aktuellen Bedingungen der Mitbewerber und in den Musterbedingungen des Versicherungsverbands.

Zur Sicherung ihres mit Klage geltend gemachten Unterlassungsanspruchs beantragt die Klägerin, der Beklagten mit einstweiliger Verfügung zu verbieten,

im geschäftlichen Verkehr Rechtsanwälten vorbehaltene Tätigkeiten auszuüben, insbesondere die Parteienvertretung in rechtlichen Angelegenheiten im Zuge außergerichtlicher und/oder vorprozessualer Korrespondenz im Auftrag und Namen ihrer Versicherungsnehmer durchzuführen.

Nur Rechtsanwälte seien nach § 8 Abs 1 und 2 RAO zur umfassenden berufsmäßigen Parteienvertretung berechtigt. Die Beklagte greife ohne gesetzliche Grundlage in diesen Vorbehaltsbereich ein und handle damit unlauter iSv § 1 UWG (Wettbewerbsvorsprung durch Rechtsbruch). § 8 Abs 3 RAO sei nicht anwendbar, weil die Beklagte kein Gewerbe betreibe und § 158j VersVG kein Vertretungsrecht begründe. Ein Vertretungsrecht könne auch nicht aus den Versicherungsbedingungen abgeleitet werden; zudem unterlägen diese Bedingungen nur mehr einer nachträglichen Kontrolle durch die Zivilgerichte und stünden im Stufenbau der Rechtsordnung unter der gesetzlichen Bestimmung des § 8 RAO. Die von der Beklagten zitierte Entscheidung 7 Ob 7/93 sei nicht einschlägig; der Oberste Gerichtshof habe sich darin nicht mit der Frage befasst, ob Rechtsschutzversicherer Versicherungsnehmer vertreten und damit in den Vorbehaltsbereich der Rechtsanwälte eingreifen dürften. Auch die von der Beklagten zitierten Literaturmeinungen seien keine Grundlage für eine vertretbare Rechtsansicht der Beklagten.

Die Beklagte wendet ein, sie handle aufgrund einer richtigen, jedenfalls aber vertretbaren Rechtsansicht. Das Selbstregulierungsrecht sei seit Jahrzehnten Bestandteil ihrer Versicherungsbedingungen, der Musterbedingungen des Versicherungsverbands und der Bedingungen von Mitbewerbern; es bilde einen von der Klägerin zu akzeptierenden und bis zur Klageführung auch tatsächlich akzeptierten Handelsbrauch. Nach 7 Ob 7/93 bestehe eine Obliegenheit der Versicherungsnehmer, dem Versicherer die Selbstregulierung zu ermöglichen; damit habe der Oberste Gerichtshof die Zulässigkeit der Selbstregulierung anerkannt. Die Beklagte nehme bei der Selbstregulierung die rechtlichen Interessen der Versicherungsnehmer wahr, wozu sie nach § 158j Abs 1 VersVG verpflichtet sei. Weiters erfülle sie damit ihre Schadensminderungsobliegenheit nach § 62 VersVG und werde - zur Vermeidung höherer Belastungen - auch in eigenen Angelegenheiten tätig. Die Beklagte sei als „konzessioniertes Gewerbe“ von § 8 Abs 3 RAO erfasst. Ihre Tätigkeit sei nicht berufsmäßig iSd § 8 RAO, da sie im Zusammenhang mit der außergerichtlichen Interessenwahrnehmung kein (weiteres) Entgelt verlange.

Das Erstgericht wies den Sicherungsantrag ab. Die Selbstregulierung diene dazu, einen weiteren Aufwand für die Beklagte zu vermeiden. Auch wenn die Beklagte daher Rechte Dritter geltend mache, tue sie das wirtschaftlich betrachtet in eigener Sache. Das sei jedenfalls zulässig. Darüber hinaus sei es mit guten Gründen vertretbar, dass die Beklagte durch die Selbstregulierung Naturalleistungen iSv § 158j VersVG erbringe. Zwar könne die anzunehmende Branchenüblichkeit ein eindeutiges Verbot nicht außer Kraft setzen; an dieser Eindeutigkeit fehle es aber.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 30.000 EUR übersteige und der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei.

