OGH 10ObS104/09f

OGH10ObS104/09f21.7.2009

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Lukas Stärker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Andrea Eisler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Maguette S*****, vertreten durch Gerlinde Hohensinner, pA VertretungsNetz-Sachwalterschaft, 1020 Wien, Taborstraße 46a/6, als Sachwalterin, gegen die beklagte Partei Land Wien, 1082 Wien, Neues Rathaus, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Rechtsanwalt in Wien, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 17. April 2009, GZ 9 Rs 10/09w-26, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung

Mit Bescheid der beklagten Partei vom 18. 9. 2007 wurde der Antrag der am 10. 8. 1985 geborenen Klägerin auf Gewährung von Pflegegeld abgewiesen.

Mit der gegen diesen Bescheid rechtzeitig erhobenen Klage begehrte die Klägerin die Gewährung des Pflegegelds der Stufe 2 in gesetzlicher Höhe ab 14. 3. 2007.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens im Wesentlichen mit der Begründung, bei der Klägerin liege nur ein durchschnittlicher Pflegebedarf von 33 Stunden monatlich vor.

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin ab 1. 4. 2007 ein Pflegegeld der Stufe 1 in Höhe von 148,30 EUR monatlich zu bezahlen und wies das darüber hinausgehende Mehrbegehren ab. Es gelangte in rechtlicher Hinsicht zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin ein Pflegebedarf im Ausmaß von 53 Stunden monatlich bestehe.

In der Berufung bekämpfte die beklagte Partei unter anderem erstmals die Nichtanrechnung eines Betrags von 60 EUR monatlich an erhöhter Familienbeihilfe auf den zuerkannten Pflegegeldbetrag. Das Erstgericht habe es unterlassen, den Sachverhalt bezüglich des Bezugs der erhöhten Familienbeihilfe zu erheben und entsprechende Feststellungen zu treffen. Nach der der Berufung beigelegten Bescheinigung des Finanzamts bestehe bei der Klägerin nach wie vor ein Bezug der erhöhten Familienbeihilfe. Gemäß § 6 WPGG seien vom Erhöhungsbetrag der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder 60 EUR monatlich auf das Pflegegeld anzurechnen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei keine Folge. Zum Einwand der unterbliebenen Anrechnung der erhöhten Familienbeihilfe auf das Pflegegeld führte es aus, dass diese Anrechnung im - durch die vorliegende Klage außer Kraft getretenen (wenn auch abweislichen) - Bescheid nicht enthalten gewesen sei und eine solche Anrechnungsverpflichtung von der beklagten Partei - entgegen dem im Sozialrechtsverfahren ausnahmslos geltenden Neuerungsverbot - erstmals in der Berufung geltend gemacht worden sei. Da der Bezug einer erhöhten Familienbeihilfe durch die Klägerin somit in keiner Weise Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens gewesen sei, könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass dieser Umstand zwischen den Parteien unstrittig gewesen sei. Die Anrechnungsverpflichtung könne daher im Berufungsverfahren nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision mangels erheblicher Rechtsfragen im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass der Klägerin ab 1. 4. 2007 ein Pflegegeld der Stufe 1 in Höhe von 148,30 EUR monatlich unter Anrechnung von 60 EUR monatlich vom Erhöhungsbetrag der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder, somit ein solches von 88,30 EUR monatlich, zuerkannt werde. Hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei macht in ihren Rechtsmittelausführungen geltend, die in § 6 letzter Satz WPGG normierte Anrechnung von 60 EUR monatlich an erhöhter Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder sei zwingend vorgesehen. Diese Anrechnung nach § 6 WPGG beeinflusse weder die Einstufung des Betroffenen in eine bestimmte Pflegegeldstufe noch seinen Pflegebedarf, wohl aber die Höhe des auszuzahlenden Betrags. Die konkrete Höhe des auszuzahlenden Pflegegeldbetrags sei von Amts wegen durch das Gericht zu erheben und im Urteilsspruch auszuweisen. Die vom Erstgericht unterlassene Anrechnung hätte daher im Sinne der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs in vergleichbaren Fällen (10 ObS 329/01g = SSV-NF 15/130 und 10 ObS 331/99w = SSV-NF 13/141) das Berufungsgericht auch im Berufungsverfahren noch aufgreifen müssen. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stehe daher im Widerspruch zur zitierten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs.

