OGH 10ObS224/03v

OGH10ObS224/03v16.9.2003

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Friedrich Heim und Dr. Peter Ladislav (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Leopold L*****, vertreten durch Dr. Johannes Grund und Dr. Wolf D. Polte, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, Huemerstraße 21, 4010 Linz, im Revisionsverfahren nicht vertreten wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22. Juli 2003, GZ 11 Rs 82/03p-15, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung

Nach § 502 Abs 1 ZPO ist die Revision nur zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage des materiellen Rechtes oder des Verfahrensrechtes abhängt, der zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung erhebliche Bedeutung zukommt, etwa weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes abweicht oder eine solche Rechtsprechung fehlt oder uneinheitlich ist.

Der Kläger macht zur Zulässigkeit seines außerordentlichen Rechtsmittels geltend, das Gericht zweiter Instanz und die im Berufungsurteil zitierte Entscheidung des Obersten Gerichtshofes (10 ObS 108/02h) reduzierten den Unterschied zwischen den Pflegegeldstufen 5 und 6 ausschließlich darauf, dass zeitlich unkoordinierte Betreuungsmaßnahmen für die Stufe 5 nur am Tage und für die Stufe 6 zusätzlich auch noch in der Nacht notwendig seien. Dies sei mit dem Wortlaut des § 4 Abs 2 BPGG bzw den Bestimmungen der EinstV nicht zu vereinbaren (weil diese auch auf die dauernde Bereitschaft bzw Anwesenheit einer Pflegeperson abstellten) und stehe mit früheren Entscheidungen des erkennenden Senates wie zB 10 ObS 270/01f (= SSV-NF 15/114) und 10 ObS 2369/96x in Widerspruch, wobei die "gegenteiligen" Entscheidungen (auf die sich das Ersturteil beruft) entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes nicht vereinzelt geblieben seien.

Die behauptete uneinheitliche Rechtsprechung ist jedoch nicht zu erkennen:

Rechtliche Beurteilung

Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 5 besteht gemäß § 4 Abs 2 BPGG für Personen, deren Pflegebedarf nach der funktionsbezogenen Beurteilung des § 4 Abs 1 BPGG durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand erforderlich ist. Dieser liegt nach § 6 EinstV vor, wenn die dauernde Bereitschaft, nicht jedoch die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson erforderlich ist. Dauernde Bereitschaft ist nach stRsp dahin zu definieren, dass der Pflegebedürftige jederzeit Kontakt mit der Pflegeperson aufnehmen und diese in angemessener Zeit die erforderliche Betreuung und Hilfe leisten kann oder die Pflegeperson von sich aus in angemessenen Zeitabständen Kontakt mit dem Pflegebedürftigen aufnimmt (RIS-Justiz RS0106361; zuletzt: 10 ObS 403/02s; SSV-NF 15/114, 15/117 mwN). Es müssen Umstände vorliegen, die einen Betreuungsaufwand bedingen, der jederzeit auftreten kann und daher das unmittelbare, zeitlich nicht planbare Einschreiten einer Betreuungsperson erforderlich macht (SSV-NF 13/7; 10 ObS 108/02h).

Nach § 4 Abs 2 BPGG besteht Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 6 für Personen, deren Pflegebedarf nach § 4 Abs 1 BPGG durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn

1. zeitlich unkoordinierbare Betreuungsmaßnahmen erforderlich sind und diese regelmäßig während des Tages und der Nacht zu erbringen sind oder

2. die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht erforderlich ist, weil die Wahrscheinlichkeit der Eigen- oder Fremdgefährdung gegeben ist.

Gemäß § 7 EinstV liegen zeitlich unkoordinierbare Betreuungsmaßnahmen vor, wenn ein Pflegeplan wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung oder einer Sinnesbehinderung des pflegebedürftigen Menschen nicht eingehalten werden kann und die Betreuungsmaßnahme unverzüglich erbracht werden muss. Für die Einstufung in die Pflegegeldstufe 6 müssen die in § 4 Abs 2 Stufe 6 Z 1 BPGG genannten Betreuungsmaßnahmen regelmäßig während der Nachtstunden, d. h. nahezu jede Nacht, tatsächlich erbracht werden. Daraus hat der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 10 ObS 108/02h abgeleitet, sowohl § 4 Abs 2 Stufe 5 (iVm § 6 EinstV) als auch § 4 Abs 2 Stufe 6 Z 1 BPGG (iVm 7 EinstV) stellten auf das Fehlen einer Koordinierungsmöglichkeit ab (andernfalls die "dauernde Bereitschaft" einer Pflegeperson im Fall der Stufe 5 nicht erforderlich wäre); von den qualitativen Anforderungen gehe die Stufe 6 jedoch insofern über die Stufe 5 hinaus, "als bei Stufe 6 ausdrücklich auch auf die Nachtstunden sowie die Unverzüglichkeit der Maßnahme abgestellt wird" (RIS-Justiz RS0106362 [T29]; RS0107442 [T20]). Daran hat der erkennende Senat in seinen Folgeentscheidungen (10 ObS 210/02h, 10 ObS 340/02a und zuletzt: 10 ObS 403/02s) festgehalten; aber auch die in der ao Revision zitierten, angeblich "gegenteiligen" Entscheidungen (10 ObS 2369/96x und SSV-NF 15/114) stehen damit nicht in Widerspruch: Zu 10 ObS 2369/96x war nämlich infolge Revision der dortigen Klägerin nur darüber abzusprechen, dass diese die Stufe 6 nicht erreichte, und auch der Entscheidung SSV-NF 15/114 ist kein Vergleich zwischen den Voraussetzungen der verschiedenen Pflegegeldstufen zu entnehmen, der dem oa Rechtssatz widersprechen würde.

