OGH 6Ob270/05g

OGH6Ob270/05g15.12.2005

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Ehmayr als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Huber, Dr. Prückner, Dr. Schenk und Dr. Schramm als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Josefine B*****, vertreten durch Dr. Karl-Heinz Plankel und andere Rechtsanwälte in Dornbirn, gegen den Beklagten Manfred S*****, vertreten durch Dr. Christoph Ganahl, Rechtsanwalt in Dornbirn, wegen 16.372,50 EUR und Feststellung (Gesamtstreitwert EUR 19.372,50), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 29. Juli 2005, GZ 2 R 140/05p-26, womit das Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 22. April 2004, GZ 38 Cg 131/04v-22, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat der beklagten Partei die mit 1.063,80 (darin 177,30 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Im März 2002 kam es auf einer Schiabfahrt in Vorarlberg zu einem Zusammenstoß der Streitteile, wodurch die Klägerin schwere Verletzungen erlitt. Der Beklagte hatte sich bereits am Ende der Abfahrt hinter der Absperrung der Zufahrt zu einem Sessellift befunden, als er in einer Entfernung von ca 50 m im Hangbereich einen gestürzten Bekannten regungslos liegen sah. Um ihm zur Hilfe zu kommen, verließ er die Absperrung und bewegte sich in Schlittschuhschritten bergwärts in Richtung Hang in einer Entfernung von etwa 1 m vom linken Pistenrand entfernt. Er befand sich ca 2 m von der Absperrung (dem Pistenrand) entfernt, als es zum Zusammenstoß mit der Klägerin kam. Diese war den Hang talwärts mit einer Geschwindigkeit von 15 bis 20 km/h gefahren und hatte sich, als der Beklagte mit einer Bergwärtsbewegung begann, ca 60 m von der späteren Kollisionsstelle (und oberhalb von dieser) befunden. Zu diesem Zeitpunkt hatten beide Schifahrer uneingeschränkte Sicht auf den jeweils anderen.

Die Klägerin begehrt Schadenersatz und Feststellung der Haftung des Beklagten für Spät- und Dauerfolgen aus dem Unfallsgeschehen. Der Beklagte habe die Kollision allein zu verantworten, er habe entgegen der FIS-Regel 7 für seinen Aufstieg nicht den Rand der Abfahrt benutzt und die gehörige Sorgfalt unterlassen. Sie mache aus „prozessökonomischen Gründen" nur 50 % des Schadens geltend. Das Feststellungsbegehren sei wegen zu befürchtender Spät- bzw Dauerfolgen berechtigt.

Der Beklagte beantragt die Abweisung des Klagebegehrens. Das Alleinverschulden treffe die Klägerin. Er sei vom Lift aus einige Meter bergwärts gelaufen, um einem verunfallten Bekannten zu helfen. Dabei habe er sich entlang der dort befindlichen Absperrung und erst in weiterer Folge leicht schräg zur Unfallstelle orientiert. Die Klägerin sei auf dem übersichtlichen, geraden und relativ flachen Hang talwärts gefahren, ohne sich ausreichend auf den Schiverkehr vor ihr zu konzentrieren. Bei Aufwendung der erforderlichen Aufmerksamkeit wäre ihr aufgefallen, dass sich ein Schiunfall ereignet hatte und der Beklagte zur Hilfeleistung dorthin unterwegs gewesen sei. Sie wäre daher verpflichtet gewesen, ihre Fahrgeschwindigkeit und Fahrlinie entsprechend zu wählen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte noch fest, die Klägerin habe aus einer Entfernung von zumindest 100 m Sicht auf den Zugangsbereich des Lifts, die Position des Beklagten und die spätere Kollisionsstelle gehabt. Bei Beginn seiner Aufwärtsbewegung habe sie sich noch 60 m von der späteren Kollisionsstelle entfernt befunden, den Beklagten aber erstmals in einer Entfernung von 15 m bewusst wahrgenommen. Sie habe beabsichtigt, in ihre Fahrtrichtung gesehen rechts an ihm vorbeizufahren und sei dabei mit ihrer linken Schispitze an jener des Beklagten angestoßen, ihr Schischuh habe jenen des Beklagten gestreift und sie sei zu Sturz gekommen. Der Klägerin wäre ein Ausweichen nach beiden Seiten ohne weiteres möglich und zumutbar gewesen, während der Beklagte keine kollisionsverhindernde Reaktion mehr habe setzen können.

