OGH 1Ob219/10b

OGH1Ob219/10b25.1.2011

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.-Prof. Dr. Bydlinski, Dr. Grohmann, Mag. Wurzer und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj M*****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters P*****, Schweiz, vertreten durch den Verfahrenshelfer Dr. Christian M. Egger, Rechtsanwalt in Salzburg, über den Beschluss des Landesgerichts Salzburg vom 12. November 2010, GZ 21 R 404/10y-26, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Salzburg vom 10. September 2010, GZ 41 Ps 130/10b-18, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Text

Begründung

Die 2003 geborene Minderjährige ist das eheliche Kind des Antragstellers und der S*****. Die Ehe der Eltern wurde mit Beschluss des Bezirksgerichts Salzburg vom 24. März 2004 einvernehmlich geschieden. Die Minderjährige und ihre Mutter sind österreichische Staatsangehörige, der Kindesvater ist deutscher Staatsbürger. Unmittelbar vor der Übersiedlung nach Österreich hatte die Minderjährige ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz.

Anlässlich der einvernehmlichen Scheidung vereinbarten die Kindeseltern die gemeinsame Obsorge.

Am 3. März 2008 schlossen die Eltern eine Vereinbarung betreffend „Obhut/Besuchsrecht/Unterhalt der Tochter M*****“, nach der der Mutter allein die Obhut über die Minderjährige zukommt. Dazu wurde festgehalten, dass „mit dem Begriff Obhut lediglich der Ort gemeint (ist), wo das Kind wohnt. Weitere Rechte können daraus nicht abgeleitet werden“. Vereinbart wurde darüber hinaus, dass die gemeinsame elterliche Sorge über die Tochter M***** beiden Elternteilen zusteht. Unter Punkt 6. dieser Vereinbarung verpflichtete sich die Kindesmutter, jede Veränderung des Wohnsitzes des Kindes dem Vater unverzüglich im Voraus mitzuteilen. Vereinbarungsgemäß ist auf diesen Vertrag schweizerisches Recht anzuwenden.

Die Vormundschaftsbehörde Sulgen (Kanton Thurgau/Schweiz) stimmte dieser Vereinbarung iSv Art 134 Abs 2 und Art 275 Abs 1 (schweizerisches) ZGB zu.

Der Antragsteller begehrt die Rückführung der Minderjährigen, weil diese gegen seinen Willen von der Mutter nach Österreich verbracht worden sei. Zuvor hätte die Mutter an der Adresse CH-*****, gewohnt.

Das Erstgericht wies den Antrag des Vaters ab. Dem dagegen erhobenen Rekurs gab das Gericht zweiter Instanz nicht Folge und sprach aus, der ordentliche Revisionsrekurs sei nicht zulässig.

Rechtliche Beurteilung

Der Antragsteller zeigt keine Rechtsfragen von der Qualität des § 62 Abs 1 AußStrG auf.

1.) Ein Mangel des Rekursverfahrens liegt vor, wenn sich das Gericht zweiter Instanz mit der im Rechtsmittel erhobenen Behauptung, bereits das Verfahren erster Instanz leide an einem Verfahrensmangel, nicht auseinandersetzte (RIS-Justiz RS0043144) oder eine im Rechtsmittel erhobene Beweisrüge überhaupt nicht behandelte (RIS-Justiz RS0043371 [T2]).

Der Antragsteller hat im Rekursverfahren sowohl unter dem Rekursgrund der Mangelhaftigkeit als auch in seiner Tatsachenrüge ausschließlich das Fehlen von seiner Ansicht nach maßgeblichen Feststellungen geltend gemacht. Die Fälle, in denen das Erstgericht infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung erforderliche Feststellungen nicht getroffen und notwendige Beweise nicht aufgenommen hat, sind der Rechtsrüge zuzuordnen (Kodek in Rechberger 3 § 496 Rz 4 mwN), wobei bei Vorliegen einer ordnungsgemäß ausgeführten Rechtsrüge die Falschbezeichnung nicht schadet. Das Rekursgericht hat sich damit völlig zu Recht auf die Beantwortung von Rechtsfragen beschränkt. Eine erhebliche Rechtsfrage ist daher im Zusammenhang mit der behaupteten Mangelhaftigkeit des Verfahrens zweiter Instanz nicht zu lösen.

2.) Nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung BGBl 1988/512 (HKÜ) sollen die ursprünglichen tatsächlichen Verhältnisse wiederhergestellt werden, um zu gewährleisten, dass das in einem Vertragsstaat bestehende Sorgerecht und Recht auf persönlichen Verkehr in den anderen Vertragsstaaten tatsächlich beachtet wird (Art 1). Ziel der Vereinbarung ist die Rückführung von Kindern, deren Verbringung oder Zurückhaltung widerrechtlich ist (RIS-Justiz RS0109515 [bes T5, T6, T8, T11 und T18]). Nach Art 3 lit a und b HKÜ ist das Verbringen eines Kindes über die Landesgrenzen oder sein Zurückhalten dann widerrechtlich, wenn dadurch ein unmittelbar davor tatsächlich ausgeübtes Sorgerecht verletzt wird. Voraussetzung für die Anwendung dieser Bestimmung ist damit die Verletzung eines tatsächlich ausgeübten Obsorge- oder Mitobsorgerechts (RIS-Justiz RS0106625). Die Frage, welcher Person das Sorgerecht zusteht, ist nach dem Recht des Staats zu beurteilen, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (RIS-Justiz RS0119948 [T5]). Die Beurteilung, ob eine Verbringung widerrechtlich gemäß Art 3 HKÜ ist, ist von den Behörden des Entführungsstaats - hier also durch die österreichischen Gerichte - autonom vorzunehmen (1 Ob 167/08b = EF-Z 2009/62 [Nademleinsky] = iFamZ 2009/52 [Pesendorfer]; 1 Ob 176/09b = iFamZ 2010/39 [Fucik]; in diesem Sinn schon 1 Ob 614/90 = SZ 63/131).

3.) Nach Art 301 Abs 1 des ZGB umfasst die elterliche Sorge die Leitung der Pflege und Erziehung des Kindes im Hinblick auf dessen Wohl. Das Obhutsrecht ist Teil der elterlichen Sorge. Sein Kern ist die Befugnis, den Aufenthaltsort des Kindes sowie die Art und Weise seiner Unterbringung zu bestimmen. Wird die Obhut - hier durch eine von der Vormundschaftsbehörde genehmigte Vereinbarung der Elternteile - allein einem Elternteil zugewiesen, bestimmt der allein Obhutsberechtigte über die alltäglichen Fragen der persönlichen Fürsorge und Erziehung sowie über den Ort und die Art der Unterbringung, wenngleich dem anderen Elternteil als (Mit-)Inhaber des Sorgerechts verschiedene wesentliche - hier nicht zum Tragen kommende - Rechte erhalten bleiben. Nach der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts (schw BG) darf der Inhaber der alleinigen Obhut - unter Vorbehalt des Rechtsmissbrauchs - mit den Kindern wegziehen, und zwar auch ins Ausland, ohne dass es hiefür einer gerichtlichen Bewilligung oder des Einverständnisses des anderen Elternteils bedürfte. Die Ausübung des Obhutsrechts als Teilgehalt der elterlichen Sorge muss stets auf das Wohl des Kindes gerichtet sein. Ist das Kindeswohl gefährdet, hat die Vormundschaftsbehörde geeignete Maßnahmen zu treffen (Urteil vom 1. 6. 2010, 5D 171/2009 = BGE 136 III 353).

4.) Der Antragsteller ist zwar (Mit-)Sorgeberechtigter nach schweizerischem Recht. Die Obhut übt die Mutter aber alleine aus. Dem Vater kommt damit keine Befugnis zu, den Aufenthaltsort des Kindes mitzubestimmen. Das schweizerische Höchstgericht betont in diesem Zusammenhang, dass mit der Übertragung der alleinigen Obhut auf den einen Elternteil dem anderen das Recht zur Bestimmung über den Aufenthalt, die Pflege und Erziehung der Kinder entzogen sei (schw BG 5D 171/2009). Besteht - wie hier- eine gefestigte Rechtsprechung des schw BG, ist der Oberste Gerichtshof nicht berufen, das ausländische Recht abweichend auszulegen (1 Ob 167/08b mwN). Der Antragsteller ist damit durch die Wahl eines ihm nicht genehmen Aufenthaltsorts des Kindes durch die Mutter nicht in seinem (Mit-)Sorgerecht verletzt worden (1 Ob 147/99w; RIS-Justiz RS0112167). Die Verbringung der Minderjährigen durch die Mutter nach Österreich war aus diesem Grund auch nicht widerrechtlich iSd Art 3 HKÜ.

5.) Der Inhaber der alleinigen Obhut handelt nach dem Schweizerischen Bundesgericht rechtsmissbräuchlich, wenn er beispielsweise ohne plausible Gründe wegzieht oder der Wegzug ausschließlich zur Vereitelung von Kontakten zwischen Kind und anderem Elternteil erfolgt (5D 171/2009). Ein derart rechtsmissbräuchliches Verhalten bewirkt aber nicht automatisch den Übergang der Obhut auf den anderen Elternteil. Damit kann dahingestellt bleiben, ob das Verbringen der Minderjährigen nach Österreich durch die allein obhutsberechtigte Mutter rechtsmissbräuchlich nach schweizerischem Recht gewesen ist, weil selbst bei einem allfälligen Rechtsmissbrauch die nach dem HKÜ geschützte Sorgerechtsposition im Zeitpunkt der Verbringung jedenfalls nicht dem Antragsteller zukam (siehe dazu auch 1 Ob 147/99w).

6.) Liegt kein Entführungsfall vor, erübrigt sich im Zuge des beschleunigten Rückführungsverfahrens auch eine Prüfung des Kindeswohls, wie sie der Antragsteller vor Augen hat.

Der außerordentliche Revisionsrekurs ist daher zurückzuweisen.

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