OGH 10ObS135/09i

OGH10ObS135/09i20.10.2009

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Markus Kaspar (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Thomas Kallab (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ing. Michael H*****, vertreten durch AVIA Law-Group Wolczik ua, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei Wiener Gebietskrankenkasse, 1100 Wien, Wienerbergstraße 15-19, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Gewährung eines Heilmittels, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 20. April 2009, GZ 8 Rs 176/08y-43, womit über Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 20. August 2008, GZ 33 Cgs 4/07f-39, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache zu Recht erkannt, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Beide Parteien haben ihre Kosten des Rechtsmittelverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 4. 12. 2006 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers auf Gewährung des Präparats „Cialis 20 mg Tbl, OP I" laut Verordnung der urologischen Abteilung des Landesklinikums St. Pölten vom 9. 11. 2006 ab.

In der dagegen rechtzeitig erhobenen Klage stellte der Kläger die Begehren

1.a) seinem Antrag auf Gewährung des Präparats „Cialis 20 mg Tbl, OP I" laut Verordnung der urologischen Abteilung des Landesklinikums St. Pölten vom 9. 11. 2006 stattzugeben,

b) hilfsweise die beklagte Partei zu einem Ersatz der Kosten des genannten Präparats in der Höhe von 100 EUR samt 4 % Zinsen vom 2. 12. 2006 bis zum 1. 1. 2007 zu verpflichten;

sowie

2.a) auf Feststellung, dass die beklagte Partei schuldig sei, dem Kläger auf die Dauer des Fortbestehens der erektilen Dysfunktion aus dem Grund der Durchblutungsstörung nach Entfernung der Lymphgefäße ein die Durchblutung der Sexualorgane förderndes Mittel zu gewähren,

b) hilfsweise auf Feststellung, dass die beklagte Partei schuldig sei, dem Kläger für den Fall der Unmöglichkeit der Gewährung eines die Durchblutung der Sexualorgane fördernden Mittels die zukünftigen Kosten für die Anwendung eines die erektile Dysfunktion behebenden Präparats auf die Dauer des Fortbestehens der erektilen Dysfunktion aus dem Grund der Durchblutungsstörung nach Entfernung der Lymphgefäße zu ersetzen.

Der Kläger brachte dazu im Wesentlichen vor, dass bei ihm eine erektile Dysfunktion als Folge eines Tumors bzw der operativen Entfernung des Tumors aufgetreten sei. Das begehrte Präparat Cialis werde zur Behandlung der erektilen Dysfunktion eingesetzt, um die Durchblutung des durch Zerstörung der Lymphgefäße geschädigten Gewebes zu verbessern. Zudem würde die Nichtausübung des vorhandenen Sexualtriebs auch zu degenerativen psychischen Veränderungen von pathologischem Wert führen. Er leide an Depressionen und nehme Antidepressiva ein. Die Nichtaufnahme des Medikaments in den Erstattungskodex schränke den Anspruch des Versicherten auf die für ihn ausreichende, zweckmäßige und das Maß des Notwendigen nicht überschreitende Krankenbehandlung nicht ein, sodass das Präparat auch ohne Aufnahme in den Erstattungskodex von der beklagten Partei zu genehmigen gewesen wäre. Aufgrund der rechtswidrigen Ablehnung (der Gewährung) des Präparats stehe dem Kläger außerdem ein schadenersatzrechtlicher Anspruch gegen die beklagte Partei auf Ersatz der angelaufenen Kosten für das Präparat sowie ein Anspruch auf Ersatz der zukünftigen Kosten für dieses Präparat für den Fall der Aufrechterhaltung der rechtswidrigen Nichtaufnahme in den Erstattungskodex zu.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wendete im Wesentlichen ein, das begehrte Präparat diene nicht der Krankenbehandlung iSd § 133 Abs 2 ASVG sondern ermögliche ausschließlich die Ausübung des Geschlechtsverkehrs. Es sei daher von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht umfasst. Zu den einzelnen Klagebegehren des Klägers brachte die beklagte Partei insbesondere vor, dass ein durchsetzbarer Rechtsanspruch auf die Gewährung von Sachleistungen in der Krankenversicherung nicht bestehe. Ein Klagebegehren auf Übernahme von Kosten durch den Krankenversicherungsträger sei denkbar, wofür das Klagebegehren jedoch entsprechend abzuändern wäre. Eine Kostenerstattung komme hingegen nicht in Betracht, weil der Kläger die dafür erforderliche saldierte Originalrechnung zu dem verordneten Präparat nicht vorgelegt habe. Schließlich könnten erst in der Zukunft möglicherweise entstehende Ansprüche in der Krankenversicherung nicht zum Gegenstand einer Feststellungsklage gemacht werden.