Rechtlich ging das Erstgericht von einem Alleinverschulden der Klägerin aus. Der Beklaget sei nach FIS-Regel Nr 9 verpflichtet gewesen, seinem regungslos auf der Piste liegenden Bekannten zu Hilfe zu kommen. Er habe mit seinem diesem Zweck dienenden Aufstieg auch nicht gegen die FIS-Regel Nr 7 verstoßen, weil er sich in einer Entfernung von ungefähr 2 m vom Pistenrand bewegt habe. Im Verhältnis zur gegebenen Pistenbreite (jedenfalls 70 m) sei jener Bereich, in dem er sich bewegt habe, jedenfalls als Pistenrand zu qualifizieren. Ein rechtswidriges unfallskausales Verhalten könne dem Beklagten nicht angelastet werden. Hingegen hätte die Klägerin ausweichen und damit eine Kollision leicht vermeiden können.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach - nach Antragstellung der Klägerin gemäß § 508 Abs 1 ZPO - aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zum Begriff „Rand der Abfahrt" im Sinn der FIS-Regel Nr 7 fehle. Von den Feststellungen des Erstgerichts ausgehend verneinte auch das Berufungsgericht ein sorgfaltswidriges Verhalten des Beklagten. Die Kollision habe sich 2 m vom tatsächlichen Pistenrand entfernt ereignet, sodass dem Beklagten eine Verletzung der FIS-Regel Nr 7 nicht zur Last gelegt werden könne. Die Klägerin hätte bei pflichtgemäßer Aufmerksamkeit den Unfall jedenfalls verhindern können. Selbst wenn der Beklage (aus seiner Position heraus) den Hang nach obenhin beobachtet hätte, wäre ihm eine Gefahrensituation nicht aufgefallen, weil er sich ohnehin am Rand der zumindest 70 m breiten Piste befunden habe. Demgegenüber sei der Klägerin ein Verstoß gegen FIS-Regel Nr 1 vorzuwerfen. Sie verpflichte den Schifahrer zu einem Verhalten, das keinen anderen gefährdet oder schädigt. Die Klägerin hätte daher ihre Fahrlinie so wählen müssen, dass sie am Beklagten gefahrlos vorbeigekommen wäre. Das Alleinverschulden an der Kollision treffe daher die Klägerin.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Klägerin ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Die Revisionswerberin macht geltend, der Beklagte habe zum Aufstieg nicht den „Rand der Abfahrt" benutzt. Der Begriff „Rand der Abfahrt" in FIS-Regel Nr 7 sei gleichzusetzen mit dem Begriff „Pistenrand" und bezeichne das unmittelbare Ende der Piste. Der Beklagte sei 2 m vom Pistenrand entfernt in Schlittschuhschritten gegangen und habe daher FIS-Regel Nr 7 nicht beachtet. Im Übrigen habe er sich fortbewegt, ohne auf andere Schifahrer zu achten. Er habe sich nicht überzeugt, ob er gefahrlos die Piste überqueren könne. Dem ist entgegenzuhalten:

Die FIS-Regeln sind ebenso wie der vom Österreichischen Kuratorium für Sicherung vor Berggefahren erarbeitete Pistenordnungsentwurf (sogenannte POE-Regeln) keine gültigen Rechtsnormen, sie sind auch nicht Gewohnheitsrecht. Als Zusammenfassung der Sorgfaltspflichten, die bei der Ausübung des alpinen Schisports im Interesse aller Beteiligten zu beachten sind, und bei der Anwendung des allgemeinen Grundsatzes, dass sich jeder so verhalten muss, dass er keinen anderen gefährdet, kommt diesen Regeln jedoch erhebliche Bedeutung zu (stRsp ZVR 1983/9; RIS-Justiz RS0023793 und RS0023410).

Nach der hier zu beurteilenden Sachverhaltsgrundlage kommt auf Seiten der Klägerin eine Sorgfaltspflichtverletzung im Sinn der FIS-Regeln Nr 1 (Rücksichtnahme auf andere Schifahrer und Snowboarder: jeder Schifahrer und Snowboarder muss sich so verhalten, dass er keinen anderen gefährdet oder schädigt), Nr 2 (Beherrschung der Geschwindigkeit und der Fahrweise: jeder Schifahrer und Snowboarder muss auf Sicht fahren. Er muss eine Geschwindigkeit und Fahrweise seinem Können und dem Gelände-, Schnee- und Witterungsverhältnissen sowie der Verkehrsdichte anpassen) und Nr 3 (Wahl der Fahrspur: der von hinten kommende Schifahrer und Snowboarder muss seine Fahrspur so wählen, dass er vor ihm fahrende Schifahrer und Snowboarder nicht gefährde) in Betracht. Auf Seiten des Beklagten ist eine allfällige Sorgfaltspflichtverletzung im Sinn der FIS-Regel Nr 7 (Aufstieg und Abstieg: ein Schifahrer oder Snowboarder, der aufsteigt oder zu Fuß absteigt, muss den Rand der Abfahrt benutzen) wie auch im Sinn der Regel Nr 1 (Rücksichtnahme) zu prüfen. Nach den Feststellungen hat der Beklagte die Abfahrt nicht gequert. Eine Schipiste quert nämlich nur derjenige, der in flacher Hangschrägspur mit geringem Höhenverlust über die ganze oder einen größeren Teil der Piste fährt (ZVR 1983/6; ZVR 1986/135; Pichler/Holzer, Handbuch des österreichischen Schirechts, 172). Der Beklagte befand sich vielmehr im Kollisionszeitpunkt in leicht schräger Aufwärtsbewegung in einem Bereich von bis zu 2 m vom Rand der Pistenbegrenzung entfernt. Entscheidend ist daher, ob ein Aufstieg in diesem Bereich einer Schiabfahrt dem Sorgfaltsmaßstab der FIS-Regel Nr 7 Rechnung trägt. Das ist nicht zu bezweifeln.

Auch die Klägerin setzt den Begriff „Rand der Abfahrt" dem „Pistenrand" gleich. Der Oberste Gerichtshof versteht den bei der Beurteilung von Verkehrssicherungspflichten maßgeblichen „Pistenrand" nicht als Linie im mathematischen Sinn (EFSlg 78.494) und verlangt dementsprechend auch die Sicherung atypischer Gefahrenquellen, die sich etwa 2 m (ZVR 1989/132; ZVR 1989/140) oder 2,6 m (ZVR 1991/17) außerhalb des tatsächlichen Pistenrand befinden.

Nichts anderes kann für das Sorgfaltsgebot, die Aufstiegspur „am Rand der Abfahrt" zu wählen, gelten. Allerdings richtet sich die Frage, wieweit der „Rand der Abfahrt" in einem konkret zu beurteilenden Fall zu ziehen ist, nach den Umständen des Einzelfalls. Die Beurteilung ist unter anderem auch davon abhängig, wie breit die Piste im Bereich der Aufstiegspur ist und ob die Position des Aufsteigenden von abfahrenden Schisportlern eingesehen werden kann. Im hier zu beurteilenden Fall war die Piste im Bereich des Aufstiegs und der Kollisionsstelle mindestens 70 m breit und - aus der Sicht abfahrender Schifahrer wie der Klägerin - schon über eine Strecke von 100 m einsehbar. Die Klägerin war noch 60 m von der späteren Kollisionsstelle entfernt, als der Beklagte mit seinem Aufstieg im beschriebenen Bereich begann. Der Beklagte hielt - wenngleich im Schlittschuhschritt - eine Spur innerhalb von 2 m gerechnet vom Rand der Abfahrt ein. Er durfte schon angesichts der Breite der Abfahrt in diesem Bereich und deren Einsehbarkeit davon ausgehen, abfahrende Schifahrer wie die Klägerin, deren Sicht in keiner Weise behindert wurde und die leicht nach beiden Seiten hätte ausweichen können, nicht zu gefährden oder in unvermeidlichem Ausmaß zu behindern. Im Übrigen wird auf die in der Literatur vertretene Auffassung (Pichler/Holzer, Handbuch des österreichischen Schirechts, 188) verwiesen, wonach es weder notwendig noch gerechtfertigt sei, auf- und absteigende Schifahrer ausnahmslos an den Pistenrand „zu verbannen". Ein aufsteigender Schifahrer bilde nämlich im Allgemeinen kein größeres Hindernis als ein stehender Schifahrer, der - außer an neuralgischen Punkten - ohne weiteres auf der Piste stehen dürfe. Er stelle auf einer breiten und übersichtlichen Piste mit geringer Frequenz kein ungewöhnliches Sicherheitsrisiko dar, welche das Verbot eines solchen Verhaltens gebieten würde. Der Senat teilt diese Auffassung. Eine Verletzung der FIS-Regel Nr 7 kann dem Beklagten daher nicht zur Last gelegt werden.

Ob der Beklagte bei Beginn seines Aufstiegs nach oben geblickt hat, ist nicht entscheidend. Nach den Feststellungen befand sich die Klägerin in diesem Zeitpunkt 60 m oberhalb der späteren Kollisionsstelle, beide Schifahrer hatten uneingeschränkt Sicht auf den jeweils anderen. Hätte daher der Beklagte die Klägerin bei Beginn seines Aufstiegs 60 m oberhalb der späteren Kollisionsstelle erblickt, hätte er bei den hier gegebenen Bedingungen (Sicht, Breite der Abfahrt, der Beklagte war in Gehgeschwindigkeit unterwegs) nicht damit rechnen müssen, dass sie ihre Fahrspur nicht würde entsprechend wählen, um ungefährdet passieren zu können. Er hätte vielmehr darauf vertrauen dürfen, dass die Klägerin - die ihn rechtzeitig sehen konnte - ihre Fahrspur entsprechend einrichten werde, was ihr auch nach den Umständen unschwer möglich gewesen wäre.

Die Vorinstanzen haben eine Sorgfaltspflichtverletzung des Beklagten zutreffend verneint. Zur Kollision kam es allein aus dem Verschulden der Klägerin, die auf den am Rand der Abfahrt aufsteigenden Beklagten nicht ausreichend Rücksicht genommen und ihre Fahrspur nicht so gewählt hatte, dass sie andere Schifahrer (den aufsteigenden Beklagten) nicht gefährdet. Ihrer Revision musste ein Erfolg versagt bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41 und 50 Abs 1 ZPO.

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