OGH 10ObS64/09y

OGH10ObS64/09y16.6.2009

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Helmut Hutterer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Gerda Höhrhan-Weiguni (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Robert M*****, vertreten durch Dr. Reinhard Tögl Rechtsanwaltgesellschaft mbH in Graz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18. Dezember 2008, GZ 8 Rs 86/08s-29, womit über Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 13. August 2008, GZ 34 Cgs 47/07a-25, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 2. 1. 2007 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Invaliditätspension ab 1. 10. 2006 ab.

Mit seiner gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt der Kläger die Zuerkennung der Invaliditätspension ab 1. 10. 2006. Er sei aufgrund seiner Leiden nicht mehr in der Lage einer geregelten Tätigkeit nachzugehen. Dass er ursprünglich arbeitsfähig gewesen sei, ergebe sich daraus, dass vom Arbeitsmarktservice Förderungsmaßnahmen gewährt worden seien. Der Kläger habe auch die Abschlussprüfung zum Nachrichtenelektroniker am 3. 10. 1998 bestanden.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Sie wandte ein, der Kläger sei bereits vor der erstmaligen Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung außer Stande gewesen, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen. Die Voraussetzungen des § 255 Abs 7 ASVG seien nicht gegeben.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte im Wesentlichen fest:

Der am 8. 6. 1975 geborene Kläger besuchte vier Klassen Volksschule, vier Klassen Gymnasium, war ein halbes Jahr in einem Bundesoberstufenrealgymnasium sowie einige Monate im Polytechnikum. Seit seinem 15. Lebensjahr konsumiert er Drogen.

Im Zeitraum vom Oktober 1990 bis November 1995 war er arbeitslos ohne Bezug oder es bestand keine Versicherungszeit.

Von Dezember 1995 bis April 1996 weist er fünf Monate der Pflichtversicherung im Rahmen des AMFG auf, wobei nicht feststellbar war, welche Leistungen der Kläger hiebei erbrachte.

Vom Mai 1996 bis Oktober 1996 hat er keine Versicherungszeiten erworben. Von November 1996 bis Juni 1998 weist er 20 Monate der Pflichtversicherung im Rahmen einer Umschulung nach dem AMFG auf. In dieser Zeit absolvierte er eine Ausbildung zum Nachrichtenelektroniker im Rahmen eines Projekts des Arbeitsmarktservices. Es handelte sich dabei in erster Linie um einen Schulbetrieb. Den praktischen Teil der Ausbildung absolvierte er in der schuleigenen Werkstätte. Er legte am 30. 10. 1998 die Lehrabschlussprüfung im Lehrberuf des Nachrichtenelektronikers ab. Die reguläre Lehrzeit zum Nachrichtenelektroniker in einem „herkömmlichen Lehrverhältnis" betrug damals ca 3 ½ Jahre. Der Kläger legte eine theoretische, eine schriftliche und eine praktische Prüfung ab. Seiner Ausbildung zum Nachrichtenelektroniker fehlte der direkte Einsatz im Betrieb, wie dies bei herkömmlichen Lehrverhältnissen der Fall ist. Er arbeitete nie als Nachrichtenelektroniker und versuchte auch nicht, in diesem Beruf eine Arbeitsstelle zu finden.

Von Juli 1998 bis November 1998 bezog der Kläger Arbeitslosengeld, weil er beim praktischen Teil der Lehrabschlussprüfung einmal nicht bestanden hatte und die Prüfung im Herbst 1998 nachholen musste.

Von Dezember 1998 bis Oktober 2000 bezog der Kläger Notstandshilfe. Im Rahmen einer Umschulung nach dem AMFG absolvierte er von Oktober 2000 bis 9. 3. 2001 in einem städtischen Kindergarten eine Art Praktikum, das immer nur für eine gewisse Zeit angelegt war. Er hatte eine Arbeitszeit von 8 Uhr bis 14 Uhr einzuhalten. Er erledigte hauswirtschaftliche Tätigkeiten wie beispielsweise die Mithilfe in der Küche (unter anderem Abwaschen und verschiedene Reinigungsarbeiten). Er half unter Aufsicht und Anleitung der Kindergartenpädagoginnen bei der Kinderbetreuung mit (beispielsweise beim Anziehen der Kinder). Er arbeitete fleißig, erledigte die ihm übertragenen Arbeiten ordentlich und gut und verhielt sich den Kolleginnen gegenüber hilfsbereit und kollegial. In jeder Kindergartengruppe sind eine Kindergartenpädagogin und eine Kindergartenhelferin beschäftigt. Der Kläger war zusätzlich tätig. Er hatte deshalb auch nicht die volle Belastung einer Kindergartenbetreuerin zu tragen. Ihm gefiel seine Tätigkeit im Kindergarten gut. Er konsumierte in dieser Zeit regelmäßig starke Drogen.

Von Mai 2001 bis September 2002 bezog der Kläger Notstandshilfe, im Oktober 2002 Krankengeld, von November 2002 bis Februar 2003 wiederum Notstandshilfe. Im März 2003 bestand keine Versicherungszeit.

Am 25. 6. 2002 wurde in einem vom Arbeitsmarktservice Graz erstellten Gutachten ausgeführt, dass beim Kläger Arbeitsfähigkeit mit begleitenden Maßnahmen (Aufsuchen der Drogenberatungsstelle einmal wöchentlich) bestehe. Arbeiten mit besonderen psychischen Belastungen/Stress seien aber auf Dauer zu vermeiden. Der Kläger erhielt vom Arbeitsmarktservice eine Zuweisung und stellte sich in einem Supermarkt vor.

Von April 2003 bis August 2003 bezog er Notstandshilfe, im September 2003 Krankengeld, von Oktober 2003 bis Dezember 2003 Notstandshilfe, im Jänner 2004 Krankengeld, von Februar 2004 bis September 2004 Notstandshilfe, im Oktober 2004 Krankengeld, von November 2004 bis Dezember 2004 Notstandshilfe und von Jänner 2005 bis Oktober 2005 wiederum Notstandshilfe (Beitragszeit).

Der Kläger war vom 15. bis zum 20. Lebensjahr alkoholabhängig. Seit dem 21. Lebensjahr besteht eine Opiatabhängigkeit mit intravenösem Drogenkonsum. In der Folge kam es zu einer Hepatitis B und C Infektion. Seit 1996 ist er mit Unterbrechungen im Substitutionsprogramm.

Schon vor Beginn der Lehrausbildung zum Nachrichtenelektroniker bestanden beim Kläger massive Anpassungs- und Persönlichkeitsstörungssymptome. Dementsprechend leistete er auch keine geschlossene und ersprießliche Tätigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt. Es war ihm nie möglich, eine Tätigkeit in kontinuierlichem Ausmaß über einen längeren Zeitraum bzw überhaupt ersprießliche Tätigkeiten zu leisten. Die Abhängigkeitserkrankung und die Störungen des Persönlichkeitsprofils bestanden bereits vor Beginn der Ausbildung zum Nachrichtenelektroniker. Bis 1. 10. 2006 (Eintritt der absoluten Erwerbsunfähigkeit) durch Verstärkung der Folgeerscheinungen der Abhängigkeitserkrankung in Kombination mit der Persönlichkeitsstörung war der Kläger in der Lage, einfache Tätigkeiten, zum Beispiel Reinigungsarbeiten, zeitweise und tageweise zu verrichten; dies jedoch nicht kontinuierlich und ersprießlich. Dem Kläger war es auch nicht möglich, alleine und selbständig die Tätigkeit eines Kindergartenhelfers auszuüben, weil er situativ überfordert gewesen wäre. Er hätte im Kindergarten die von ihm ausgeführten Tätigkeiten ohne Hilfe und ohne Anleitung des Fachpersonals nicht bewältigen können. Die Tätigkeiten, die er im Kindergarten verrichtete, sind nicht mit „herkömmlichen Bedingungen" zu vergleichen, weil er als zusätzliche Hilfe tätig war.

Rechtlich vertrat das Erstgericht den Standpunkt, dem Kläger sei der Beweis nicht gelungen, dass zum Zeitpunkt seines Eintritts in das Erwerbsleben seine Arbeitsfähigkeit zumindest die Hälfte der eines gesunden Versicherten erreicht habe und danach infolge Verschlechterung des Zustands auf weniger als die Hälfte abgesunken sei.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichts. Der Kläger erfülle unstreitig die Voraussetzungen des § 255 Abs 7 ASVG nicht. Die von ihm erworbenen Beitragsmonate der Pflichtversicherung resultierten nicht aus einem Beschäftigungsverhältnis. Weder die Hilfstätigkeiten im Kindergarten noch die im Wesentlichen im Rahmen eines Schulbetriebs erworbene Ausbildung zum Nachrichtenelektroniker noch eine Berufsorientierung bzw das Verfassen von Bewerbungsschreiben im Rahmen einer Arbeitsstiftung entsprächen einem regulärem Beschäftigungsverhältnis am allgemeinen Arbeitsmarkt. Der Kläger sei daher nie in das Erwerbsleben eingetreten. Er habe durch seine Tätigkeiten im Kindergarten und durch die Ausbildung zum Nachrichtenelektroniker tatsächlich nie eine auf Erzielung von Einkommen zur Deckung des Lebensbedarfs gerichtete Erwerbstätigkeit ausgeübt. Es habe sich vielmehr um eine vom Arbeitsmarktservice finanzierte Vorbereitung auf den Eintritt in das Erwerbsleben gehandelt. Die Wertigkeit der Tätigkeit des Klägers habe auch keinesfalls der Hälfte jener eines gesunden Versicherten in einem regulärem Beschäftigungsverhältnis entsprochen. Im Übrigen ergebe sich aus dem festgestellten Sachverhalt, dass die Arbeitsfähigkeit des Klägers zu keinem Zeitpunkt zumindest die Hälfte der eines gesunden Versicherten erreicht habe.

Das Berufungsgericht sprach aus, die ordentliche Revision sei zulässig, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage fehle, ob es zum Eintritt in das Erwerbsleben komme, wenn ausschließlich Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Umschulung nach dem Arbeitsmarktförderungsgesetz erworben worden seien.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts erhobene Revision des Klägers ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts (§ 508a Abs 1 ZPO) nicht zulässig. Die Entscheidung hängt nicht von der Lösung der vom Berufungsgericht bezeichneten Rechtsfrage ab. Die Revision zeigt keine im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO erhebliche Rechtsfrage auf.

1. Die Ausführungen „zum Revisionsgrund sekundäre Feststellungsmängel" und „zum Revisionsgrund der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung" bekämpfen unzulässigerweise die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanzen. Die Aufzählung der Revisionsgründe in § 503 ZPO ist abschließend. Daher sind unrichtige Beweiswürdigung und unrichtige Tatsachenfeststellungen keine Revisionsgründe (RIS-Justiz RS0042903). Das Erstgericht traf eine negative Feststellung zu den vom Kläger während der fünf Monate „der Pflichtversicherung im Rahmen des AMFG" (Dezember 1995 bis April 1996) erbrachten Leistungen. Ein Feststellungsmangel aufgrund unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache liegt daher nicht vor.

2. Nach ständiger und vom Revisionswerber auch nicht bekämpfter Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs hat der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit allgemein zur Voraussetzung, dass eine zuvor bestandene Arbeitsfähigkeit, die zumindest die Hälfte der eines körperlich und geistig gesunden Versicherten erreicht haben musste, durch nachfolgende Entwicklungen beeinträchtigt wurde. Es ist der körperliche und geistige Zustand des Versicherten bei Eintritt in das Erwerbsleben jenem bei der Antragstellung gegenüber zu stellen (RIS-Justiz RS0084829). Die Arbeitsfähigkeit des Versicherten muss bei Eintritt in das Versicherungsverhältnis nur - wenn auch geringfügig - über der Hälfte derjenigen einer körperlich und geistig gesunden Vergleichsperson gelegen und dann unter diese Grenze herabgesunken sein (10 ObS 282/02x = SSV-NF 16/102 = RIS-Justiz RS0084829 [T20]; 10 ObS 75/05k = SSV-NF 19/64 = RIS-Justiz RS0084829 [T23]). Wie der Oberste Gerichtshof ferner ausgesprochen hat, ist als maßgebender Zeitpunkt des Eintritts in das Erwerbsleben der Zeitpunkt des erstmaligen Eintritts in die Pflichtversicherung anzusehen (10 ObS 59/05g = SSV-NF 19/49 = RIS-Justiz RS0084829 [T22]).

Als frühester Zeitpunkt des Eintritts des Klägers in das Erwerbsleben käme der Beginn der „Pflichtversicherung im Rahmen des AMFG" vom Dezember 1995 bis April 1996 in Betracht. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen war der Kläger weder zu diesem Zeitpunkt noch später in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter den üblichen Bedingungen einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, das heißt eine am Arbeitsmarkt bewertete Tätigkeit auszuüben. Er war nie zur Ausübung einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit in der Lage, sodass bei ihm auch nie Arbeitsfähigkeit, die zumindest die Hälfte der eines körperlich und geistig gesunden Versicherten erreichte, bestanden hat. Soweit der Kläger in seinen Revisionsausführungen demgegenüber das Vorliegen seiner Arbeitsfähigkeit bei Eintritt das Erwerbsleben behauptet, geht er nicht von den Feststellungen der Tatsacheninstanzen aus. Entgegen seinen Ausführungen lässt auch der Umstand, dass er

- behauptetermaßen im Rahmen des AMFG von Dezember 1995 bis April 1996 in einer Jugendarbeitsstiftung an einer - die Pflichtversicherung begründenden - Schulung (Verfassen von Bewerbungsschreiben; Berufsorientierung) teilnahm;

- unter besonderen Verhältnissen die Lehre zum Nachrichtenelektroniker absolvierte und

- unter günstigen Bedingungen als Kindergartenhelfer tätig war,

noch nicht den Schluss zu, er sei damals zu einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinem Arbeitsmarkt unter den üblichen Bedingungen befähigt gewesen und wäre nunmehr durch eine Verschlechterung seines Gesundheitszustands der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit bei ihm eingetreten. Dass der bloße Erwerb von Versicherungszeiten noch nicht zwingend das Vorliegen einer Arbeitsfähigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts zur Voraussetzung hat, ergibt sich auch daraus, dass eine Tätigkeit von Anfang an auf Kosten der Gesundheit des Versicherten oder nur mit besonderem Entgegenkommen des Dienstgebers verrichtet werden kann (10 ObS 114/01i = RIS-Justiz RS0084829 [T15]). Ob der Kläger arbeitsfähig im Sinne von Vorschriften der Arbeitslosenversicherung war, hat für den Anlassfall keine Bedeutung.

3. Scheitert der geltend gemachte Pensionsanspruch schon aus dem zuvor genannten Grund, muss auf die vom Berufungsgericht für erheblich erachtete Frage nicht eingegangen werden.

4. Die Zurückweisung einer ordentlichen Revision kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 ZPO).

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 75 Abs 2 lit b ASGG.

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