Diesen Ausführungen ist Folgendes entgegenzuhalten:

Gemäß § 6 WPGG sind Geldleistungen, die einem Pflegebedürftigen nach anderen bundesrechtlichen, landesrechtlichen oder nach ausländischen Vorschriften gewährt werden, auf das Pflegegeld anzurechnen. Von der Erhöhung der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder ist ein Betrag von 60 EUR monatlich anzurechnen. Diese (zwingend vorgeschriebene) Anrechnung beeinflusst weder die Einstufung des Betroffenen in eine bestimmte Pflegegeldstufe noch seinen Pflegebedarf, wohl aber die Höhe des auszuzahlenden Betrags (vgl RIS-Justiz RS0111079).

Nach § 87 Abs 1 ASGG trifft das Gericht die Pflicht von Amts wegen alle entscheidungsrelevanten Tatsachen zu erheben; zu einer solchen amtswegigen Prüfung ist das Gericht nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats aber nur dann verpflichtet, wenn sich im Verfahren entsprechende Anhaltspunkte für einen Sachverhalt ergeben, der für die Entscheidung von Bedeutung sein kann. Nur dann, wenn sich aus dem Vorbringen der Parteien, aus Beweisergebnissen oder dem Inhalt des Akts Hinweise auf das Vorliegen bestimmter entscheidungswesentlicher Tatumstände ergeben, ist das Gericht verpflichtet, diese in seine Überprüfung einzubeziehen (RIS-Justiz RS0086455, RS0042477 [T6]). Diese Grundsätze betreffen das Verfahren erster Instanz, weil im Rechtsmittelverfahren in Sozialrechtssachen ausnahmslos das Neuerungsverbot des § 482 Abs 2 ZPO gilt (RIS-Justiz RS0042049).

Im Sinne dieser dargelegten Grundsätze hat der Oberste Gerichtshof in beiden von der Revisionswerberin zitierten Entscheidungen 10 ObS 331/99w (= SSV-NF 13/141) und 10 ObS 329/01g (= SSV-NF 15/130) im Rahmen der aus Anlass einer gesetzmäßig ausgeführten Rechtsrüge gebotenen allseitigen Überprüfung der angefochtenen Entscheidung darauf Bedacht genommen, dass in den jeweiligen - durch die erhobene Klage zur Gänze außer Kraft getretenen - Bescheiden diese Anrechnung des Erhöhungsbetrags der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder bereits enthalten war und hat sie, da diese Anrechnung zwischen den Parteien nicht strittig war, daher auch in den Urteilsspruch aufgenommen. Demgegenüber bestanden im gegenständlichen Fall im erstinstanzlichen Verfahren keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die im 24. Lebensjahr stehende Klägerin eine erhöhte Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs 4 FamLAG bezieht. Diese Frage wurde erstmals in der Berufung der beklagten Partei releviert. Da der Bezug einer erhöhten Familienbeihilfe durch die Klägerin somit in keiner Weise Gegenstand des Verfahrens erster Instanz war, kann entgegen der Rechtsansicht der Revisionswerberin auch nicht davon ausgegangen werden, dass dieser Umstand zwischen den Parteien unstrittig war (vgl 10 ObS 21/03s = SSV-NF 17/29). Das Berufungsgericht ist daher im Einklang mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs in vergleichbaren Fällen (vgl insbesondere 10 ObS 21/03s = SSV-NF 17/29 und 10 ObS 97/06x) davon ausgegangen, dass einer Berücksichtigung des von der beklagten Partei erstmals in ihrer Berufung zur Anrechnungsverpflichtung nach § 6 WPGG erstatteten Vorbringens und der von ihr dazu vorgelegten Bestätigung das auch im Rechtsmittelverfahren in Sozialrechtssachen geltende Neuerungsverbot entgegenstand. Da die Entscheidung des Berufungsgerichts somit im Einklang mit der zitierten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs steht, war die außerordentliche Revision der beklagten Partei mangels Geltendmachung einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

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