OGH 2Ob94/09a

OGH2Ob94/09a15.10.2009

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Martin F*****, vertreten durch Mag. Klaus Hehenberger, Rechtsanwalt in Wels, gegen die beklagten Parteien 1. Susanne H*****, und 2. V***** AG, *****, beide vertreten durch Dr. Otto Trenks, Rechtsanwalt in Wels, wegen 24.177,60 EUR sA und Feststellung (Streitwert 1.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse 12.588,80 EUR) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 24. Februar 2009, GZ 3 R 177/08g-22, womit das Urteil des Landesgerichts Wels vom 25. Juli 2008, GZ 2 Cg 37/07d-16, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit 1.569,78 EUR (darin 47,50 EUR USt und 1.284,80 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 12. 5. 2006 ereignete sich im Ortsgebiet von T***** im Bereich der Kreuzung der R*****straße mit dem K*****weg ein Verkehrsunfall. An diesem Unfall waren der Kläger als Lenker eines Motorrads und die Erstbeklagte als Lenkerin und Halterin eines bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten PKWs beteiligt. Der Kläger fuhr mit seinem Motorrad auf dem - rechts neben dem (Haupt-)Fahrstreifen befindlichen, durch strichlierte Bodenmarkierungen getrennten, 1,5 Meter breiten - Radfahrstreifen in der R*****straße. Die Erstbeklagte fuhr, dem Kläger entgegenkommend, ebenfalls in der R*****straße. Sie beabsichtigte, an der Kreuzung nach links in den K*****weg einzubiegen. Da auf der Gegenfahrbahn Kolonnenverkehr herrschte, hielt sie ihr Fahrzeug an. Der Lenker eines auf der Gegenfahrbahn fahrenden Kastenwagens brachte sein Fahrzeug zum Stillstand, um der Erstbeklagten das Linksabbiegen zu ermöglichen. Diese fuhr zügig in die Kreuzung ein und stieß mit dem Motorrad des Klägers zusammen. Die Anprallgeschwindigkeit des klägerischen Motorrads betrug zwischen 25 und 30 km/h und jene des Beklagtenfahrzeugs etwa 15 km/h. Dem Kläger war wegen der Größe des angehaltenen Kastenwagens die Sicht auf das Beklagtenfahrzeug während der letzten fünf bis sechs Sekunden bis zur ersten Beobachtungsmöglichkeit, die beginnend mit den letzten zwei Metern Bewegungsstrecke des Beklagtenfahrzeugs gegeben war, verdeckt. Diese zwei Meter legte die Erstbeklagte in einer Zeitspanne von knapp einer Sekunde bis zur Kollisionsstelle zurück. In dieser Zeitspanne konnte der Kläger keine wirksame Abwehrmaßnahme mehr treffen. Wäre er lediglich mit einer Geschwindigkeit von etwa 10 km/h gefahren, so hätte er auf abbiegende oder vortastende Fahrzeuge rechtzeitig reagieren und anhalten können. Die Erstbeklagte konnte an der Front des angehaltenen Kastenwagens vorbei lediglich die letzten fünf oder sechs Meter Bewegungsstrecke des Klagsfahrzeugs beobachten. Sie hätte den Unfall dann vermeiden können, wenn sie sich über die rechtsseitige Verlängerung der rechtsseitigen Außenkontur des haltenden Kastenwagens vorgetastet hätte. Bei der von ihr vorgenommenen zügigen Einfahrt war eine Unfallvermeidung nicht möglich. Der Kläger erlitt beim Unfall einen offenen Fersenbeintrümmerbruch mit nachfolgender Infektion und Wundheilungsstörung; der Verletzungsgrad war schwer. Unfallbedingt erlitt der Kläger 10 bis 12 Tage starke, 21 bis 24 Tage mittelstarke und 90 bis 120 Tage leichte Schmerzen. Aufgrund des Verkehrsunfalls bestehen beim Kläger Dauerfolgen im Sinne einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 25 %. Spätfolgen können nicht ausgeschlossen werden.