Das Erstgericht wies ein Klagebegehren, „die beklagte Partei sei schuldig, dem Kläger das Präparat 'Cialis 20 mg Tabletten, OP I' laut Verordnung der urologischen Abteilung des Landesklinikums St. Pölten vom 9. 11. 2006 zu gewähren sowie die Kosten des Verfahrens zu ersetzen", ab. Eine Entscheidung über das weitere in der Klage geltend gemachte Hauptbegehren (Punkt 2a des Klagebegehrens) unterblieb ebenso wie eine Entscheidung über die beiden vom Kläger gestellten Eventualbegehren (Punkt 1b und 2b des Klagebegehrens). Ausgehend vom festgestellten Sachverhalt gelangte das Erstgericht in seiner rechtlichen Beurteilung zu dem Ergebnis, der Kläger benötige für die Behandlung der bei ihm festgestellten Depression eine Psychotherapie. Das Präparat Cialis sei für die Behandlung der Depression nicht geeignet und entspreche daher nicht dem Erfordernis der Zweckmäßigkeit einer Heilmittelbehandlung nach § 133 ASVG. Nur in Kombination mit einer Psychotherapie könnte das begehrte Präparat unter Umständen zweckmäßig und in diesem Fall auch die Kostenübernahme durch die Krankenversicherung gerechtfertigt sein.

Gegen dieses Urteil erhob der Kläger Berufung wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Als Mangelhaftigkeit des Verfahrens rügte er die vom Erstgericht unterlassene Einvernahme seines Hausarztes als Zeugen. In seiner Rechtsrüge vertrat der Kläger im Wesentlichen die Ansicht, es komme durch die Verabreichung von Cialis auch zu einer Verbesserung seiner depressiven Symptomatik mit Krankheitswert, weshalb er Anspruch auf Gewährung dieses Präparats durch den beklagten Krankenversicherungsträger habe. Er machte in diesem Zusammenhang auch sekundäre Feststellungsmängel geltend und beantragte die Abänderung des Ersturteils dahin, dass „dem Klagebegehren stattgegeben werde".

Das Berufungsgericht hob das Ersturteil auf und verwies die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. Es vertrat zusammengefasst die Ansicht, die Verabreichung des begehrten Präparats laut Verordnung der urologischen Abteilung des Landesklinikums St. Pölten vom 9. 11. 2006 stelle eine notwendige und zweckmäßige Behandlung für die psychische Erkrankung des Klägers dar. Das Klagebegehren sei jedoch aufgrund seiner bisherigen Formulierung noch nicht spruchreif. Grundsätzlich bestehe kein durchsetzbarer Rechtsanspruch des Versicherten auf Gewährung von Sachleistungen in der Krankenversicherung. Es sei jedoch die Möglichkeit eines Leistungsbegehrens auf Kostenerstattung oder eines Begehrens auf Kostenübernahme anerkannt. Ein Kostenerstattungsanspruch setze voraus, dass die Kosten vorher vom Anspruchsberechtigten getragen worden seien, wohingegen ein Begehren auf Übernahme der Kosten für ein Heilmittel für die Zukunft in Betracht komme. Bei den bisherigen Hauptbegehren auf Gewährung der Heilmittel laut der Verordnung vom 9. 11. 2006 (Punkt 1a des Klagebegehrens) und auf Feststellung einer Verpflichtung zur Heilmittelgewährung für die Zukunft (Punkt 2a des Klagebegehrens) handle es sich um unzulässige Sachleistungsbegehren. Für das Klagebegehren auf Kostenerstattung für das Heilmittel laut Verordnung vom 9. 11. 2006 (Punkt 1b des Klagebegehrens) wäre vom Kläger eine saldierte Originalrechnung als Anspruchsvoraussetzung vorzulegen. Auch das bisher nur als Eventualbegehren formulierte Kostenübernahmebegehren für die Zukunft (Punkt 2b des Klagebegehrens) sei erörterungsbedürftig.

Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof wurde für zulässig erklärt, weil insbesondere zur Frage, ob allein eine Mitursächlichkeit einer erektilen Dysfunktion an einer depressiven Symptomatik mit Krankheitswert und eine nur teilweise Besserung der depressiven Symptomatik durch die Behandlung der erektilen Dysfunktion für einen diesbezüglichen Kostenerstattungs- bzw Kostenübernahmeanspruch ausreiche oder ob dafür eine nähere Gewichtung dieses Faktors erforderlich sei, noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.

Gegen diesen Aufhebungsbeschluss richtet sich der Rekurs der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinn einer Wiederherstellung des klagsabweisenden Ersturteils abzuändern.

Der Kläger beantragt in seiner Rekursbeantwortung, das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen bzw ihm keine Folge zu geben. Hilfsweise wird die Abänderung der angefochtenen Entscheidung im Sinn einer gänzlichen Stattgebung des Klagebegehrens begehrt.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zulässig, weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen ist, und auch berechtigt.

Die beklagte Partei macht in ihrem Rechtsmittel unter anderem geltend, dass nach herrschender Auffassung kein durchsetzbarer Rechtsanspruch auf die Gewährung von Sachleistungen in der Krankenversicherung bestehe. Hinsichtlich der verfahrensgegenständlichen ärztlichen Verordnung vom 9. 11. 2006 komme daher nur die Gewährung einer Kostenerstattung in Betracht, wobei allerdings der dafür erforderliche Nachweis einer Bezahlung (saldierte Rechnung in Original) in diesem Verfahren nicht erbracht worden sei.

Der erkennende Senat hat dazu Folgendes erwogen:

Das Erstgericht hat in seiner Entscheidung nur über Punkt 1a des Klagebegehrens abgesprochen und damit das Klagebegehren nicht zur Gänze erledigt. Hat das Erstgericht die Sachanträge nicht vollständig erledigt, dann kann die dadurch beschwerte Partei - jedenfalls dann, wenn ihr Anspruch versehentlich übergangen wurde - einen Ergänzungsantrag nach § 423 ZPO stellen; in jedem Fall kann sie auch Berufung nach § 496 Abs 1 Z 1 ZPO erheben (vgl E. Kodek in Rechberger, ZPO3 § 496 Rz 2; Rechberger in Rechberger aaO §§ 423-424 Rz 3; M. Bydlinski in Fasching/Konecny2 § 423 ZPO Rz 2 jeweils mwN; RIS-Justiz RS0041360). Wenn dem Urteil nicht zu entnehmen ist, dass die Nichterledigung von Sachanträgen auf unrichtiger rechtlicher Beurteilung beruht, dh das Gericht Sachanträge aus der Erwägung unerledigt gelassen hat, dass sie aus materiellrechtlichen Gründen nicht Gegenstand des Verfahrens seien, muss die Nichterledigung in der Berufung gerügt, dh ausdrücklich geltend gemacht werden; es genügt nicht, dass der Antrag des aus anderen Gründen erhobenen Rechtsmittels allgemein auf vollinhaltliche Anspruchsstattgebung gerichtet ist. Wenn also das Erstgericht über einen Sachantrag nicht entschieden hat und diese Unterlassung in der Berufung nicht geltend gemacht wird, ist es dem Berufungsgericht verwehrt, diese Entscheidung nachzutragen. Wurde daher gegen die Nichterledigung eines Sachantrags weder durch Ergänzungsantrag nach § 423 ZPO noch durch Berufung nach § 496 Abs 1 Z 1 ZPO Abhilfe gesucht, scheidet dieser Anspruch aus dem Verfahren aus (vgl Pimmer in Fasching/Konecny2 § 496 ZPO Rz 20 ff; E. Kodek in Rechberger aaO § 496 Rz 2 jeweils mwN; RIS-Justiz RS0041486 ua).