Gegenstand der Rechtsschutzversicherung sei nach § 158j Abs 1 VersVG die Wahrnehmung rechtlicher Interessen, wobei das Leistungsversprechen des Versicherers auch Naturalleistungen umfasse. Der Versicherer könne daraus eine sachlich begrenzte Vertretungsbefugnis ableiten, die es ihm erlaube, Ansprüche im Namen und im Auftrag des Versicherungsnehmers außergerichtlich geltend zu machen oder abzuwehren. Dieses Selbstregulierungsrecht sei seit langem auch in den Versicherungsbedingungen der Mitbewerber und in den Musterbedingungen des Versicherungsverbands enthalten. Dem Versicherer sei danach - bei sonstiger Obliegenheitsverletzung des Versicherungsnehmers (7 Ob 7/93) - die Möglichkeit einzuräumen, Ansprüche selbst innerhalb angemessener Frist außergerichtlich durchzusetzen oder abzuwehren. Soweit sich dies - wie hier - auf das Versenden von Forderungs- bzw Abwehrschreiben beschränke, diene die Vorgangsweise des Versicherers nicht nur seinem Interesse am Geringhalten der Kosten, sondern auch jenem der Versicherungsnehmer an einer möglichst effizienten und risikofreien Verfolgung ihrer Rechte. Durch eine derart beschränkte Parteienvertretung werde auch das durch die Richtlinie 87/344/EWG gewährleistete Recht auf freie Wahl des Rechtsvertreters nicht beschränkt, sei doch im vorprozessualen Stadium noch keine Interessenkollision zwischen Rechtsschutzversicherer und Versicherungsnehmer zu befürchten. Der Revisionsrekurs sei zuzulassen, weil der Frage, ob Rechtsschutzversicherer ihre Versicherungsnehmer in außergerichtlicher Korrespondenz vertreten dürften, über den Einzelfall hinausgehend Bedeutung habe und Rechtsprechung dazu fehle.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diese Entscheidung gerichtete Revisionsrekurs der Klägerin ist zwar nicht wegen des Fehlens von Rechtsprechung (RIS-Justiz RS0124004), wohl aber deswegen zulässig, weil die Entscheidung wegen der Vielzahl gleich gelagerter Sachverhalte über den Einzelfall hinaus Bedeutung hat. Er ist aber nicht berechtigt.

1. Das Rekursgericht hat die Rechtsprechung zur Fallgruppe „Wettbewerbsvorsprung durch Rechtsbruch“ richtig wiedergegeben. Danach ist ein Verstoß gegen eine nicht dem Lauterkeitsrecht im engeren Sinne zuzuordnende generelle Norm als unlautere Geschäftspraktik oder als sonstige unlautere Handlung iSv § 1 Abs 1 Z 1 UWG zu werten, wenn die Norm nicht auch mit guten Gründen in einer Weise ausgelegt werden kann, dass sie dem beanstandeten Verhalten nicht entgegensteht. Der Unterlassungsanspruch setzt ferner voraus, dass das beanstandete Verhalten geeignet ist, den Wettbewerb zum Nachteil von rechtstreuen Mitbewerbern nicht bloß unerheblich zu beeinflussen (4 Ob 225/07b = SZ 2008/32 = MR 2008, 114 [Heidinger 108] = wbl 2008, 290 [Artmann 253] = ÖBl 2008, 237 [Mildner] = ecolex 2008, 551 [Tonninger] - Wiener Stadtrundfahrten; RIS-Justiz RS0123239). Maßgebend für die Beurteilung der Vertretbarkeit einer Rechtsauffassung sind der eindeutige Wortlaut und Zweck der angeblich übertretenen Norm sowie gegebenenfalls die Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts und eine beständige Praxis von Verwaltungsbehörden (4 Ob 225/07b - Wiener Stadtrundfahrten; zuletzt etwa 4 Ob 40/09z = ÖBl-LS 2009/239 [Mildner] = ecolex 2009, 881 [Tonninger] - Lademulden mwN). Im vorliegenden Verfahren ist daher nur die Vertretbarkeit, nicht die Richtigkeit der von der Beklagten vertretenen Rechtsansicht zu prüfen.

2. Die Klägerin stützt sich auf einen unzulässigen Eingriff der Beklagten in den Vertretungsvorbehalt der Rechtsanwälte iSv § 8 Abs 1 und 2 RAO.

2.1. Richtig ist, dass die umfassende berufsmäßige Parteienvertretung nach § 8 Abs 2 RAO den Rechtsanwälten vorbehalten ist. Davon „jedenfalls unberührt“ bleiben aber nach § 8 Abs 3 RAO unter anderem die „in sonstigen Bestimmungen des österreichischen Rechts eingeräumten Befugnisse von Personen oder Personenvereinigungen zur sachlich begrenzten Parteienvertretung“ und die „in sonstigen Bestimmungen des österreichischen Rechts eingeräumten Befugnisse, die in den Berechtigungsumfang von reglementierten oder konzessionierten Gewerben fallen“. Der letztgenannten Bestimmung ist zu entnehmen, dass es kein umfassendes Monopol der Rechtsanwälte zur berufsmäßigen Parteienvertretung gibt (4 Ob 137/94 = ImmZ 1995, 75 - Immobilienverwalter). Vielmehr kommt darin ein allgemeiner Grundsatz zum Ausdruck: Die Besonderheiten bestimmter Unternehmenszweige - ausdrücklich genannt sind Gewerbe - können es rechtfertigen, dass auch anderen Berufsgruppen mittels genereller Norm eine (Annex-)Befugnis zur Parteienvertretung eingeräumt wird.

Die in § 8 Abs 3 RAO genannten Befugnisse bleiben „jedenfalls“ unberührt. Schon daraus ergibt sich, dass diese Bestimmung nur demonstrativen Charakter hat (4 Ob 69/92; 4 Ob 296/02m; 7 Ob 258/05z = EvBl 2006/119). Dem Gesetzgeber steht es (selbstverständlich) frei, auch außerhalb des Gewerberechts Befugnisse zur Parteienvertretung vorzusehen, die im Zusammenhang mit der Geschäftstätigkeit der betroffenen Unternehmen stehen, ohne dabei unbedingt „sachlich“ - also in Bezug auf die betroffenen Rechtsmaterien - beschränkt zu sein. Der mit dem BRÄG 2008 in § 8 Abs 3 RAO aufgenommene Hinweis auf eine „sachliche“ Begrenzung von gesetzlich eingeräumten Befugnissen, der in den Gesetzesmaterialien nicht weiter begründet wird (EB zur RV, 303 BlgNR 23. GP), hat daher, anders als in der Revision angenommen, für die Beurteilung der Befugnisse der Beklagten keine entscheidende Bedeutung.

2.2. Die Beklagte stützt sich auf § 158j Abs 1 VersVG. Danach „sorgt“ der Versicherer bei der Rechtsschutzversicherung

„für die Wahrnehmung der rechtlichen Interessen des Versicherungsnehmers in den im Vertrag umschriebenen Bereichen und trägt die dem Versicherungsnehmer dabei entstehenden Kosten. Wenn sich aus dem Vertrag nichts anderes ergibt, umfasst die Versicherung sowohl die Wahrnehmung der Interessen in einem gerichtlichen oder sonstigen behördlichen Verfahren als auch außerhalb eines solchen.“

Diese Bestimmung war in der erstmaligen Regelung der Rechtsschutzversicherung, die mit dem Bundesgesetz zur Änderung des Versicherungsvertragsgesetzes zur Anpassung an das EWR-Abkommen (BGBl 1993/90) erfolgte, noch nicht enthalten gewesen; sie wurde erst mit dem BG BGBl 1994/509 in das VersVG aufgenommen. Anlass für dieses Gesetz war nach den Materialien der Wegfall der aufsichtsbehördlichen Genehmigung von Versicherungsbedingungen, der durch das Wirksamwerden der zweiten Generation der versicherungsrechtlichen Richtlinien bedingt war; statt dessen sollte ein verstärkter Verbraucherschutz schon im Gesetz vorgesehen werden (EB zur RV, 1553 BlgNR 18. GP, 11 f). Der neue § 158j Abs 1 VersVG stand mit diesem Ziel des Gesetzgebers allerdings in keinem erkennbaren Zusammenhang. Vielmehr sollte er nach den Materialien (aaO 25) den Begriff der Rechtsschutzversicherung definieren und deren „gesetzliches Paradigma“ ausdrücken: die Rechtsschutzversicherung übernehme „nicht bloß die gerichtliche oder verwaltungsbehördliche Rechtsdurchsetzung, sondern auch und vor allem die außerprozessuale Wahrnehmung der Interessen des Versicherungsnehmers [...]; die Rechtsschutzversicherung soll nicht nur streitfördernd, sondern womöglich auch streitschlichtend wirken“.

2.3. Die Klägerin zeigt an sich zutreffend auf, dass § 158j Abs 1 VersVG eine Vertretungsbefugnis von Rechtsschutzversicherern nicht ausdrücklich vorsieht. Allerdings wird ihr Tätigkeitsbereich umschrieben: Der Rechtsschutzversicherer sorgt für die Wahrnehmung der Interessen des Versicherungsnehmers und trägt die diesem dabei entstehenden Kosten. Aus dieser Formulierung kann in vertretbarer Weise abgeleitet werden, dass der Rechtsschutzversicherer typischerweise auch Naturalleistungen zu erbringen hat; wäre es anders, hätte der Hinweis auf das Tragen der Kosten genügt. Solche Naturalleistungen können jedenfalls nur vor oder außerhalb gerichtlicher oder verwaltungsbehördlicher Verfahren in Betracht kommen, da der Rechtsschutzversicherer innerhalb solcher Verfahren nach § 158k Abs 1 VersVG jedenfalls freie Anwaltswahl zu gewähren hat. Dieses Recht auf freie Anwaltswahl setzt logisch zwingend voraus, dass überhaupt ein Anspruch auf Beigabe eines Anwalts besteht. Naturalleistungen können insofern daher nicht mehr erbracht werden.

Die Klägerin bestreitet nicht, dass Rechtsschutzversicherer auch Naturalleistungen erbringen dürfen, vertritt aber die Auffassung, diese seien auf die Beratung des Versicherungsnehmers beschränkt (ON 9 S 19); Vertretungshandlungen nach außen seien demgegenüber auch außerhalb anhängiger Verfahren Rechtsanwälten vorbehalten. Das ist zwar eine mögliche Auslegung. Sie ist aber inkonsequent, weil aus § 8 Abs 1 und 2 RAO auch ein Beratungsmonopol abgeleitet wird (4 Ob 69/92; 7 Ob 258/05z = EvBl 2006/119). Eine Differenzierung zwischen Beratung und außergerichtlicher Vertretung ist in § 158j Abs 1 VersVG aber nicht erkennbar. Damit liegt nahe, dass die dort (nach vertretbarer Rechtsansicht) angesprochenen Naturalleistungen neben der Beratung auch die außergerichtliche Vertretung erfassen. So verstanden billigte der Gesetzgeber mit dieser Bestimmung - wenngleich nicht mit der wünschenswerten Klarheit - eine offenkundig schon zuvor bestehende Praxis, die von allen Beteiligten als rechtens angesehen worden war. Diese Praxis steht im Einklang mit der in den Materialien ausdrücklich erwähnten Aufgabe des Rechtsschutzversicherers, auch streitschlichtend (streitvermeidend) zu wirken. Das ist durch (erste) Mahn- oder Abwehrschreiben, die der Versicherer selbst verfasst, besser gewährleistet als durch das sofortige Einschreiten eines Anwalts, das die Gegenseite in vielen Fällen als weitere - möglicherweise auch mit erhöhten Kosten verbundene - Eskalation des Streits verstehen wird.

2.4. Dem Revisionsrekurs gelingt es nicht, die Unvertretbarkeit dieser Rechtsansicht aufzuzeigen.

(a) Es ist richtig, dass § 158j Abs 1 VersVG auch enger ausgelegt werden könnte. Allerdings hat die von der Klägerin gewünschte Unterscheidung zwischen (zulässiger) Beratung und (unzulässigen) Außenkontakten, wie bereits ausgeführt, noch weniger Grundlagen im Text dieser Bestimmung als die Rechtsansicht der Beklagten. Wenn Naturalleistungen aufgrund dieser Bestimmung als zulässig angesehen werden, dann kann in vertretbarer Weise angenommen werden, dass davon auch die außergerichtliche Vertretung der Versicherungsnehmer erfasst ist.

(b) Es ist auch richtig, dass die Mitarbeiter der Beklagten nicht zwingend jene Ausbildung genossen haben, die bei Rechtsanwälten die Qualität der Beratung und Vertretung sichern soll. Eine solche Ausbildung fehlt aber auch in den in § 8 Abs 3 RAO ausdrücklich genannten Fällen. Der Gesetzgeber hält es daher grundsätzlich für möglich, dass die Vorteile einer Beratung oder Vertretung durch Nichtanwälte - etwa geringere Kosten - den Nachteil einer möglicherweise schlechteren Ausbildung aufwiegen. Gleiches gilt für Verschwiegenheitspflichten und Aussageverweigerungsrechte, die bei der Vertretung, aber auch bei der (bloßen) Beratung durch einen Rechtsschutzversicherer tatsächlich nicht in gleicher Weise gewährleistet sind wie bei Inanspruchnahme eines Anwalts.

Haftungsrechtlich ist demgegenüber kein Unterschied zu erkennen. Sollten außergerichtliche Vertretungshandlungen oder eine Beratung durch den Versicherer tatsächlich zu Nachteilen für den Versicherungsnehmer führen, etwa weil der Gegner eine (berechtigte) negative Feststellungsklage erhebt oder weil eine Verjährungs- oder Fallfrist übersehen wird, wäre die Haftung des Versicherers ebenso wie jene eines Anwalts nach dem strengen Maßstab des § 1299 ABGB zu beurteilen.

(c) Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Zulässigkeit von Massenschadensklauseln (C-199/08 , Eschig/Uniqa, Slg 2009, I-8295) ist nicht einschlägig. Sie betraf ausschließlich die Frage, ob Art 4 Abs 1 lit a der RL 87/344/EWG zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Rechtsschutzversicherung dahin ausgelegt werden kann, dass das dort vorgesehene Recht auf freie Anwaltswahl für gerichtliche oder verwaltungsbehördliche Verfahren vertraglich in bestimmten Fällen (konkret: Massenschäden) ausgeschlossen werden kann. Das hat der Europäische Gerichtshof nach Wortlaut und Zweck dieser Bestimmung verneint. Zur dort nicht geregelten Vertretung außerhalb solcher Verfahren hat er nicht Stellung genommen. Hier könnte allenfalls Art 4 Abs 1 lit b RL 87/344/EWG herangezogen werden, wonach die freie Wahl eines Anwalts im Versicherungsvertrag auch für den Fall einer „Interessenkollision“ vorzusehen ist. Eine solche Kollision kann aber nicht schon deswegen angenommen werden, weil das Erbringen der Versicherungsleistung für den Rechtsschutzversicherer notwendigerweise mit einem Aufwand verbunden ist. Entschiede man anders, müsste der Versicherer dem Versicherungsnehmer grundsätzlich in jedem Deckungsfall die Wahl eines Anwalts ermöglichen. Damit würde aber Art 3 RL 87/344/EWG obsolet, der die unbeschränkt freie Anwaltswahl nur als eines von drei möglichen Modellen zur Vermeidung von Interessenkollisionen vorsieht (vgl dazu Kronsteiner, Die Interessenkollision in der Rechtsschutzversicherung, VR 1994, 1; Fenyves, Das „Anwaltsmodell“ als Organisationsprinzip der Schadensregulierung in der Rechtsschutzversicherung, VR 1994, 97); und auch Art 4 Abs 1 lit a RL 87/344/EWG verlöre seine eigenständige Bedeutung. Das von der Klägerin vertretene weite Verständnis des Begriffs „Interessenkollision“, das offenkundig auch der Entscheidung des Bundesgerichtshof zur Unzulässigkeit der außergerichtlichen Vertretung durch Rechtsschutzversicherer zugrunde liegt (II ZR 139/59 = VersR 1961, 433 [435]), ist daher mit der Richtlinie nicht vereinbar.

(d) Die letztgenannte Entscheidung des Bundesgerichtshofs beruhte zwar auf Vorschriften des deutschen Rechts, die wie § 8 RAO ein Vertretungsmonopol für Rechtsanwälte vorsahen. Der entscheidende Unterschied lag aber darin, dass eine § 158j VersVG vergleichbare Regelung fehlte. Nach dem nunmehr geltenden § 127 dVVG 2007 besteht die freie Anwaltswahl auch dann, „wenn der Versicherungsnehmer Rechtsschutz für die sonstige Wahrnehmung rechtlicher Interessen in Anspruch nehmen kann“. Diese Bestimmung setzt (wie schon § 158l dVVG aF) zwingend voraus, dass eine Vertretung durch Anwälte auch im außergerichtlichen Bereich geboten ist. Eine entsprechende Regelung gibt es im österreichischen Recht nicht; § 158j Abs 1 VersVG kann vielmehr, wie oben dargestellt, gerade im gegenteiligen Sinn ausgelegt werden.

3. Die dem beanstandeten Verhalten zugrundeliegende Rechtsansicht der Beklagten ist daher vertretbar. Ob sie auch richtig ist, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens. Der Revisionsrekurs der Klägerin muss daher scheitern. Zusammengefasst gilt: Die Ansicht, dass sich aus § 158j Abs 1 VersVG die Berechtigung von Rechtsschutzversicherern ergibt, ungeachtet § 8 Abs 1 und 2 RAO im Namen ihrer Versicherungsnehmer außerhalb gerichtlicher oder verwaltungsbehördlicher Verfahren Aufforderungs- oder Abwehrschreiben an Dritte zu richten, ist aus lauterkeitsrechtlicher Sicht vertretbar.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 393 Abs 1 EO iVm §§ 41, 50 ZPO.

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