Der Kläger begehrte von den Beklagten den Ersatz seiner Schäden in Höhe von 24.177,60 EUR, welcher Betrag sich zusammensetzt aus 20.000 EUR an Schmerzengeld, 3.830 EUR Motorradschaden, 150 EUR für Bekleidung, 147,60 EUR für Besuchsfahrten und 50 EUR an Spesen. Weiters begehrte er die Feststellung der Haftung der Beklagten zur ungeteilten Hand - die Zweitbeklagte beschränkt mit der Versicherungssumme - für seine kausalen Folgen aus dem Verkehrsunfall. Das Alleinverschulden daran treffe die Erstbeklagte, welche den Vorrang des Klägers missachtet habe und zu schnell gefahren sei.

Die Beklagten wendeten ein, dass das Alleinverschulden am Verkehrsunfall den Kläger selbst treffe, weil er vorschriftswidrig den gekennzeichneten Radweg benützend in die Kreuzung eingefahren sei.

Das Erstgericht gab der Klage - ausgehend von einer Verschuldensteilung 1 : 1 - hinsichtlich des Feststellungsbegehrens zur Hälfte und hinsichtlich des Zahlungsbegehrens mit 9.588,80 EUR statt und wies das Mehrbegehren ab. Es lastete der Erstbeklagten einen Verstoß gegen § 19 Abs 5 StVO (Vorrangverletzung) an und dem Kläger im Wesentlichen einen Verstoß gegen § 8 Abs 4 StVO (unbefugtes Befahren des Fahrradstreifens), nicht hingegen (wegen freiwilligen Anhaltens des Kastenwagens) einen Verstoß gegen § 17 Abs 4 StVO. Das Schmerzengeld erachtete das Erstgericht mit 15.000 EUR als angemessen.

Das Berufungsgericht wies die Klage zur Gänze ab und es sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei. Der vom Kläger befahrene Radfahrstreifen sei ein „Mehrzweckstreifen" im Sinne des § 2 Abs 1 Z 7a StVO. Nach § 8 Abs 4 Z 2 StVO sei das Befahren von Mehrzweckstreifen mit Fahrzeugen, die keine Fahrräder sind, nur dann gestattet, wenn der links an den Mehrzweckstreifen angrenzende Fahrstreifen nicht breit genug ist, oder wenn das Befahren durch Richtungspfeile auf der Fahrbahn für das Einordnen zur Weiterfahrt angeordnet ist und überdies dadurch Radfahrer weder gefährdet noch behindert werden. Diese Ausnahmetatbestände lägen hier nicht vor. Der Kläger habe daher gegen § 8 Abs 4 StVO verstoßen. Bei dem von ihm durchgeführten Fahrmanöver handle es sich um kein erlaubtes „Vorschlängeln" im Sinne des § 12 Abs 5 StVO, sondern um ein Vorbeifahren an einer angehaltenen Fahrzeugkolonne im Sinne des § 17 Abs 1 StVO. Dies erfordere schon wegen der durch die angehaltenen Fahrzeuge bedingten Sichtbehinderung besondere Vorsicht und Aufmerksamkeit. Der Kläger wäre daher gehalten gewesen, im Zuge seiner rechtswidrigen Vorbeifahrt an der Fahrzeugkolonne lediglich eine Geschwindigkeit von etwa 10 km/h einzuhalten, um auf abbiegende Fahrzeuge rechtzeitig reagieren und anhalten zu können. Es sei ihm daher auch ein Verstoß gegen § 20 Abs 1 StVO anzulasten. Der Kläger könne sich aufgrund der verbotswidrigen Benützung des Mehrzweckstreifens nicht auf seinen Vorrang berufen. Der Umstand, dass sich auf dem Radweg ein Fahrrad hätte nähern können, sei für die Vorrangfrage ohne Bedeutung, da ein solches Fahrzeug tatsächlich nicht vorhanden gewesen sei und das Fahrverhalten nicht abstrakt, sondern nur unter Berücksichtigung der konkreten Verkehrslage zu beurteilen sei. Der Kläger habe daher seine Schäden selbst verschuldet. Wegen der Rangordnung des § 11 Abs 1 EKHG, wonach zur Beurteilung der Verpflichtung zum Ersatz in erster Linie auf das Verschulden der Lenker abzustellen sei, bestehe mangels eines Verschuldens der Erstbeklagten keine Ersatzpflicht. Die ordentliche Revision sei zulässig, weil eine oberstgerichtliche Judikatur zur Frage fehle, ob der verbotswidrig einen Mehrzweckstreifen benützende Kraftfahrzeuglenker einen Vorrang beanspruchen könne, und weil in der vom Berufungsgericht zur Lösung der Vorrangfrage herangezogenen höchstgerichtlichen Judikatur ein Widerspruch zur Beurteilung der gleichen Frage bei rechtswidriger Benützung einer Busspur durch den Obersten Gerichtshof erblickt werden könnte.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, das Urteil dahingehend abzuändern, dass ausgehend von einer Verschuldensteilung von 1:1 dem Kläger 12.088,80 EUR sA zugesprochen werden und die Haftung der Beklagten zur ungeteilten Hand - die Haftung der Zweitbeklagten auf die Versicherungssumme beschränkt - für alle kausalen Folgen aus dem Verkehrsunfall im Ausmaß von 50 % festgestellt werde; in eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die Beklagten beantragen, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig und teilweise auch berechtigt.

