OGH 15Os29/07i

OGH15Os29/07i30.5.2007

Der Oberste Gerichtshof hat am 30. Mai 2007 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofes Dr. Schmucker als Vorsitzende sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Danek, Hon. Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. T. Solé und Mag. Lendl als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Egger als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Dragan S***** wegen des Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB, AZ 29 U 331/05w des Bezirksgerichtes Salzburg, über die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen 1. die in der Hauptverhandlung vom 21. Juni 2006 entgegen § 252 Abs 1 StPO vorgenommene Verlesung eines Sachverständigengutachtens, 2. die Entgegennahme der mündlichen Anmeldung der Berufung durch einen Gerichtsbediensteten, 3. die Unterlassung der Belehrung des Angeklagten über sein Recht, die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers zu erlangen, und 4. die Nichtvornahme der Aufforderung an den Angeklagten anlässlich der mündlichen Berufungsanmeldung, die Beschwerdepunkte genau anzugeben und 5. die Unterlassung der Übersendung des Hauptverhandlungsprotokolles an den Angeklagten„ in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwältin Mag. Wachberger, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Im Verfahren AZ 29 U 331/05w des Bezirksgerichtes Salzburg verletzen:

1. Die in der Hauptverhandlung vom 21. Juni 2006 ohne Einverständnis der Parteien vorgenommene Verlesung des im Akt 43b Vr 153/01w des Bezirksgerichtes Salzburg enthaltenen Gutachtens des Sachverständigen Hofrat Mag. Eduard G***** § 252 Abs 1 StPO iVm § 458 Abs 5 StPO;

2. die Entgegennahme der mündlichen Anmeldung der Berufung am 23. Juni 2006 nicht durch einen Richter, sondern durch einen Gerichtsbediensteten § 467 Abs 4 StPO;

3. die Unterlassung der Belehrung des Angeklagten anlässlich der mündlichen Berufungsanmeldung über sein Recht, die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers zur Ausführung der angemeldeten Berufung zu erlangen, § 3 StPO iVm § 41 Abs 2 Z 4 StPO;

4. die Nichtvornahme der Aufforderung an den Angeklagten anlässlich der mündlichen Berufungsanmeldung, die Beschwerdepunkte genau anzugeben, verbunden mit der Nichtvornahme der Belehrung über die Rechtsfolgen der Unterlassung dieser Angabe § 467 Abs 4 StPO;

5. die Unterlassung der Zustellung des Hauptverhandlungsprotokolls an den Angeklagten spätestens zugleich mit der Urteilsausfertigung § 271 Abs 6 letzter Satz StPO.

Das Urteil des Bezirksgerichtes Salzburg vom 21. Juni 2006, das im Übrigen unberührt bleibt, wird in seinem schuldig sprechenden Teil und demgemäß auch im Strafausspruch aufgehoben und die Sache insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Salzburg verwiesen.

Text

Gründe:

Gegen Dragan S***** wird zu AZ 29 U 331/05w des Bezirksgerichtes Salzburg ein Strafverfahren wegen des Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB geführt.

In der Hauptverhandlung vom 21. Juni 2006 wurde gemäß § 252 Abs 2 StPO (ua) „der Akt des Bezirksgerichtes Salzburg 43 P 143/01b-59 vorgeführt, wobei seitens der Parteien auf eine wortwörtliche Wiedergabe verzichtet" wurde (S 48). Bei seinem Schuldspruch wegen § 198 Abs 1 StGB stützte sich das Erstgericht unter anderem auf das im Akt AZ 43 P 143/01b des Bezirksgerichtes Salzburg erliegende berufskundliche Gutachten des Sachverständigen Hofrat Mag. Eduard G***** (S 54). Ein Teilfreispruch erwuchs in Rechtskraft. Nachdem der nicht anwaltlich vertretene Beschuldigte Dragan S***** nach Urteilsverkündung und Rechtsmittelbelehrung zunächst auf Rechtsmittel verzichtet hatte (S 49), gab er am 23. Juni 2006 beim Bezirksgericht Salzburg die Anmeldung der Berufung gegen das Urteil vom 21. Juni 2006 zu Protokoll (ON 13). Dieses Protokoll wurde nicht von einem Richter, sondern von einem nichtrichterlichen Beamten aufgenommen. Nach der vom Obersten Gerichtshof eingeholten tatsächlichen Aufklärung (§ 285f StPO) wurde er dabei weder über sein Recht belehrt, die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers zu beantragen, noch zur genauen Angabe der Beschwerdepunkte aufgefordert und über die Rechtsfolgen der Unterlassung dieser Angabe belehrt. Am 27. Juni 2006 verfügte der Richter die Zustellung einer Urteilsausfertigung (S 1c verso), nicht aber einer Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung, an den Angeklagten. Diese hat Dragan S***** am 11. September 2006 persönlich beim Bezirksgericht Salzburg samt einer irrig angeschlossenen, auf Abwesenheitsurteile bezogene Rechtsmittelbelehrung (RMB 3) übernommen (Zustellschein bei S 54).

