OGH 7Ob53/08g

OGH7Ob53/08g9.7.2008

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Kalivoda und Dr. Roch als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei B*****gesellschaft mbH, *****, vertreten durch Fritsch, Kollmann & Partner, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei H*****-Gesellschaft mbH, *****, vertreten durch Dr. Helmut Klement und Dr. Annemarie Stipanitz-Schreiner, Rechtsanwälte in Graz, wegen 141.220 EUR sA, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 8. Jänner 2008, GZ 5 R 222/07t-23, womit das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 27. September 2007, GZ 42 Cg 63/06w-19, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidung des Berufungsgerichts wird aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an dieses zurückverwiesen.

Die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die Klägerin begehrt den aushaftenden Saldo aus einem Bauvorhaben. Ihre Forderung sei nicht durch Kompensation erloschen. Zwischen ihr und der P***** GmbH habe nie eine direkte Vertragsbeziehung bestanden. Die Klägerin habe nicht gegen die Vereinbarung vom 18. 4. 2005 verstoßen. Sie sei nach unbegründetem Rücktritt der S***** GmbH nicht mehr zur Zahlung an die P***** GmbH verpflichtet. Sie habe ihrerseits die Aufrechnung hinsichtlich Forderungen gegen die S***** GmbH erklärt. Weiters seien die Leistungen der P***** GmbH mangelhaft gewesen, die Klägerin habe einen Aufwand von 102.044,57 EUR tragen müssen, der ebenfalls compensando eingewandt werde.

Die Beklagte bestreitet das Bestehen der Forderung nur mit der Begründung, dass diese bereits durch Aufrechnung mit einer an sie von der P***** GmbH abgetretenen Forderung erloschen sei. Die Klägerin habe als Bauträgerin von der S***** GmbH Reihenhäuser errichten lassen. Die P***** GmbH sei von der S***** GmbH zur Durchführung von Bauarbeiten beauftragt worden. Wegen Zahlungsschwierigkeiten der S***** GmbH habe die P***** GmbH (Zahlungs-)Garantien eingefordert, andernfalls sie ihre Bauarbeiten einstellen würde. Die Klägerin habe im Fall der Einstellung der Bauleistungen mit großen finanziellen Nachteilen rechnen müssen. Um eine Fortsetzung der Leistungserbringung durch die P***** GmbH zu erreichen, habe sich die Klägerin mit der S***** GmbH am 18. 4. 2005 dahingehend geeinigt, dass nach Leistungsfortschritt der Baumeisterarbeiten der P***** GmbH und nach Rechnungslegung durch die S***** GmbH die Zahlungen direkt an die P***** GmbH zu leisten seien. Die Klägerin habe damit eine im Verhältnis zum Werkvertrag vorgezogene Zahlung zugesagt und sich dafür auch einen zusätzlichen Skontoabzug von 1 % ausbedungen. Die Vereinbarung habe der Absicherung des Werklohns der P***** GmbH gedient und sei Grundlage und Bedingung für die Weiterarbeit gewesen. In diesem Sinn habe die Klägerin Zahlungen an die P***** GmbH geleistet. Erst als die P***** GmbH ihre Baumeisterarbeiten beinahe fertiggestellt habe, habe ihr die Klägerin mitgeteilt, dass die S***** GmbH mit Schreiben vom 6. 9. 2005 unberechtigt zurückgetreten sei und daher keine Zahlungsverpflichtungen aus der Vereinbarung vom 18. 4. 2005 bestünden. Die Vereinbarung vom 18. 4. 2005 sei als Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter zu qualifizieren, nämlich zum Schutz der P***** GmbH. Die Klägerin habe kein Recht, mit eigenen Forderungen gegen die S***** GmbH aufzurechnen. Solche hätten zum Zeitpunkt Oktober 2005 auch nicht bestanden.

Das Erstgericht vernahm den von der Klägerin namhaft gemachten Zeugen Josef H***** (zweiter Geschäftsführer der S***** GmbH) nicht. Es wies vor Schluss der Verhandlung „sämtliche unerledigt gebliebene Beweisanträge wegen geklärter Sachlage" ab und gab dem Klagebegehren statt. Es führte (erst) im Urteil zur Beweiswürdigung aus, dass von der Einvernahme Josef H*****s abzusehen sei, weil der von der Beklagten behauptete Sachverhalt schon aufgrund der bisherigen Beweisergebnisse festzustellen sei.

Das Berufungsgericht bestätigte das angefochtene Urteil. Es prüfte die geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Verfahrens, die darin liege, dass das Erstgericht die Einvernahme des Zeugen Josef H***** unterlassen habe, deshalb nicht, weil die Beklagte vor Schluss der Verhandlung das Unterlassen der Einvernahme nicht als Verfahrensfehler im Sinn des § 196 Abs 1 ZPO gerügt habe. Die Rügepflicht solle die Parteien veranlassen, den Richter auf (erkennbare und verzichtbare) Verfahrensmängel aufmerksam zu machen; andernfalls sei ihnen die spätere Geltendmachung zu verwehren. Die Parteien sollten nicht sehenden Auges behebbare Verfahrensfehler des Gerichts unaufgezeigt lassen können, um sie dann kosten- und zeitaufwändig im Rechtsmittelverfahren geltend zu machen. § 462 Abs 2 ZPO ziehe daraus die Konsequenz, indem er Mängel, deren rechtzeitige Rüge unterlassen worden sei, von der Beurteilung durch das Berufungsgericht ausschließe. § 196 Abs 1 ZPO betreffe nicht nur die Verletzung von die Form einer Prozesshandlung regelnden Vorschriften, sondern ganz allgemein die Verletzung einer das Verfahren regelnden Vorschrift, also der Prozessgesetze. Lediglich § 196 Abs 2 ZPO schränke seine Anwendbarkeit naturgemäß auf die Verletzung von Vorschriften ein, auf deren Befolgung eine Partei wirksam verzichten könne. Es entspreche auch der (ausdrücklich eingeführten) Prozessförderungspflicht der Parteien, ihnen bekannte Verfahrensverstöße oder solche, die ihnen bekannt sein müssten, also erkennbare Verletzungen der Prozessgesetze, umgehend ohne Aufschub aufzuzeigen, um primär ihre (sofortige) Sanierung (nach allfälliger Erörterung) zu erreichen und erst sekundär auch die (tunlichst zu vermeidende) Möglichkeit der Geltendmachung in einem allfälligen Rechtsmittel sicherzustellen. Da es primär im Interesse der Parteien liege, den Prozess effizient zu führen und unnötige Verzögerungen zu vermeiden, erscheine es nur konsequent und zu ihrem Vorteil, von ihnen das Aufzeigen (drohender) Verfahrensmängel zu verlangen, sobald ihnen solche bekannt oder erkennbar gewesen seien. Auch für die sogenannten materiellen Mängel habe daher zu gelten, dass die Parteien nicht sehenden Auges behebbare Verfahrensfehler des Gerichts unaufgezeigt lassen könnten, um sie dann kosten- und zeitaufwändig im Rechtsmittelverfahren zu relevieren. Der Beschluss auf Abweisung der unerledigt gebliebenen Sach- und Beweisanträge sei unter § 275 ZPO zu subsumieren. Das Erstgericht habe somit eine Vernehmung des genannten Zeugen für unerheblich gehalten. Damit sei der Beklagten bekannt geworden, dass das Erstgericht ein Urteil fällen werde, ohne diesen Zeugen einzuvernehmen. Dennoch habe sie ohne Rüge dieser Vorgangsweise die Kostennote gelegt und damit die Zurückweisung des Beweisanbots widerspruchslos hingenommen. Es komme auch § 196 Abs 2 ZPO nicht zum Tragen, weil die Beklagte selbstverständlich auf die Einvernahme des Zeugen wirksam verzichten habe können. Die erst in der Berufung nachgeholte Rüge der unterlassenen Einvernahme des Zeugen sei sohin verspätet und die Geltendmachung des Verfahrensmangels verfristet. Auf die Frage, ob das Erstgericht von der Einvernahme des Zeugen berechtigt Abstand genommen habe, sei vom Berufungsgericht gemäß § 462 Abs 2 ZPO nicht mehr einzugehen.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei, weil keine erhebliche Rechtsfrage zur Entscheidung vorliege.

Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten mit einem Abänderungsantrag.

Die Klägerin beantragt in der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und im Sinn des in jedem Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Ein Teil der Lehre vertritt die Ansicht, dass § 196 ZPO mit § 496 Abs 1 Z 2 ZPO kollidiere und daher § 196 ZPO als obsolet betrachtet werden müsse (etwa Rechberger/Simotta, Zivilprozeßrecht6, Erkenntnisverfahren, Rz 573; Ballon, Einführung in das österr. Zivilprozessrecht11, streitiges Verfahren, Rz 211).

Burgstaller nimmt dagegen in BeitrZPR I 59 ff eine weitgehende Rügelast an. Er lässt sie für alle wesentlichen Verfahrensmängel gelten.

Fucik in Rechberger², § 196 ZPO, Rz 2 legt die Lehrmeinungen dar, meint aber zur Judikatur, die primäre Stoffsammlungsmängel nicht einer Rügepflicht nach § 196 ZPO unterwerfen will, dass Stoffsammlungsmängel, die der Rechtsrüge zuzurechnen seien und solche, die ihrer Natur nach gar nicht gerügt werden könnten (wie etwa ein Verstoß gegen die richterliche Anleitungspflicht) jedenfalls nicht § 196 ZPO unterlägen. Im Übrigen bleibe der Begriff Stoffsammlungsmangel allzu diffus, als dass daraus taugliche Abgrenzungen zur Rügepflicht vorgenommen werden könnten.

