OGH 10ObS180/10h

OGH10ObS180/10h1.3.2011

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Irene Kienzl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und AR Angelika Neuhauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei R*****, vertreten durch Mag. Volker Leitner, Rechtsanwalt in St. Pölten, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Berufsunfähigkeits- pension, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 20. Oktober 2010, GZ 7 Rs 95/10g-22, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 14. Dezember 2009, GZ 6 Cgs 254/08x-14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichts wird aufgehoben und die Sozialrechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Text

Begründung

Der am 3. 1. 1957 geborene Kläger, der keinen Beruf erlernt hat, war bis zum Jahr 2002 bei verschiedenen Versicherungen als Außendienstmitarbeiter beschäftigt.

Aufgrund verschiedener krankhafter Veränderungen ist er nur mehr für leichte und zweidrittelzeitig mittelschwere körperliche Arbeiten im Sitzen, Stehen und Gehen geeignet. Arbeiten unter Tischniveau und/oder in hockender Zwangshaltung sind drittelzeitig über den Arbeitstag verteilt - durchgehend nicht länger als fünfzehn Minuten, dann ist ein Haltungswechsel erforderlich - zumutbar. Tätigkeiten in und über Kopfniveau scheiden für den rechten Arm aus, für den linken Arm sind sie drittelzeitig über den Arbeitstag verteilt zumutbar. Tätigkeiten mit wiederholten raschen Umwendbewegungen des Kopfes, wie beispielsweise Fließbandarbeiten, scheiden ebenso aus wie Tätigkeiten an exponierten Stellen sowie auf Leitern und Gerüsten. Das Verwenden von zwei Stufen hohen Steighilfen ist zumutbar. Die Fingerfertigkeit reicht für Fein-, Feinst- und Grobmanipulation aus. Tätigkeiten in Kälte sind beim Tragen entsprechender Schutzkleidung zumutbar. Dem Kläger sind nur noch Arbeiten mit halbzeitig besonderem Zeitdruck bei durchschnittlicher psychischer Belastbarkeit möglich. Zusätzliche Arbeitspausen sind nicht erforderlich. Es ist dem Kläger nur mehr Tagespendeln zumutbar. Mit leidensbedingt vermehrten Krankenständen ist nicht zu rechnen. Die Anmarschwege zur Arbeitsstätte sind nicht eingeschränkt. Das Lenken eines Kraftfahrzeugs ist möglich.

Mit Bescheid vom 9. 9. 2008 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension mangels Berufsunfähigkeit ab.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene, auf Zuerkennung der Berufsunfähigkeitspension gerichtete Klage ab. Es stellte über den bereits eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinaus im Wesentlichen noch fest, dass der Kläger weiterhin in der Lage sei, die Tätigkeit als Außendienstmitarbeiter durchzuführen. In rechtlicher Hinsicht vertrat es die Auffassung, eine Berufsunfähigkeit des Klägers iSd § 273 Abs 1 ASVG liege nicht vor, weil er seinen zuletzt ausgeübten Beruf als Außendienstmitarbeiter weiterhin ausüben könne. Es habe sich gegenüber dem Vorverfahren zwar eine leichte Verschlechterung hinsichtlich der Belastbarkeit des Klägers bei Arbeiten unter besonderem Zeitdruck ergeben. Es sei ihm aber diesbezüglich eine Einschränkung seiner täglichen Arbeitszeit zumutbar, wodurch es zu keiner Überschreitung des medizinischen Leistungskalküls komme. Selbst wenn dem Kläger eine Tätigkeit als Außendienstmitarbeiter nicht mehr zumutbar wäre, würde eine Berufsunfähigkeit des Klägers nicht vorliegen, da er in diesem Fall auf die Tätigkeit eines Versicherungsmitarbeiters im Innendienst verweisbar wäre. Bei dieser Verweisungstätigkeit werde das medizinische Leistungskalkül des Klägers gerichtsbekannt nicht überschritten.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers in nichtöffentlicher Sitzung keine Folge. Es teilte die vom Kläger in seiner Berufung vertretene Rechtsansicht, dass aufgrund der bisher vorliegenden Beweisergebnisse die Frage, ob er aufgrund seines festgestellten Leistungskalküls, insbesondere der Einschränkung auf Arbeiten mit (nur) halbzeitig besonderem Zeitdruck, seine bisherige Tätigkeit als angelernter Versicherungsmitarbeiter im Außendienst weiterhin verrichten könne, nicht abschließend beurteilt werden könne. Auch die Richtigkeit der weiteren Rechtsansicht des Erstgerichts, wonach der Kläger durch eine Einschränkung seiner täglichen Arbeitszeit seine bisherige Tätigkeit als Außendienstmitarbeiter ohne Überschreitung des medizinischen Leistungskalküls ausüben könne, sei für das Berufungsgericht aufgrund der dazu fehlenden Feststellungen nicht überprüfbar. Daraus sei für den Prozessstandpunkt des Klägers jedoch nichts zu gewinnen, weil er jedenfalls noch die ihm zumutbare Verweisungstätigkeit eines Innendienstmitarbeiters im Versicherungsdienst ausüben könne. Die Anforderungen an diese Verweisungstätigkeit seien aufgrund zahlreicher Sozialrechtsverfahren gerichtsbekannt. Danach sei die Tätigkeit eines Versicherungsangestellten in den verschiedenen Abteilungen des Innendienstes jedenfalls nicht mehr als halbzeitig mit besonderem Zeitdruck verbunden (vgl 10 ObS 127/01a). Die Entscheidung 10 ObS 247/94, der in der Frage des mit der genannten Verweisungstätigkeit verbundenen Zeitdrucks ein anderer Sachverhalt zu Grunde gelegen sei, sei damit überholt. Eine Berufsunfähigkeit des Klägers iSd § 273 Abs 1 ASVG liege daher nicht vor.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision gegen seine Entscheidung nicht zulässig sei.

Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen der Vorinstanzen und Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung.

Die beklagte Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen ist, und im Sinne der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt.

Der Kläger räumt in seinen Revisionsausführungen ein, dass ein Außendienstangestellter einer Versicherungsunternehmung nach ständiger Rechtsprechung auch auf kaufmännische Innendiensttätigkeiten, die von kaufmännischen Angestellten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten ausgeübt werden, verwiesen werden könne. Die Vorinstanzen hätten jedoch keine Feststellungen zum aktuellen Anforderungsprofil eines Innendienstmitarbeiters in der Versicherungsbranche oder in einer vergleichbaren Branche, insbesondere hinsichtlich der damit verbundenen Stressbelastungen, getroffen. Der Hinweis auf die der Entscheidung 10 ObS 127/01a zugrundeliegenden Feststellungen könne das Fehlen entsprechender Feststellungen im gegenständlichen Verfahren nicht ersetzen. Das Berufungsgericht wäre jedenfalls verpflichtet gewesen, den Parteien in einer mündlichen Berufungsverhandlung als gerichtsbekannt angesehene Umstände offen zu legen, damit diese gegebenenfalls mittels zu beantragender Beweise widerlegt werden können. Die vom Kläger in diesem Fall beantragte Einholung eines berufskundlichen Gutachtens hätte ergeben, dass er den Anforderungen, wie sie aktuell in der Versicherungsbranche und in vergleichbaren Branchen gegeben seien, nicht mehr gewachsen sei.

Diesen Ausführungen kommt grundsätzlich Berechtigung zu.

Die Sachverhaltsfeststellungen früherer Entscheidungen aus anderen Verfahren äußern grundsätzlich keine Bindungswirkung auf spätere Verfahren (RIS-Justiz RS0036826). Dies schließt aber naturgemäß nicht aus, dass das Gericht aufgrund eigener Sachkenntnis aus früheren Verfahren gewonnene Erkenntnisse auch in späteren Verfahren verwertet. In diesem Sinne sieht § 269 ZPO im Zivilverfahren auch die Berücksichtigung allgemeinkundiger und gerichtsbekannter Tatsachen vor, ohne dass es grundsätzlich besonderer Parteibehauptungen oder eines eigenen Beweisverfahrens bedürfte (vgl RIS-Justiz RS0123760).

Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats kann es sich auch bei den Anforderungen in Verweisungsberufen, die weitgehend vor den Augen der Öffentlichkeit ausgeübt werden, vor allem im Hinblick auf gleichartige, dem Gericht bereits bekannte Fälle um offenkundige Tatsachen handeln (10 ObS 277/03p mwN; RIS-Justiz RS0084258, RS0040179). Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs sind Feststellungen der Tatsacheninstanzen im Revisionsverfahren auch dann nicht überprüfbar, wenn die Feststellungen unter Anwendung des § 269 ZPO getroffen wurden (RIS-Justiz RS0040046). Da die Allgemeinkundigkeit einer Tatsache bezweifelt werden kann und gerichtsbekannte Tatsachen den Parteien oft gar nicht bekannt sind, muss das Gericht zur Wahrung des rechtlichen Gehörs auch offenkundige Tatsachen mit den Parteien erörtern (Rechberger in Rechberger, ZPO³ § 269 Rz 4 mwN). Es ist daher dem Berufungsgericht ohne vorherige Erörterung mit den Parteien nicht gestattet, allein mit dem Hinweis auf Offenkundigkeit gerichtsbekannte Tatsachen ohne Beweisaufnahme ergänzend seiner Entscheidung zugrunde zu legen, sofern nicht die Tatsache völlig unzweifelhaft ist. In diesem Sinn muss den Parteien bei bezweifelbarer Offenkundigkeit Gelegenheit geboten werden, den Beweis der Unrichtigkeit einer vom Gericht als offenkundig beurteilten Tatsache anzutreten (10 ObS 265/03y mwN; RIS-Justiz RS0040046 [T9] ua).

Im vorliegenden Fall hat das Berufungsgericht unter Hinweis auf die angebliche Offenkundigkeit die ergänzende Feststellung getroffen, dass die Tätigkeit eines Versicherungsangestellten in den verschiedenen Abteilungen des Innendienstes jedenfalls nicht mehr als halbzeitig mit besonderem Zeitdruck verbunden sei. Diese Anforderung ist jedoch nicht so unzweifelhaft, dass sie der Entscheidung ohne Erörterung mit den Parteien zugrunde gelegt werden könnte (vgl 10 ObS 273/02y, 10 ObS 259/02i mwN ua). Die Unterlassung der Erörterung begründet eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens (vgl RIS-Justiz RS0040219 [T7]).

In diesem Sinn ist es im konkreten Fall erforderlich, mit den Parteien - gegebenenfalls unter Hinweis auf bereits vorhandene Entscheidungen in vergleichbaren Fällen, die die Offenkundigkeit begründen können - zu erörtern, welche Anforderungen in dem von den Vorinstanzen genannten Verweisungsberuf gestellt werden (vgl 10 ObS 259/02i ua).

Es war daher die angefochtene Entscheidung aufzuheben und dem Berufungsgericht eine neuerliche Entscheidung über die Berufung des Klägers unter Beachtung der dargelegten Verfahrensgrundsätze aufzutragen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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