Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden in ihrem Ausspruch über die Zulässigkeit der Verabreichung bestimmter Medikamente aufgehoben. Dem Erstgericht wird insoweit eine neuerliche Beschlussfassung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Text
Begründung
Bei der Bewohnerin besteht das Bild einer vaskulären Demenz mit immer wieder auftretenden schweren Verhaltensstörungen, Unruhezuständen, Schreiattacken, entgleisender Affektlage und gesteigertem Antrieb. Bei einem Aufenthalt im Rollstuhl besteht aufgrund einer halbseitigen Lähmung ein „mittleres Sturzrisiko".
Die Bewohnervertreterin beantragte unter anderem, bestimmte (elektronische und mechanische) freiheitsbeschränkende Maßnahmen für unzulässig zu erklären. Aus dem Antragsvorbringen ergibt sich, dass darüber hinaus auch eine „Überprüfung" begehrt wurde, ob bestimmte „Einmalmedikationen" (am 25., 27., 29. und 30. 9. sowie am 4. 10. 2008) freiheitsbeschränkende Maßnahmen darstellten und ob nicht gelindere Mittel ausgereicht hätten. Die Bewohnervertreterin sei am 19. 9. 2008 von der Einrichtungsleitung über mechanische Freiheitsbeschränkungen ab 16. 9. 2008 informiert worden. Bei ihrer Einsichtnahme in die Pflegedokumentation am 1. 10. 2008 habe sie Kenntnis von der Verabreichung der Medikamente erlangt. Das Erstgericht erklärte die Verabreichung der Medikamente für zulässig. Es stellte fest, in welcher Dosierung die jeweiligen Präparate an den von der Bewohnervertreterin angegebenen Tagen verabreicht wurden, und führte aus, dass die Präparate in der verabreichten Dosis „aus medizinischer Sicht angemessen" gewesen seien. Aufgrund der gutachterlichen Ausführungen der medizinischen Sachverständigen könne in der Verabreichung der Präparate eine unzulässige Freiheitsbeschränkung nicht erblickt werden. Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und erklärte den Revisionsrekurs für nicht zulässig. Entgegen der Auffassung der Rekurswerberin sei dem Erstgericht nicht vorzuwerfen, dass die erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung der Medikation nicht möglich gewesen wäre. Dem (vollen Beweis über den Verlauf und den Inhalt der Verhandlung machenden) Protokoll sei zu entnehmen, dass das Sachverständigengutachten vorgetragen, erörtert und ergänzt wurde und dass die Bewohnervertreterin auch Gelegenheit gehabt habe, durch Fragestellungen die erzielten Gutachtensergebnisse aufzuklären. Auch wenn das Erstgericht in seiner Entscheidungsbegründung nur das Resümee der Begutachtung wiedergegeben habe, sei die angefochtene Entscheidung insoweit durchaus nachvollziehbar; das Erstgericht sei erkennbar den Ergebnissen des Sachverständigengutachtens (insgesamt) gefolgt. Unberechtigt sei auch der Vorwurf, das Erstgericht habe von der Sachverständigen zu Unrecht keine Aufklärung darüber verlangt, ob die medikamentöse Therapie gleichzeitig auch eine freiheitsbeschränkende Maßnahme darstelle. Dem Bewohnervertreter wäre die Möglichkeit offen gestanden, durch entsprechende Fragestellungen in der Tagsatzung die nunmehr im Rechtsmittel angestrebten Ergänzungen der Begutachtung herbeizuführen. Inhaltlich ergebe sich aus dem Gutachten, dass - bezogen auf den maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt erster Instanz - die festgestellte Dosierung der Neuroleptika eine (medizinisch indizierte) freiheitsbeschränkende Maßnahme dargestellt habe. Richtig sei zwar, dass die Unterlassung der Verständigung der Bewohnervertreterin über bestimmte freiheitsbeschränkende Maßnahmen im Sinn des § 7 Abs 2 HeimAufG kein bloßer Verstoß gegen eine Ordnungsvorschrift sei, sondern die Unzulässigkeit der Maßnahme bewirke, wobei die Unzulässigkeit (nur) bis zu jenem Zeitpunkt dauere, in welchem die Bewohnervertreterin tatsächlich Kenntnis von der angegebenen Freiheitsbeschränkung erlangt habe. Bereits nach dem Antragsvorbringen sei die Bewohnervertretung schon am 19. 9. 2008 durch die Einrichtungsleitung über die Vornahme einer Freiheitsbeschränkung an der Bewohnerin verständigt worden. Der Bewohnervertretung wäre bei entsprechender Einsichtnahme in die Dokumentationsunterlagen auch die Medikation „zur Kenntnis gebracht" worden. Im Übrigen sei die relevierte Medikation in die psychiatrische und neurologische Begutachtung einbezogen worden. Ein Verstoß gegen § 7 Abs 2 HeimAufG, der auf jeden Fall die Unzulässigkeit der relevierten Maßnahmen bewirkte, könne nicht erblickt werden. Nach den vom Erstgericht verwerteten Gutachtensergebnissen sei die fragliche Verabreichung von Medikamenten an die Bewohnerin als medizinisch indizierte Freiheitsbeschränkung im Sinn des § 3 HeimAufG zu werten. Das Erstgericht sei in der Begründung inhaltlich davon ausgegangen, dass die bei der Bewohnerin bestehende vaskuläre Demenz mit immer wieder auftretenden schweren Verhaltensstörungen, Unruhezuständen, Schreiattacken, Entgleisen der Affektlage und gesteigertem Antrieb nur durch die bezeichneten Medikamente gelindert und behandelt werden könne und dass diese Medikation unerlässlich und auch geeignet sei. Der im Rahmen der Rechtsrüge geforderten weitergehenden Feststellung zur Eignung, Dauer und Intensität der Verabreichung der angesprochenen Medikamente bedürfe es nicht. Soweit die Bewohnervertreterin weiters die Fragen aufwerfe, wie die Neuroleptika im Hinblick auf Verhältnismäßigkeit und Eignung konkret kombiniert würden und inwieweit die Gangunsicherheit der Bewohnerin durch gewisse Medikamente erheblich verstärkt werde, sei darauf zu verweisen, dass die verabreichte Medikation in ihrer Gesamtheit in die Begutachtung durch die Sachverständige einbezogen worden sei und die Bewohnervertretung im erstinstanzlichen Verfahren ausreichend Gelegenheit gehabt hätte, die nunmehr erstmals in der Rechtsrüge aufgeworfenen Fragestellungen zu diskutieren. Nach den Ergebnissen der dem angefochtenen Beschluss zugrundegelegten Sachverständigengutachten entsprächen aber sowohl die Dosierung als auch die Kombination der Medikamente dem medizinischen Standard und sie seien auch ihrer Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt worden. Der ordentliche Revisionsrekurs sei nicht zulässig, weil Aspekte einer Einzelfallentscheidung im Vordergrund stünden und erhebliche Rechtsfragen nicht vorlägen.
Rechtliche Beurteilung
Der dagegen erhobene - einseitige (RIS-Justiz RS0121226) - Revisionsrekurs der Bewohnervertreterin ist zulässig und mit seinem Aufhebungsantrag auch berechtigt.
Die Vorinstanzen sind übereinstimmend davon ausgegangen, dass die von der Bewohnervertreterin in Frage gestellte Medikation jeweils eine (zulässige) freiheitsbeschränkende Maßnahme im Sinn des § 3 HeimAufG dargestellt habe. Zutreffend weist die Revisionsrekurswerberin darauf hin, dass die von den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen nicht ausreichen, um diese Frage eindeutig zu beantworten. Nach der einschlägigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (2 Ob 77/08z) ist etwa eine Feststellung, der Einsatz der kombiniert verabreichten Medikamente sei „therapeutisch indiziert", nicht ausreichend. Vielmehr bedarf es einer Aussage darüber, welchen therapeutischen Zweck die Anwendung jedes einzelnen der zu überprüfenden Medikamente verfolgt, ob die Medikamente dieser Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt wurden und welche konkrete Wirkung für den Bewohner mit dem Einsatz der Medikamente verbunden war. Eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel ist nur zu bejahen, wenn die Behandlung unmittelbar die Unterbindung des Bewegungsdrangs bezweckt, nicht jedoch bei unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen, welche sich bei der Verfolgung anderer therapeutischer Ziele ergeben können (RIS-Justiz RS0121227). Die Vorinstanzen haben jedoch weder Feststellungen über die durch die Medikation angestrebten therapeutischen Ziele, noch zu den dadurch ausgelösten Konsequenzen für die Bewohnerin getroffen. Dies wird im fortgesetzten Verfahren nachzuholen sein.
Soweit sich ergeben sollte, dass die Medikation als freiheitsbeschränkende Maßnahme (Unterbinden einer Ortsveränderung) im Sinn des § 3 HeimAufG zu qualifizieren ist, wird sich das Erstgericht weiters mit der Behauptung der Bewohnervertreterin auseinanderzusetzen haben, sie sei von der Verabreichung der Medikamente an die Bewohnerin nicht verständigt worden und habe erst am 1. 10. 2008 durch Einsicht in die Pflegedokumentation davon erfahren.
Zutreffend hat bereits das Rekursgericht auf die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (RIS-Justiz RS0121228) hingewiesen, wonach die Unterlassung der Verständigung des Bewohnervertreters gemäß § 7 Abs 2 HeimAufG kein bloßer Verstoß gegen eine Ordnungsvorschrift ist, sondern - grundsätzlich - die Unzulässigkeit der Maßnahme bewirkt. Diese Unzulässigkeit dauert bis zu jenem Zeitpunkt an, in welchem der Bewohnervertreter tatsächlich Kenntnis von der angegebenen Freiheitsbeschränkung erlangt hat. Entgegen der Auffassung des Rekursgerichts ist die bloße Möglichkeit der Kenntnisnahme im Zusammenhang mit der Verständigung über andere Freiheitsbeschränkungen nicht ausreichend und kann daher auch eine ausdrückliche Verständigung nicht ersetzen. Die Konsequenzen einer Verständigung treten in einem solchen Fall erst mit der tatsächlichen Kenntnis des Bewohnervertreters von der (weiteren) freiheitsbeschränkenden Maßnahme ein. Aus dem derzeitigen Verfahrensstand ergibt sich kein Hinweis darauf, dass die Bewohnervertreterin vor dem 1. 10. 2008 Kenntnis von der Verabreichung von Medikamenten in der Zeit vom 25. bis 30. 9. 2008 gehabt hätte (Die Medikamentengabe vom 4. 10. 2008 kann am 1. 10. 2008 in der schriftlichen Pflegedokumentation jedenfalls noch nicht enthalten gewesen sein.).
Der genannte Grundsatz, nach dem das Unterlassen einer gesetzmäßigen Verständigung des Bewohnervertreters schon für sich die Unzulässigkeit der freiheitsbeschränkenden Maßnahme bewirkt, ist allerdings insoweit einzuschränken, als dies für solche (kurzfristigen) Maßnahmen - die Bewohnervertreterin spricht in ihrem Antrag von „Einmalmedikationen" - dann nicht gelten kann, wenn deren Folgen für den betreffenden Bewohner auch im Falle einer unverzüglichen Verständigung des Bewohnervertreters gemäß § 7 Abs 2 HeimAufG nicht mehr beeinflusst werden könnten. Zweck der unverzüglichen Verständigung des Bewohnervertreters ist ja vor allem, diesem die Möglichkeit zu geben, die Notwendigkeit der Maßnahme umgehend zu überprüfen und gegebenenfalls auf deren Beendigung oder Modifizierung hinzuwirken (vgl etwa Barth/Engel, Heimrecht, Anm 10 zu § 7 HeimAufG). Soweit also eine unverzügliche Verständigung zwar unterblieben ist, eine solche aber auch nicht geeignet gewesen wäre, dem Bewohnervertreter eine Einflussnahme auf die durch die Maßnahme herbeigeführten Folgen zu ermöglichen, führt die bloße Tatsache der unterlassenen Verständigung nicht per se zu einer Unzulässigkeit der Maßnahme. In einem solchen Fall ist die Maßnahme nur dann für unzulässig zu erklären, wenn sie inhaltlich ungerechtfertigt, also etwa zum Schutz des Bewohners nicht erforderlich oder unverhältnismäßig war.
Das Erstgericht wird daher das Verfahren im aufgezeigten Sinn zu ergänzen und neuerlich zu entscheiden haben.
Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass im Verfahren, in dem über die Zulässigkeit freiheitsbeschränkender Maßnahmen im Sinn des § 3 HeimAufG zu entscheiden ist, der Untersuchungsgrundsatz herrscht, sodass - entgegen der Auffassung des Rekursgerichts - der Rekurswerberin nicht entgegen gehalten werden kann, sie könne dem Erstgericht eine unvollständige Sachverhaltsermittlung schon deshalb nicht vorwerfen, weil sie im Verfahren erster Instanz die Möglichkeit gehabt hätte, durch entsprechende Anträge und Fragen auf eine Vervollständigung hinzuwirken. Dies gilt auch, wenn die Maßnahme bereits beendet ist und nur die nachträgliche Feststellung der Unzulässigkeit begehrt wird (RIS-Justiz RS0121228).
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