OGH 13Os48/06t

OGH13Os48/06t15.5.2006

Der Oberste Gerichtshof hat am 15. Mai 2006 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Rouschal als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Ratz und Mag. Hetlinger als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Dachler in der Strafsache gegen Walter N***** wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und anderer strafbarer Handlungen, AZ 42 Hv 125/05s des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, über die Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien vom 12. April 2006, AZ 18 Bs 91/06y (ON 118), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Walter N***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

Dem Bund wird der Ersatz der mit 700 Euro, zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer, festgesetzten Beschwerdekosten an den Beschwerdeführer auferlegt.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 19. Jänner 2006, GZ 42 Hv 125/05s-104, wurde der bislang unbescholtene Walter N***** des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (I) und zweier Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB (II/1 und 2) schuldig erkannt und zu einer (unbedingten) Freiheitsstrafe von 2 ½ Jahren unter Anrechnung der Vorhaft vom 18. Jänner 2005, 15:15 Uhr, bis zum 19. Jänner 2006, 11:30 Uhr, verurteilt.

Danach hat er in Wien

I. am 2. Februar 1996 mit einer unmündigen Person den Beischlaf unternommen, indem er „mit seinem Penis die Scheide der am 15. November 1989 geborenen Sonja W***** berührte und mit seinem Finger in die Scheide des Mädchens eindrang, die Scheide rieb, wobei es zu einem Samenerguss kam";

II. außer dem Fall des § 206 StGB eine geschlechtliche Handlung an einer unmündigen Person vorgenommen oder von einer unmündigen Person an sich vornehmen lassen, indem er

1. am 11. August 2004 der am 2. Juli 1997 geborenen Viola O***** an die Scheide griff und ihren Geschlechtsteil streichelte;

2. am 18. Jänner 2005 der am 16. Juni 1998 geborenen Sanja S***** mit der Hand in die Hose fuhr, an ihren Geschlechtsteil griff, den Geschlechtsteil streichelte bzw am Geschlechtsteil auf- und abfuhr und die Hand der Sanja S***** an seinen entblößten Penis führte, sodass der entblößte Penis in der Hand des Kindes lag. Von der Anklage eines am 29. Juni 2002 an Pamela P***** begangenen Verbrechens des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB wurde Walter N***** nach § 259 Z 3 StPO freigesprochen. Gegen das - erst am 21. April 2006 dem Verteidiger zugestellte (S 3z des Antrags- und Verfügungsbogens) - Urteil, das der Staatsanwalt unbekämpft ließ, hat der Angeklagte rechtzeitig Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung angemeldet.

Die Vorsitzende des Schöffengerichtes hatte zuvor ungeachtet der Tatsache, dass in der Anklageschrift die Abhörung einer Reihe von Zeugen und Sachverständigen beantragt worden war (S 205/II; § 207 Abs 4 StPO) und sich der Angeklagte zur Alibibeweisführung für den 29. Juni 2002 bereits im Vorverfahren auf die weitere Zeugin Mag. N***** berufen hatte (diese hatte die Angaben des Angeklagten gegenüber der Untersuchungsrichterin bestätigt [S 115 bis 117/II]; vgl § 254 Abs 2 StPO), keine einzige dieser Beweispersonen zu der für den 15. September 2005 anberaumten Hauptverhandlung geladen (S 257 f/II). Aus dem Akt ist kein Grund für dieses Vorgehen zu ersehen. Sie hatte sodann zu der aufgrund entsprechender Beweisanträge von Staatsanwalt und Verteidiger auf den 24. November 2005 vertagten Hauptverhandlung zwar auch die Ladung der Zeugin Mag. N***** verfügt (S 3w des Antrags- und Verfügungsbogens). Diese Verfügung war jedoch von der Geschäftsabteilung nicht vollzogen und dieser Umstand von der Vorsitzenden nicht bemerkt worden, sodass - allein deshalb - die Hauptverhandlung erneut, diesmal auf den 19. Jänner 2006, vertagt wurde (S 335/II), an welchem Tag das Urteil verkündet, bis zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung aber noch nicht dem Verteidiger zugestellt wurde.

Mit dem angefochtenen Beschluss wurde die am 20. Jänner 2005 verhängte Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 3 lit b StPO fortgesetzt.

Rechtliche Beurteilung

Was die sog Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft anlangt, prüft der Oberste Gerichtshof, ausgehend von der Vorgabe des GRBG, wonach nicht die Haft, vielmehr die vom OLG getroffene Entscheidung über die Haft den Prozessgegenstand bildet, in jüngerer, jedoch bereits gefestigter Rechtsprechung in zwei Schritten, ob angesichts der vom OLG angeführten bestimmten Tatsachen der von diesem gezogene Schluss auf ein ausgewogenes Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe vertretbar war (§ 180 Abs 1 zweiter Satz StPO) und - zusätzlich nach Maßgabe eigener Beweiswürdigung (vgl Ratz, ÖJZ 2005, 415 [419]) - ob die Gerichte alles ihnen Mögliche zur Abkürzung der Haft unternommen haben (§ 193 Abs 1 StPO; 15 Os 34/04, JBl 2005, 262; 14 Os 139/04, EvBl 2005/91, 395; 14 Os 141/05z, EvBl 2006/39, 209).

Eine ins Gewicht fallende Säumigkeit in Haftsachen ist demnach auch ohne Verletzung des § 180 Abs 1 zweiter Satz StPO grundrechtswidrig im Sinn einer Verletzung des § 193 Abs 1 StPO (anders noch 11 Os 75/03, EvBl 2003/192, 908 = SSt 2003/51).

Von den vorstehend dargelegten Verstößen gegen § 193 Abs 1 StPO wird in der Grundrechtsbeschwerde bloß die Anberaumung der Hauptverhandlung vom 15. September 2005 (nach bis dahin fast achtmonatiger Untersuchungshaft) ohne Ladung der beantragten und zur Alibibeweisführung aufgebotenen Zeugen und Sachverständigen geltend gemacht. Bereits diese stellt jedoch eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes dar, womit sich die Grundrechtsbeschwerde als berechtigt erweist.

Auch die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung ist erforderlich (§ 7 Abs 1 GRBG).

Die Kostenersatzpflicht des Bundes gründet sich auf § 8 GRBG.

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