OGH 4Ob82/10b

OGH4Ob82/10b13.7.2010

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Schenk als Vorsitzende und durch die Hofräte Dr. Vogel, Dr. Jensik, Dr. Musger und Dr. Schwarzenbacher als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen A***** A***** B***** und M***** A***** B*****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter Mag. C***** B*****, diese vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in Linz, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 2. März 2010, GZ 42 R 62/10v-S24, mit dem der Beschluss des Bezirkgerichts Innere Stadt Wien vom 21. Jänner 2010, GZ 80 P 25/09d-S20 bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Text

Begründung

Die Minderjährigen lebten bis Dezember 2008 mit ihren Eltern im gemeinsamen Haushalt in Frankreich und wurden sodann von der Mutter ohne Zustimmung des Vaters nach Österreich verbracht. Mit einstweiliger Verfügung vom 7. 1. 2009 stellte das französische Amtsgericht auf Antrag des Vaters fest, dass die „elterliche Autorität“ über beide Minderjährige beiden Elternteilen zustehe. Es bestimmte als ständigen Wohnsitz der beiden Minderjährigen den Wohnsitz des Vaters und sprach aus, dass diesem für die Zeit, welche die Minderjährigen bei ihm verbringen, das alleinige Sorgerecht sowie die Entscheidungsbefugnis im Fall eines chirurgischen Eingriffs zukomme. Für die Mutter wurde ein Besuchsrecht angeordnet. Der Vater beantragte am 25. 2. 2009 beim inländischen Pflegschaftsgericht die Rückführung der Kinder nach dem Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ), das die Rückführung der Kinder nach Frankreich anordnete; diese Entscheidung wurde vom Obersten Gerichtshof bestätigt (1 Ob 176/09b).

Das Erstgericht hat einen Antrag der Mutter, eine Amtsbestätigung nach § 107 AußStrG darüber auszustellen, dass ihr hinsichtlich der beiden Minderjährigen die alleinige Obsorge zustehe, zurückgewiesen und ausgesprochen, dass es zur weiteren Führung der Pflegschaftssache international unzuständig ist. Das Rekursgericht hat diesen Beschluss bestätigt.

Die Mutter macht im außerordentlichen Revisionsrekurs geltend, die Ausstellung einer Amtsbestätigung nach § 107 AußStrG falle in die Zuständigkeit inländischer Gerichte; Art 10 Brüssel IIa-VO sei nicht anwendbar.

Rechtliche Beurteilung

1. Nach § 107 Abs 1 Z 1 AußStrG ist den Parteien im Verfahren über die Obsorge auf Antrag eine Ausfertigung der Entscheidung ohne Begründung (1. Fall) oder eine Urkunde auszustellen, in der der Umfang der Betrauung mit der Obsorge umschrieben ist (2. Fall).

2. Das Obsorgedekret nach § 107 Abs 1 Z 1 2. Fall AußStrG ist nur dann eine Amtsbestätigung über aktenmäßig bei Gericht bekannte Tatsachen, wenn die Obsorgeverteilung zwischen den Eltern unstrittig ist. Soll eine ex lege bestehende Obsorgeverteilung in einem Fall urkundlich bestätigt werden, in dem die Eltern unterschiedlicher Auffassung sind und jeder Elternteil für sich ein bestehendes Teil- bzw Mit-Obsorgeverhältnis in Anspruch nimmt, kann nicht mehr lediglich von einer Amtsbestätigung gesprochen werden. Inhaltlich wird in einem solchen Fall über einen Rechtsschutzantrag entschieden, der dahin lautet, festzustellen, wer von den Elternteilen - allenfalls in welchem Ausmaß - tatsächlich ex lege mit der Obsorge betraut ist. Ein derartiges feststellendes Obsorgedekret ist nicht mit einer (rechtsgestaltenden) Entscheidung über die Regelung der Obsorge (§ 176 ABGB, § 177a ABGB, § 177 ABGB) zu verwechseln. Dennoch sind regelmäßig die diese Obsorgeverfahren regelnden Bestimmungen, insbesondere die Anfechtungsmöglichkeiten, zu berücksichtigen (6 Ob 30/08t).

3. Die Brüssel IIa-VO gilt nach ihrem Erwägungsgrund 5 für alle Entscheidungen über die elterliche Verantwortung, einschließlich der Maßnahmen zum Schutz des Kindes, um die Gleichbehandlung aller Kinder sicherzustellen. Nach dieser umfassenden Zielsetzung besteht kein Zweifel, dass jedenfalls dann, wenn - wie hier - kein Einvernehmen zwischen den Eltern über die Obsorgeverteilung besteht, auch Verfahren über den Rechtsschutzantrag auf Ausstellung einer Amtsbestätigung nach § 107 AußStrG als in den Anwendungsbereich der Brüssel IIa-VO fallende Obsorgeverfahren zu beurteilen sind.

4. Die angefochtene Entscheidung geht somit (im Anschluss an die Entscheidung 1 Ob 176/09b) zutreffend davon aus, dass für die Beurteilung der Zuständigkeit für den verfahrenseinleitenden Antrag Art 10 Brüssel IIa-VO maßgeblich ist. Da keine der Alternativen dieser Bestimmung vorliegt, die zu einer Zuständigkeit der österreichischen Gerichte führen kann, sind (nur) die französischen Gerichte weiterhin für alle Entscheidungen betreffend die elterliche Verantwortung zuständig.

5. Entgegen der Auffassung der Mutter ist eine Anwendung des Art 15 Brüssel IIa-VO ausgeschlossen. Die Möglichkeit der Verweisung an ein anderes Gericht kommt nach dieser Bestimmung nur dem Gericht jenes Mitgliedstaates zu, das in der Hauptsache zuständig ist. Das verweisende Gericht muss daher nach Art 8 bis 14 Brüssel IIa-VO international zuständig sein (Rauscher, Brüssel IIa-VO², Art 8 Rz 8; Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht³, Art 15 Rz 2). Dies sind im Anlassfall, wie dargestellt, die französischen Gerichte.

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