Diesen Rechtssatz hat das Berufungsgericht - im Gegensatz zur unvollständigen Wiedergabe in der ao Revision (die den letzten Satzteil verschweigt) - vollständig zitiert und auch richtig angewendet: Das Erfordernis der dauernden Bereitschaft einer Pflegeperson iSd Stufe 5 ist nämlich nur dann zu bejahen, wenn die Nachschau in relativ kurzen Zeitabständen erforderlich ist, weil ansonsten eben keine dauernde Bereitschaft notwendig wäre (10 ObS 108/02h). Die Voraussetzungen für ein höheres Pflegegeld als das der Stufe 4 sind daher nach stRsp nicht erfüllt, wenn - wie hier - keine Gefahr selbst- oder fremdgefährdender Handlungen und auch kein Anhaltspunkt für das Erfordernis zeitlich unkoordinierbarer Betreuungsmaßnahmen oder für das Erfordernis einer dauernden Bereitschaft einer Pflegeperson besteht (10 ObS 340/02a, 10 ObS 403/02s mwN), weil es bei der Pflegegeldeinstufung nicht darauf ankommt, ob die pflegebedürftige Person etwa subjektiv das Bedürfnis nach ständiger Verfügbarkeit einer Pflegeperson hat, sondern ob diese Notwendigkeit objektiv besteht, um die Verwahrlosung des Betroffenen zu verhindern (10 ObS 210/02h, RIS-Justiz RS0106361 [T10]).

Davon kann hier jedoch keine Rede sein:

Nach den irrevisiblen Feststellungen der Tatsacheninstanzen ist nämlich - wie die ao Revision selbst festhält - davon auszugehen, dass "unkoordinierbare Pflegemaßnahmen, die ein unmittelbares Einschreiten erfordern bzw eine Selbstgefährdung des Klägers nicht gegeben sind", dass also - wie die angefochtene Entscheidung zutreffend aufzeigt - keine Umstände vorliegen, die einen Betreuungsaufwand bedingen, der jederzeit auftreten kann und daher das unmittelbare, zeitlich nicht planbare Einschreiten einer Betreuungsperson erforderlich macht (SSV-NF 13/7; 10 ObS 108/02h). Daran vermag auch der Hinweis darauf nichts zu ändern, dass der im 93. Lebensjahr stehende, infolge Harninkontinenz windelversorgte Kläger (auf Grund seiner vollständigen Erblindung und der bestehenden hochgradigen Bewegungseinschränkung) zu jeglichem Lagewechsel und auch zum Trinken die Hilfe dritter Personen benötigt, aber sowohl das Durstgefühl als auch das Ruhebedürfnis bzw das Nasswerden des Klägers jederzeit auftreten können und daher nicht vorauszusehen bzw "planbar" sind (Seite 5 der ao Revision). Ein vermehrtes Durstgefühl, das ein unmittelbares zeitlich nicht planbares Einschreiten einer Betreuungsperson erfordern würde, steht nämlich nicht fest. Die Beurteilung des Berufungsgerichtes, dass beim Kläger die weitere Anspruchsvoraussetzung für die Stufe 5, also ein außergewöhnlicher Pflegebedarf im Hinblick auf die feststehende Koordinierbarkeit der Pflegemaßnahmen nicht erfüllt sei, entspricht aber der stRsp des erkennenden Senates in vergleichbaren Fällen (SSV-NF 13/16 [bettlägrige Person mit Stuhl- und Harninkontinenz, die für Lagewechsel fremder Hilfe bedurfte]; 10 ObS 210/02h [Unfähigkeit, allein Lageänderungen vorzunehmen]; 10 ObS 340/02a [nächtliche Windelversorgung, Durstgefühl durch Niereninsuffizienz]; 10 ObS 403/02s [nächtliche Windelversorgung]; uva) und ist daher im Rahmen einer ao Revision nicht zu überprüfen.

Da der Revisionswerber keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO aufzeigen konnte, ist die außerordentliche Revision zurückzuweisen.

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