Über die (angemeldete) Berufung des Dragan S***** wurde noch nicht entschieden.

Rechtliche Beurteilung

Das Vorgehen des Bezirksgerichtes Salzburg verletzt - wie der Generalprokurator in seiner zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt - das Gesetz in mehrfacher Hinsicht:

1. Nach der - gemäß § 458 Abs 5 StPO auch im Verfahren vor dem Bezirksgericht geltenden - Regelung des § 252 Abs 1 StPO dürfen (ua) Gutachten von Sachverständigen bei sonstiger Nichtigkeit nur in den im Gesetz genannten Fällen (§ 252 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO) verlesen werden. Fallbezogen liegt keiner dieser Ausnahmetatbestände vor. Insbesondere lässt der Verzicht der Parteien auf eine wortwörtliche Wiedergabe eines in einem Beiakt erliegenden Sachverständigengutachtens keinen Rückschluss darauf zu, dass der unvertretene Angeklagte mit der Verlesung als solcher einverstanden gewesen wäre (§ 252 Abs 1 Z 4 StPO) und dies unmissverständlich dokumentiert hätte (Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 103). Die unzulässige Verlesung war nach der Beweiswürdigung des Bezirksgerichtes eine der Grundlagen für den Schuldspruch, sodass die Formverletzung dem Angeklagten auch zum Nachteil gereicht.

2. Geschieht die Anmeldung der Berufung mündlich, so hat nach § 467 Abs 4 StPO der Richter, der das Protokoll hierüber aufnimmt, den Beschwerdeführer zur genauen Angabe der Beschwerdepunkte besonders aufzufordern und über die Rechtsfolgen der Unterlassung dieser Angabe zu belehren. Aus dieser Bestimmung ist zu schließen, dass die Anmeldung der Berufung im Verfahren vor den Bezirksgerichten vor dem Richter und nicht gegenüber einer anderen Gerichtsperson zu erfolgen hat (vgl Ratz, WK-StPO § 467 Rz 6).

Unter Angabe der Beschwerdepunkte ist nicht bloß die Bezeichnung der kritisierten (Urteils-)Aussprüche (über die Schuld, die Sanktionen oder die privatrechtlichen Aussprüche) zu verstehen, sondern vielmehr auch die deutliche und bestimmte Bezeichnung geltend gemachter Nichtigkeitsgründe (WK-StPO § 467 Rz 6). Diese Unterweisung ist mit einer Belehrung über die Rechtsfolgen der Unterlassung dieser Angaben zu verbinden (RIS-Justiz RS0121691).

Gemäß § 41 Abs 2 Z 4 StPO ist die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers zur Ausführung angemeldeter Rechtsmittel jedenfalls erforderlich, sofern beim Beschuldigten die vom Gesetz geforderten persönlichen Voraussetzungen gegeben sind. Da die Beigebung nur auf Antrag des Beschuldigten erfolgen kann, ist dieser gemäß § 3 StPO hierüber zu belehren (Achammer, WK-StPO § 41 Rz 31; Schmoller, WK-StPO § 3 Rz 84, 15 Os 126/06b).

Nach dem Protokoll über die Berufungsanmeldung hat Dragan S***** diese nicht vor einem Richter erklärt. Obwohl er nach den Urteilsfeststellungen ohne Beschäftigung war und lediglich Notstandshilfe in Höhe von 400 Euro bezog, wurde er über sein Recht, zur Ausführung der angemeldeten Berufung einen Verfahrenshilfeverteidiger zu erlangen, nicht belehrt. Genauso wenig wurde er zu einer genauen Angabe der geltend gemachten Nichtigkeitsgründe aufgefordert und über die Rechtsfolgen der Unterlassung dieser Angaben - nämlich die Zurückweisung der Berufung wegen Nichtigkeit - belehrt.

3. Gemäß § 271 Abs 6 letzter Satz StPO idF der Strafprozessnovelle 2005 ist eine Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung den Parteien, soweit sie nicht darauf verzichtet haben, ehestmöglich, spätestens aber zugleich mit der Urteilsausfertigung zuzustellen (Fabrizy, StPO9 ErgH § 271 Rz 6; Danek, WK-StPO § 271 Rz 40). Indem das Bezirksgericht Salzburg dem Angeklagten alleine das Urteil mit Rechtsmittelbelehrung zustellen ließ, ist es dieser Verpflichtung nicht nachgekommen (15 Os 126/06b).

Da sich die unzulässige Verlesung in der Hauptverhandlung vom 21. Juni 2006 zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hat, war das in der Hauptverhandlung ergangene Urteil im Umfang des Schuldspruches und demgemäß auch im Strafausspruch aufzuheben und insoweit die Verfahrenserneuerung anzuordnen.

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