Schragel in Fasching/Konecny², § 196 ZPO Rz 1 und 3 vertritt, dass sich die Rügepflicht nur auf jene Teile der die Verhandlungsführung durch das Gericht betreffenden Vorschriften beziehe, die deren äußere Form oder Durchführung regelten. Keine Rügepflicht bestehe für Prozesshandlungen und Unterlassungen, die unmittelbar oder mittelbar den materiellen Inhalt der zu treffenden Entscheidung, der Sammlung des Prozessstoffes, beträfen. Rechtspolitisch sei vielmehr die Beseitigung der Rügepflicht nicht wünschenswert und zur Ermöglichung einer gerade mit der Zivilverfahrensnovelle 2002 verstärkt geforderten effizienten Entscheidungsfindung in der Hauptsache unverzichtbar. Dass eine Partei einen Beweisantrag oder sonstige Anträge für wesentlich erachte, sei anzunehmen; warum eine Ablehnung durch das Gericht von der Partei noch formell gerügt werden müsste, sei nicht einzusehen.

Nach ständiger Rechtsprechung ist § 196 ZPO (generell) auf Stoffsammlungsmängel nicht anzuwenden (RIS-Justiz RS0037055, RS0037041). In der Entscheidung 4 Ob 26/07p wird diese ständige Rechtsprechung zitiert und ausgeführt, dass daran zumindest für den Fall festzuhalten sei, dass die Mängel auf einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung des Vorbringens beruhten. Ob § 196 ZPO ungeachtet der mit der Zivilverfahrensnovelle 2002 angestrebten Konzentration des Zivilprozesses auch bei primären Stoffsammlungsmängeln unanwendbar sei, wurde ausdrücklich offen gelassen.

Die Zivilverfahrensnovelle 2002, BGBl I 2002/76, bezweckt, gerichtliche Verfahren schneller und effizienter zu gestalten. Den zentralen Reformansatz bildete der Gedanke, den Parteien die Mitverantwortung für eine rasche Prozessführung aufzuerlegen und sie zu verpflichten, ihr Vorbringen so zu erstatten, dass das Verfahren so rasch wie möglich durchgeführt werden kann. Neues Vorbringen oder neue Beweisanbote, die die Erledigung des Prozesses erheblich verzögern würden, sollen dann zurückgewiesen werden, wenn sie grob schuldhaft nicht früher erstattet worden seien. Weitere erhebliche Beschleunigungseffekte sollten durch die Ausweitung des Mahnverfahrens und die Zulässigkeit des (echten) Versäumungsurteils sowie durch die Umgestaltung der ersten Tagsatzung und die Abschaffung des Widerspruchs gegen das Versäumungsurteil erzielt werden (RV 962 BlgNR 21. GP 16). Der Gesetzgeber hat danach sein Ziel der Prozesskonzentration mit ganz bestimmten Mitteln verfolgt. Die Bestimmung des § 196 ZPO wurde dabei, in Kenntnis der darauf fußenden Judikatur, nicht als reformbedürftig erkannt. Es besteht daher kein gesetzlicher Auftrag, den Parteien bei primären Stoffsammlungsmängeln eine Rügepflicht aufzuerlegen. Es gibt für den Obersten Gerichtshof jedenfalls hier keinen Grund, von seiner bisherigen Rechtsprechung abzugehen, nach der § 196 ZPO auf Stoffsammlungsmängel (auch auf primäre) nicht anzuwenden ist.

Das Berufungsgericht, das in seiner Entscheidung die dargelegte Judikatur des Obersten Gerichtshofs übergangen hat, hat also zu Unrecht eine Verletzung der Rügepflicht durch die Klägerin angenommen. Aufgrund seiner unrichtigen Rechtsauffassung hat es sich mit dem in der Berufung geltend gemachten Verfahrensmangel inhaltlich nicht auseinandergesetzt, was nachzuholen ist. Der Grundsatz, dass Mängel des Verfahrens erster Instanz, die das Berufungsgericht nicht als gegeben erachtete, im Revisionsverfahren nicht neuerlich gerügt werden können, ist unanwendbar, wenn das Berufungsgericht infolge einer unrichtigen Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften eine Erledigung der Mängelrüge unterlassen hat. Es liegt hier nämlich ein Mangel des Berufungsverfahrens selbst vor, der gemäß § 503 Z 2 ZPO bekämpfbar ist (RIS-Justiz RS0043086).

Der nicht vernommene Zeuge wurde zum Beweis des Inhalts der zwischen der Klägerin, der S***** GmbH und der P***** GmbH geführten Gespräche und getroffenen Vereinbarungen im Zusammenhang mit der schriftlichen Vereinbarung zwischen der Klägerin und der S***** GmbH namhaft gemacht. Bevor eine rechtliche Beurteilung der getroffenen Vereinbarungen erfolgen kann, bedarf es der Erledigung der Beweisrüge und einer gesicherten Sachverhaltsgrundlage.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte