OGH 11Os87/09t

OGH11Os87/09t23.6.2009

Der Oberste Gerichtshof hat am 23. Juni 2009 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab und Mag. Lendl als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Hofmann als Schriftführerin in der Strafsache gegen Samir Z***** und einen anderen Angeklagten wegen des Verbrechens des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3 StGB und anderer strafbarer Handlungen, AZ 20 HR 16/09y des Landesgerichts für Strafsachen Graz, über die Grundrechtsbeschwerde des Samir Z***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz vom 1. April 2009, AZ 9 Bs 120/09d (ON 34 der HR-Akten), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Samir Z***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt. Gemäß § 8 GRBG wird dem Bund der Ersatz der Beschwerdekosten von 800 Euro zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer auferlegt.

Text

Gründe:

Die Staatsanwaltschaft Graz führt gegen Samir Z***** und Attila D***** ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Verbrechen des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3 StGB, der betrügerischen Krida nach § 156 Abs 1 StGB und des betrügerischen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen und Zuschlägen nach dem Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungsgesetz gemäß § 153d Abs 1, Abs 2 StGB. Mit Beschluss des Einzelrichters (im Ermittlungsverfahren) des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 7. März 2009, GZ 20 HR 16/09y-15, wurde (dem Antrag der Staatsanwaltschaft folgend - AB-Bogen S 3 verso) über Samir Z***** aus den Haftgründen der Flucht- und Verdunkelungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1, Z 2 StPO die Untersuchungshaft verhängt.

Mit dem im Grundrechtsbeschwerdeverfahren angefochtenen Beschluss gab das Oberlandesgericht Graz einer dagegen erhobenen Beschwerde (ON 23) des bereits über Antrag der Staatsanwaltschaft (AB-Bogen S 7 verso) am 10. März 2009 enthafteten (ON 25) Samir Z***** nicht Folge. Danach steht Samir Z***** im dringenden Verdacht, er habe

1. an unbekannten Orten im Zeitraum vom 30. Dezember 2006 bis 25. August 2007 als geschäftsführender Gesellschafter der L***** GmbH, über deren Vermögen mit Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 12. März 2008 das Konkursverfahren eröffnet wurde, im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit weiteren im Hintergrund agierenden, bislang unbekannten Tätern einer Vielzahl nunmehriger Konkursgläubiger mit dem Vorsatz, sich oder einen Dritten durch das Verhalten der Getäuschten unrechtmäßig zu bereichern, durch Täuschung über Tatsachen, nämlich die Verschleierung der tatsächlichen personellen und finanziellen Verhältnisse der L***** GmbH und durch Vortäuschung deren Zahlungswilligkeit, verschiedene Leistungen in einem 50.000 Euro weit überschreitenden Gesamtwert herausgelockt, wodurch die Gläubiger in diesem Betrag an ihrem Vermögen geschädigt wurden,

2. Beiträge von Dienstnehmern der L***** GmbH zur Sozialversicherung in einem 50.000 Euro übersteigenden Gesamtausmaß der Steiermärkischen und der Wiener Gebietskrankenkasse als berechtigten Sozialversicherungsträgern vorenthalten, wobei er schon die Anmeldung der Dienstnehmer zur Sozialversicherung mit dem Vorsatz vornahm, keine ausreichenden Beiträge zu leisten,

3. durch Beiseiteschaffen von Betriebsmitteln und Bargeld das Vermögen der L***** GmbH wirklich verringert und dadurch die Befriedigung ihrer Gläubiger vereitelt.

Zur Begründung des Tatverdachts verwies das Oberlandesgericht auf die Sachverhaltsdarstellung des Masseverwalters (ON 2) und auf einen Bericht des Landespolizeikommandos Steiermark vom 14. Jänner 2009 (ON 3). Die Höhe des zum Nachteil von Sozialversicherungsträgern entstandenen Schadens wurde mit „über 148.000 Euro" angenommen, jene der angemeldeten und anerkannten bzw bestrittenen Konkursforderungen nicht angeführt, jedoch unter Bezugnahme auf deren Höhe der dringende Tatverdacht in Richtung der Verbrechen des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3 StGB und der betrügerischen Krida nach § 156 Abs 1 StGB für gegeben erachtet. Wer konkret durch welches Handeln um welche Beträge durch den von 30. Dezember 2006 bis 25. August 2007 als handelsrechtlichen Geschäftsführer eingetragenen Samir Z***** bzw in seinem Auftrag oder unter seiner Mitwirkung geschädigt wurde und warum diese Schadensbeträge die Wertgrenze des § 147 Abs 3 StGB überschritten hätten, ist dem angefochtenen Beschluss nicht zu entnehmen.

Rechtliche Beurteilung

Die Grundrechtsbeschwerde (ON 37) kritisiert zutreffend das Fehlen relevanter Feststellungen sowie eine unzureichende Begründung getroffener Konstatierungen zum dringenden Tatverdacht. Der Oberste Gerichtshof hat wiederholt klargestellt, dass der Fortsetzungsbeschluss des Oberlandesgerichts die erstinstanzliche Entscheidung nicht bloß zu beurteilen, sondern zu ersetzen und solcherart eine neue - reformatorische - Entscheidung darzustellen hat (§ 174 Abs 4 zweiter Satz StPO; RIS-Justiz RS0116421, RS0120817). Nach § 174 Abs 3 Z 4 StPO (§ 174 Abs 4 zweiter Satz StPO) hat jede solche Entscheidung „die bestimmten Tatsachen, aus denen sich der dringende Tatverdacht" für das Oberlandesgericht ergibt, zu enthalten. Das bedeutet, dass mit Bestimmtheit anzugeben ist, welcher - in Hinsicht auf die mit hoher Wahrscheinlichkeit als begründet angesehenen strafbaren Handlungen (rechtlichen Kategorien; vgl § 260 Abs 1 Z 2 StPO) rechtlich entscheidend beurteilte - Sachverhalt angenommen wurde (Feststellungsebene) und klarzustellen ist, auf welchen ganz bestimmten Tatumständen (Beweisergebnissen, sogenannten erheblichen Tatsachen) diese Sachverhaltsannahmen über die entscheidenden Tatsachen beruhen (Begründungsebene; vgl 14 Os 59/06t ua, EvBl 2006/132, 690; RIS-Justiz RS0120817). Geschieht dies nicht, liegt eine Grundrechtsverletzung vor. Insoweit unterscheidet sich die Begründungspflicht für Haftbeschlüsse nicht von der für ein Strafurteil (vgl 13 Os 81/07x, EvBl 2007/137, 742 mwN; jüngst 14 Os 11/09p).

Der vom Oberlandesgericht alleine auf die Gesamthöhe der Konkursforderung und auf die Dauer der Funktionsperiode des Beschuldigten als Geschäftsführer gestützte dringende Tatverdacht des betrügerischen Herauslockens nicht näher spezifizierter Leistungen in einem 50.000 Euro weit überschreitenden Gesamtwert unter Vortäuschen der Zahlungswilligkeit der L***** GmbH bei gleichzeitiger Verschleierung der personellen und finanziellen Verhältnisse (BS 5) wird den dargestellten Kriterien in keiner Weise gerecht. Völlig unbegründet blieb weiters die oberlandesgerichtliche Annahme eines dringenden Verdachts tatbestandsmäßigen Handelns in Richtung betrügerischer Krida nach § 156 Abs 1 StGB durch Beseitigung von Betriebsmitteln und Bargeld aus dem Vermögen der L***** GmbH, wodurch deren Vermögen verringert und die Befriedigung ihrer Gläubiger vereitelt wurde.

Schließlich mangelt es an einer mängelfreien Begründung für die Annahme des dringenden Verdachts, der Beschwerdeführer hätte zum Nachteil der Steiermärkischen und der Wiener Gebietskrankenkasse als berechtigten Sozialversicherungsträgern 50.000 Euro übersteigende Beiträge von Dienstnehmern zur Sozialversicherung vorenthalten. Der bloße Hinweis auf den Gesamtschaden von über 148.000 Euro und die Beitragsschulden in Höhe von 96.155 Euro bei der Wiener Gebietskrankenkasse zum Stichtag 9. Jänner 2008 (BS 4, 5) reicht hiezu nicht aus, ist doch den Beilagen ./I und ./J zu ON 2 zu entnehmen, dass die Beitragsschulden der L***** GmbH bei der Wiener Gebietskrankenkasse im Gesamtausmaß von 96.155 Euro für den Zeitraum ab 1. September 2007 aufgelaufen sind, für den Samir Z***** infolge Ausscheidens als Geschäftsführer mutmaßlich nicht mehr verantwortlich gemacht werden kann. Dass nach der Verdachtslage nahezu sämtliche Beiträge von Dienstnehmern der L***** GmbH zum Nachteil der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse vor dem 25. August 2007 vorenthalten worden wären, ist dem Beschluss des Oberlandesgerichts nicht zu entnehmen. Die Annahmen, der Beschwerdeführer habe auch in diesem Zusammenhang einen 50.000 Euro übersteigenden Schaden zu verantworten und hätte bereits die Anmeldung von Dienstnehmern der L***** GmbH zur Sozialversicherung mit dem Vorsatz vorgenommen, keine ausreichenden Beiträge zu leisten, sind damit insgesamt ohne Begründung geblieben.

Der Beschwerdeführer wurde demgemäß durch den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Beschwerdegericht vom 1. April 2009, AZ 9 Bs 120/09d (ON 34 in den HR-Akten des Landesgerichts für Strafsachen Graz), im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt. Der Grundrechtsbeschwerde war daher - wie bereits die Generalprokuratur zutreffend ausführte - Folge zu geben, ohne dass eine Aufhebung des angefochtenen Beschlusses erforderlich wäre (§ 7 Abs 1 GRBG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 8 GRBG.

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