1. Der gegenständliche Verkehrsunfall wirft im Kern die Frage auf, ob sich der Kläger trotz seines verkehrswidrigen Verhaltens (unzulässiges Befahren des Mehrzweckstreifens - Verstoß gegen § 8 Abs 4 StVO) gegenüber der Erstbeklagten auf seinen Vorrang berufen kann.

1.1. Dazu hat die Rechtsprechung allgemein den Grundsatz entwickelt, dass sich der Vorrang auf die ganze Fahrbahn der bevorrangten Straße bezieht und er auch dann nicht verloren geht, wenn sich der im Vorrang befindliche Verkehrsteilnehmer verkehrswidrig verhält. Dieser Grundsatz soll jedenfalls dann seine Richtigkeit haben, wenn der bevorrangte Verkehr vom wartepflichtigen Verkehrsteilnehmer wahrgenommen oder schuldhaft nicht wahrgenommen wird sowie wenn mit einem Verkehr auf der bevorrangten Straße gerechnet werden muss (RIS-Justiz RS0073421; RS0074976).

1.2. Allerdings gilt der Grundsatz nicht uneingeschränkt. Wenn etwa ein einbiegender und an sich benachrangter Verkehrsteilnehmer darauf vertrauen kann, dass der in einer Kolonne fahrende bevorrangte Kfz-Lenker ein vor ihm abbiegendes und deshalb langsamer werdendes Fahrzeug nicht unter Überfahren einer Sperrlinie und einer daran anschließenden Sperrfläche überholen wird, so kann sich der dennoch überholende Kfz-Lenker nicht auf seinen Vorrang berufen (2 Ob 172/04i = ZVR 2005/98). Ebenso kann der Lenker eines Fahrzeugs, das aus einer Straße mit allgemeinem Fahrverbot kommt, für sich keinen Vorrang in Anspruch nehmen, sondern er muss damit rechnen, dass die Lenker anderer Fahrzeuge darauf vertrauen, dass aus dieser Straße kein Fahrzeug kommt (RIS-Justiz RS0073385, vgl auch [T6]: Missachtung des Rotlichts). Dasselbe gilt für den Lenker eines Fahrzeugs, der eine Einbahnstraße entgegen der zulässigen Richtung befährt (ZVR 1979/34), sowie für Fahrzeuglenker, die als Radfahrer entgegen § 68 Abs 1 StVO einen Gehsteig in Längsrichtung befahren, oder entgegen § 8 Abs 2 Satz 1 StVO an einer Schutzinsel nicht rechts, sondern links vorbei- und dadurch eine „Verbindungsstraße" in der „falschen" Richtung befahren, bzw auf einer Nebenfahrbahn gegen die nach § 8 Abs 1 letzter Satz StVO zulässige Fahrtrichtung fahren (vgl 2 Ob 165/06p mwN).

1.3. Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass der allgemein gültige Grundsatz, wonach der Vorrang auch dann nicht verloren geht, wenn sich der im Vorrang befindliche Verkehrsteilnehmer verkehrswidrig verhält, in besonders krassen Fällen der Verkehrswidrigkeit durchbrochen wird.

1.4. In einen mit dem hier zu beurteilenden vergleichbaren Sachverhalt judizierte der erkennende Senat, dass im Falle eines Zusammenstoßes zwischen einem PKW-Lenker, der unbefugt eine Busspur benützte, um an einer stehenden Fahrzeugkolonne vorbeizufahren, und einem entgegenkommenden links abbiegenden PKW, der wegen der stehenden Kolonne keine ausreichende Sicht auf die Busspur hatte und der daher nicht in einem Zug hätte abbiegen dürfen, (im Hinblick auf die im unbefugten Befahren der Busspur liegende krasse Verkehrswidrigkeit) eine Verschuldensteilung von 1:1 angemessen sei (2 Ob 46/94 = ZVR 1995/83).

1.5. Ebenso entschied der Senat im Falle einer Kollision zwischen einem Motorradfahrer, der eine Kreuzung - aus dem Rechtsabbiegestreifen - in gerader Richtung überfuhr, und einem entgegenkommenden PKW, der nach links abbog, ohne auf den entgegenkommenden Geradeausverkehr zu achten (2 Ob 54/07s), sowie bei Kollision zwischen einem die Vorrangstraße befahrenden, aber das Anhaltegebot bei einer Eisenbahnkreuzung verletzenden Fahrzeugs und einem aus einer benachrangten Querstraße einbiegenden PKW (2 Ob 83/08g).

1.6. Zum selben Ergebnis (einer Teilung im Verhältnis von 1 : 1) kommt der Senat nach Abwägung der - von den Vorinstanzen aufgezeigten - beiden Seiten vorwerfbaren Verkehrswidrigkeiten auch im vorliegenden Fall. Dem steht auch nicht der - vom Berufungsgericht grundsätzlich richtig wiedergegebene und zutreffende - Grundsatz entgegen, dass das jeweilige Fahrverhalten nur unter Berücksichtigung der konkreten Verkehrslage zu beurteilen ist. Hier hätte nämlich die konkrete Verkehrslage - (durch den angehaltenen Kastenwagen bedingte) eingeschränkte Sicht auf die den in Gegenrichtung verlaufenden Mehrzweckstreifen befahrenden Fahrzeuge - für die Erstbeklagte die Verpflichtung mit sich gebracht, ihre Geschwindigkeit bis zu einem „Vortasten" herabzumindern, um den Vorrang eines solchen Fahrzeugs wahren zu können (vgl RIS-Justiz RS0074791).

2. Was die Höhe des vom Erstgericht ausgemessenen Schmerzengelds betrifft, ist der vom Kläger vorgenommenen Berechnung des von ihm als angemessen erachteten (höheren) Betrags entgegen zu halten, dass die Bemessung des Schmerzengelds nach ständiger Rechtsprechung nicht nach starren Regeln zu erfolgen hat, sodass es auch nicht nach Art eines Tarifs für einzelne Tage oder sonstige Zeiteinheiten aufgrund festgestellter Schmerzperioden berechnet werden kann. Vielmehr ist jede Verletzung in ihrer Gesamtauswirkung nach den besonderen Umständen des jeweiligen Einzelfalls zu betrachten und auf dieser Basis eine Bemessung vorzunehmen (vgl Danzl in Danzl/Gutiérrez-Lobos/Müller, Schmerzengeld9 108 f). Der Kläger, der keine einzige Vergleichsentscheidung zitiert, bleibt aber jegliche Begründung dafür schuldig, dass der ausgemessene Betrag unterhalb der von der Rechtsprechung für vergleichbare Fälle zuerkannten Ersatzbeträge liege.

Die angefochtene Entscheidung war somit - in teilweiser Stattgebung der Revision des Klägers - im Sinne der Wiederherstellung des Ersturteils abzuändern.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41 Abs 1, 43 Abs 2 und 50 ZPO.

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