OGH 10Ob7/11v

OGH10Ob7/11v29.3.2011

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hradil als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen V*****, geboren am ***** und des minderjährigen N*****, geboren am *****, beide wohnhaft bei der Mutter in *****, vertreten durch den Jugendwohlfahrtsträger Land Kärnten, dieser vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft Spittal an der Drau, Bereich 6-Soziales, Jugend und Familie, wegen Befreiung des Vaters der Minderjährigen von der Unterhaltspflicht, über den Revisionsrekurs der Kinder gegen den Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt als Rekursgericht vom 18. November 2010, GZ 3 R 176/10g-46, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Spittal an der Drau vom 19. Juli 2010, GZ 3 PU 180/09k-42, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Text

Begründung

Der Vater der Minderjährigen ist aufgrund eines Vergleichs vom 21. 3. 2007 verpflichtet, für V***** monatlich 200 EUR an Unterhalt zu zahlen. Für N***** hat er aufgrund des Beschlusses des Bezirksgerichts Spittal an der Drau vom 24. 10. 2007, GZ 3 P 88/07v-U10, monatliche Unterhaltszahlungen in Höhe von 170 EUR zu leisten. Er ist bosnischer Staatsbürger, lebt aber in Österreich, wo er bis 4. 7. 2008 bei verschiedenen Dienstgebern für jeweils nur kurze Zeiträume einer Beschäftigung nachging. Er verfügt derzeit über keinen gültigen Aufenthaltstitel. Da ihm keine Beschäftigungsbewilligung mehr ausgestellt wird, ist auszuschließen, dass er in Österreich (legal) einer Beschäftigung nachgehen kann.

Das Erstgericht befreite den Vater über seinen Antrag mit Wirkung ab 1. 8. 2008 von seinen Unterhaltspflichten für die beiden Minderjährigen. Das Mehrbegehren, die Unterhaltsverpflichtung für V***** bereits mit 1. 7. 2006 und für N***** mit 24. 4. 2007 einzustellen bzw für ruhend zu erklären, wies das Erstgericht (rechtskräftig) ab. Es ging davon aus, dass der Vater nach Auslaufen seiner Beschäftigungsbewilligung am 6. 5. 2008 rechtlich nicht mehr in der Lage sei, in Österreich Arbeit zu finden. Die Unterlassung der Verlängerung der Beschäftigungsbewilligung („Befreiungsscheins“) sei ihm nicht als schuldhafte Obliegenheitsverletzung anzulasten, weil er unter einer geistigen Behinderung (infolge einer Intelligenzminderung verbunden mit einer anhaltenden sozialen Problematik) leide, die die Bestellung einer Sachwalterin zwecks Vertretung vor Gerichten, Behörden und Ämtern sowie zur Vermögensverwaltung erforderlich gemacht habe.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Minderjährigen nicht Folge. Es teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts und vertrat weiters den Standpunkt, von einem einkommenslosen Unterhaltsschuldner könne auch nicht im Rahmen einer Anspannung verlangt werden, schon vor Abschluss des gegen ihn anhängigen Ausweisungsverfahrens in seinen Heimatstaat zurückzukehren, um allenfalls dort einen Arbeitsplatz zu finden. Das Rekursgericht sprach aus, dass der Revisionsrekurs zulässig sei, da zu dieser Frage keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs bestehe.

Mit ihrem unbeantwortet gebliebenen Revisionsrekurs streben die Minderjährigen eine Abänderung der angefochtenen Entscheidung im antragsabweisenden Sinn an.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist entgegen dem - den Obersten Gerichtshof nicht bindenden - Zulassungsausspruch nicht zulässig.

1. Nach herrschender Auffassung muss der Unterhaltsschuldner alle Kräfte anspannen, um seiner Unterhaltsverpflichtung nachkommen zu können; er muss alle persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, insbesondere seine Arbeitskraft, so gut wie möglich einsetzen. Tut er dies nicht, so wird er im Rahmen der sogenannten „Anspannungstheorie“ so behandelt, als beziehe er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit hätte erzielen können (1 Ob 81/10h mwN; RIS-Justiz RS0047686). Allerdings darf eine Anspannung auf tatsächlich nicht erzieltes Einkommen nur dann erfolgen, wenn den Unterhaltsschuldner ein Verschulden daran trifft, dass er keine Erwerbstätigkeit ausübt (RIS-Justiz RS0047495); Maßstab hiefür ist stets das Verhalten eines pflichtgemäßen, rechtschaffenen Familienvaters (RIS-Justiz RS0047495 [T5]).

2.1 Dass ihrem Vater die Unterlassung der erforderlichen Antragstellungen zur Verlängerung seiner Aufenthalts- und Beschäftigungsbewilligung im Hinblick auf seine geistigen Einschränkungen und die - gerade zum Zweck der Vertretung vor Behörden und Ämtern erfolgte Bestellung eines Sachwalters - subjektiv nicht als Verschulden vorwerfbar ist, ziehen die Revisionsrekurswerber nicht mehr in Zweifel.

2.2 Sie vertreten aber den Standpunkt, die Verlängerung der Beschäftigungsbewilligung wäre Aufgabe seiner Sachwalterin gewesen. Diese sei bereits mit 11. 4. 2008, somit zu einem Zeitpunkt, als die Beschäftigungsbewilligung noch gültig gewesen wäre, bestellt worden.

Diesem Argument ist entgegenzuhalten, dass die nunmehrige Sachwalterin im Zeitpunkt des Auslaufens der Beschäftigungsbewilligung erst zur einstweiligen sowie zur Verfahrenssachwalterin bestellt war. Da sie als einstweilige Sachwalterin nur mit der Besorgung einzelner Angelegenheiten betraut war (§ 120 AußStrG), nämlich der Vertretung im Ehescheidungs- und im Pflegschaftsverfahren, bestand für sie gar nicht die Möglichkeit, die Interessen des Betroffenen vor den Verwaltungsbehörden im Zusammenhang mit dessen Aufenthalts- und Beschäftigungsbewilligung wahrzunehmen. Dies gehörte erst ab der (endgültigen) Bestellung zur Sachwalterin (Beschluss vom 7. 10. 2008) zu ihrem Aufgabengebiet. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Beschäftigungsbewilligung aber bereits ihre Gültigkeit verloren.

3. Erstmals im Rekurs hatten die Minderjährigen vorgebracht, es sei ihrem Vater durchaus zumutbar, in sein Heimatland zurückzukehren und dort zu arbeiten, zumal vor dem Verwaltungsgerichtshof ein „Ausweisungsverfahren“ anhängig sei und er ohnehin jederzeit mit der Abschiebung bzw Ausweisung rechnen müsse.

3.1 Das Vorbringen von Tatsachen und Beweismitteln, die zur Zeit der Entscheidung erster Instanz bereits eingetreten oder vorhanden waren (nova reperta), ist grundsätzlich nur zulässig, wenn sie nicht schon vor Fassung des Beschlusses erster Instanz vorgebracht werden hätten können (§ 49 Abs 2 AußStrG). Sofern die betreffenden Umstände nicht ohnehin schon eindeutig und zweifelsfrei dem Akteninhalt zu entnehmen sind, hat der Rechtsmittelwerber die Zulässigkeit der Neuerungen zu behaupten und schlüssig darzulegen und erforderlichenfalls auch zu bescheinigen, dass die Verspätung (Unterlassung) des Vorbringens auf einer entschuldbaren Fehlleistung beruht (RIS-Justiz RS0120290). Ein entsprechendes Vorbringen ist dem Rekurs der Minderjährigen jedoch nicht zu entnehmen, sodass die dort erstmals aufgestellte Behauptung zur Zumutbarkeit der Rückkehr nach Bosnien bereits vor Abschluss des vor dem Verwaltungsgerichtshof anhängigen Verfahrens, eine nicht zulässige Neuerung darstellte.

3.2 Im Übrigen besteht bereits oberstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage, ob einem Unterhaltsschuldner die Wohnsitzverlegung in ein anderes Land zugemutet werden kann, mit der allein er in die Lage versetzt wird, einen Arbeitsplatz zu finden, der die Erfüllung der Unterhaltspflichten (zumindest teilweise) ermöglicht. Zu 6 Ob 311/05m sprach der Oberste Gerichtshof aus, dass die Unterhaltspflicht dem Unterhaltsschuldner nur bei Vorliegen von besonders berücksichtigungswürdigen Gründen die Aufrechterhaltung des Wohnsitzes in einem Land gestattet, wenn er in Kenntnis des Umstands ist, dass dort eine seinen Fähigkeiten entsprechende Arbeitsmöglichkeit nicht bestehe. Nach den Umständen des vorliegenden Einzelfalls ließen sich nicht nur die beim Antragsgegner festgestellte geistige Behinderung als derartig berücksichtigungswürdiger Grund ins Treffen führen, sondern auch die - schon vom Rekursgericht ins Auge gefasste - Möglichkeit, dass er in dem vor dem Verwaltungsgerichtshof anhängigen Verfahren obsiegen und dann wieder über einen gültigen Aufenthaltstitel verfügen könnte.

Da weder die vom Rekursgericht als erheblich bezeichnete Rechtsfrage eine solche iSd § 62 Abs 1 AußStrG ist, noch die Rechtsmittelwerber eine Rechtsfrage dieser Qualität aufzeigen, ist der Revisionsrekurs zurückzuweisen.

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