Im vorliegenden Fall hat der Kläger im Hinblick auf die teilweise Nichterledigung seines Klagebegehrens durch das Erstgericht weder einen Ergänzungsantrag nach § 423 ZPO gestellt noch hat er diesen Umstand in seiner Berufung gerügt. Ausführungen in der Richtung, dass die Unterlassung der Entscheidung über Teile seines Klagebegehrens im Sinne des § 496 Abs 1 Z 1 ZPO gerügt worden wäre, finden sich in der Berufung nicht. Auch der auf „Stattgebung des Klagebegehrens" gerichtete Berufungsantrag stellt, wie bereits ausgeführt, noch keine Geltendmachung einer Mangelhaftigkeit des Verfahrens iSd § 496 Abs 1 Z 1 ZPO dar. Die nicht gänzliche Erledigung des Klagebegehrens durch das Erstgericht bildete somit einen Mangel des Verfahrens erster Instanz, der im Berufungsverfahren ungerügt geblieben ist. Mangels einer solchen Rüge hätte sich das Berufungsgericht daher in seiner Entscheidung mit den aus dem Verfahren ausgeschiedenen Teilen des Klagebegehrens (Punkt 1b, 2a und 2b des Klagebegehrens) nicht mehr auseinandersetzen dürfen. Es war dem Berufungsgericht verwehrt, diese Teile des Klagebegehrens zum Gegenstand seiner Entscheidung zu machen (vgl 10 ObS 228/90). Die Begehren auf Kostenerstattung für das begehrte Heilmittel laut ärztlicher Verordnung vom 9. 11. 2006 (Punkt 1b des Klagebegehrens), auf Feststellung einer Verpflichtung zur Heilmittelgewährung für die Zukunft (Punkt 2a des Klagebegehrens) sowie das ebenfalls für die Zukunft gestellte Kostenübernahmebegehren (Punkt 2b des Klagebegehrens) sind damit aus dem Verfahren ausgeschieden (vgl 10 ObS 80/92 = SSV-NF 6/76 ua), sodass sich der darauf gerichtete Erörterungsauftrag des Berufungsgerichts erübrigt.

Verfahrensgegenständlich ist allein noch das vom Erstgericht abgewiesene und auf Gewährung des Heilmittels laut der ärztlichen Verordnung vom 9. 11. 2006 gerichtete Sachleistungsbegehren (Punkt 1a des Klagebegehrens). Dazu hat bereits das Berufungsgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich kein durchsetzbarer Rechtsanspruch des Versicherten auf Gewährung von Sachleistungen in der Krankenversicherung besteht (vgl 10 ObS 9/99t = SSV-NF 13/12; RIS-Justiz RS0111541). Erhält der Versicherte bzw Anspruchsberechtigte eine einzelne Leistung nicht auf Rechnung des Krankenversicherungsträgers, kann er nur Kostenerstattung verlangen (vgl jüngst 10 ObS 36/09f). Dies bedeutet, dass es sich bei dem allein noch verfahrensgegenständlichen Klagebegehren um ein unzulässiges Sachleistungsbegehren handelt. Es ist daher schon aufgrund dieser Erwägungen die angefochtene Entscheidung des Berufungsgerichts entsprechend dem Antrag der beklagten Partei dahin abzuändern, dass das (nur) diesen Teil des Klagebegehrens abweisende Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen ist.

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Aktuelle berücksichtigungswürdige Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers, welche einen ausnahmsweisen Kostenzuspruch nach Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden nicht bescheinigt und sind auch aus der Aktenlage nicht ersichtlich. Die beklagte Partei hat als Versicherungsträger iSd § 77 Abs 1 Z 1 ASGG die Kosten ihres Rekurses ohne Rücksicht auf den Ausgang des Verfahrens selbst zu tragen.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte