OGH 4Ob145/03g

OGH4Ob145/03g19.8.2003

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kodek als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Graf, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofes Dr. Griß und Dr. Schenk und den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Vogel als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Patrick K*****, und des mj. Markus K*****, über den Revisionsrekurs der Kinder, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft P*****, gegen den Beschluss des Landesgerichtes Linz als Rekursgericht vom 11. April 2003, GZ 15 R 31/03i, 32/03m-17, womit der Beschluss des Bezirksgerichtes Mauthausen vom 21. November 2002, GZ 1 P 25/01a-11, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Die 1992 und 1995 geborenen Kinder sind österreichische Staatsbürger und leben mit ihrer Mutter in Österreich. Gegen den ehelichen Vater - die Ehe der Eltern ist geschieden - ist in der Schweiz ein Strafverfahren anhängig, er wurde dort am 3. 4. 2000 in Untersuchungshaft genommen und hat eine mehrjährige Freiheitsstrafe zu erwarten.

Unter Hinweis auf die über den Vater in der Schweiz verhängte Untersuchungshaft und die zu erwartende Freiheitsstrafe (der Staatsanwalt habe 20 Jahre gefordert) begehren die Kinder Haftvorschuss nach § 4 Z 3 UVG.

Das Erstgericht bewilligte die Unterhaltsvorschüsse nach § 4 Z 3 UVG in der jeweiligen Höhe des § 6 Abs 2 UVG. Die Schweiz sei aufgrund eines mit der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedern geschlossenen Abkommens einem EWR-Mitgliedsstaat gleich zu behandeln. Die Haft in der Schweiz stehe daher einer Haft im Inland gleich.

Das Rekursgericht wies die Anträge auf Unterhaltsvorschuss ab. § 4 Z 3 UVG sehe Unterhaltsvorschüsse nur in jenen Fällen vor, in denen die Haft über den Unterhaltspflichtigen im Inland verhängt und vollstreckt werde. Normzweck des Art 42 EG und der aufgrund dieser Bestimmung ergangenen Verordnung 1408/71 sei nur die Koordinierung (nicht auch die Harmonisierung) der verschiedenen sozialrechtlichen Systeme der Mitgliedsstaaten für Personen mit grenzüberschreitendem Berufsverlauf. Es bestehe keine Verpflichtung eines Mitgliedsstaats, nationale Normen zu schaffen, wonach Familienleistungen nach Art des Unterhaltsvorschusses nach dem österreichischem Unterhaltsvorschussgesetz im Rahmen eines lückenlosen Systems für jeden nur denkbaren Fall des Entfalls einer Unterhaltsleistung und damit auch für den Fall gewährt werden, dass der Unterhaltspflichtige wegen einer im Ausland verhängten und vollzogenen Haft seine Unterhaltspflicht nicht erfüllen könne. Vielmehr bleibe es dem nationalen Gesetzgeber vorbehalten, an welche Tatbestände er die Auszahlung von Unterhaltsvorschuss knüpfe. Mangle es - wie hier - an einer inländischen Norm, die die Gewährung eines Haftvorschusses auch dann auftrage, wenn die Haft über den Unterhaltspflichtigen nicht im Inland verhängt und vollstreckt werde, scheitere ein entsprechender Antrag nicht etwa allein daran, dass der Unterhaltsschuldner oder seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen vom Recht der Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätten, sondern daran, dass keine entsprechende nationale Anspruchsgrundlage bestehe. Würden aber derartige Haftvorschüsse schon bei Verhängung und Vollzug einer Freiheitsstrafe in einem anderen Mitgliedsstaat des EWR nicht gewährt, stünden derartige Vorschüsse auch bei einer Haft in der Schweiz nicht zu. Das von der Schweiz auch mit Österreich geschlossene Freizügigkeitsübereinkommen diene nur der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, eine weitergehende Rechtsanwendung bzw Rechtswirkung als für die EWR-Mitgliedsstaaten untereinander sei damit nicht verbunden.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs der Kinder ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Die Revisionsrekurswerber machen geltend, nach der Rechtsprechung des EuGH sei der Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen UVG, wozu auch der Haftvorschuss gehöre, eine Familienleistung im Sinn der Verordnung 1408/71 . Er sei unabhängig davon zu gewähren, ob Unterhaltsschuldner oder Unterhaltsberechtigter das Recht auf Freizügigkeit in Anspruch nehmen. Die Anknüpfung an das Kriterium des "Wohnortes" für die Gewährung bestimmter Familienleistungen sei eine verschleierte Diskriminierung. Dem ist nicht zu folgen:

Gemäß § 4 Z 3 UVG sind Vorschüsse zu gewähren, wenn dem Unterhaltsschuldner aufgrund einer Anordnung in einem strafgerichtlichen Verfahren die Freiheit länger als einen Monat im Inland entzogen wird und er deshalb seine Unterhaltspflicht nicht erfüllen kann. Der Oberste Gerichtshof hat bereits mehrfach ausgesprochen (1 Ob 503/94 = SZ 67/100; 2 Ob 112/97 = ÖA 1998, 65; 4 Ob 260/02t; 3 Ob 50/03d; RIS-Justiz RS0117308 und RS0076288), dem Gesetzestext wie auch dem unverkennbaren Willen des Gesetzgebers könne entnommen werden, dass der Haftrichtsatzvorschuss nur bei strafgerichtlicher Verurteilung und Freiheitsentzug im Inland gewährt werde. Daran habe auch der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union nichts geändert. Normzweck des Art 42 EG und der aufgrund dieser Bestimmung ergangenen Verordnung 1408/71 sei (nur) die Koordinierung, nicht die Harmonisierung der verschiedenen sozialrechtlichen Systeme der Mitgliedsstaaten für Personen mit grenzüberschreitendem Berufsverlauf. Es solle nicht ein einheitliches, gemeinschaftswert gültiges Sozialversicherungssystem geschaffen, sondern durch Koordinierung nationaler Regeln die Freizügigkeit sichergestellt werden. Weder aus der Verordnung 1408/71 noch aus der Rechtsprechung des EuGH könne der Schluss gezogen werden, ein Mitgliedsstaat wäre dazu verpflichtet, nationale Normen zu schaffen, wonach Familienleistungen nach Art des Unterhaltsvorschusses nach dem österreichischen UVG im Rahmen eines lückenlosen Systems für jeden nur denkbaren Fall des Entfalls einer Unterhaltsleistung und damit auch für den Fall gewährt werden, dass der Unterhaltspflichtige wegen einer im Ausland verhängten und (dort) vollzogenen Haft seine Unterhaltspflicht nicht erfüllen kann. Mangels einer solchen Verpflichtung bleibe es dem nationalen Gesetzgeber vorbehalten, an welche Tatbestände er die Auszahlung von Unterhaltsvorschüssen knüpfe. Ziel der Verordnung 1408/71 sei es allein, dem Recht auf Freizügigkeit zum Durchbruch zu verhelfen und sicherzustellen, dass die im nationalen Recht nach den anwendbaren Rechtsvorschriften vorgesehenen Familienleistungen unterschiedslos davon zur Auszahlung gelangen, in welchem Land der für die Leistung bezugsberechtigte Familienangehörige wohne. Mangle es aber an einer inländischen Norm, die die Gewährung des Haftvorschusses auch dann auftrage, wenn die Haft nicht im Inland verhängt und vollstreckt werde, so scheitere der entsprechende Antrag nicht etwa daran, dass der Unterhaltsschuldner (oder seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen) vom Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätten, sondern daran, dass keine entsprechende nationale Anspruchsgrundlage bestehe.

Der Senat hält an dieser bereits wiederholt dargelegten Rechtsauffassung fest. Sachverhaltsgrundlage der zitierten Vorentscheidungen waren jeweils in anderen EWR-Mitgliedsstaaten erfolgte strafgerichtliche Verurteilungen. Der Unterhaltspflichtige hatte seine Haft auch jeweils im Staat der Verurteilung, das heißt im Ausland, verbüßt.

Das von den Revisionsrekurswerbern ins Treffen geführte Vorabentscheidungsersuchen 6 Ob 132/02h betraf einen gänzlich anderen Sachverhalt. Der Unterhaltsschuldner war in Österreich in Untersuchungshaft genommen und von einem österreichischen Gericht strafgerichtlich verurteilt worden. Er hatte auch einen Teil der über ihn verhängten Haftstrafe in Österreich verbüßt. Unter Anwendung des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen samt Erklärungen der Republik Österreich BGBl 1986/524 und des § 76 Auslieferungs- und Rechtshilfegesetz (ARHG BGBl 1979/529) wurde er im Laufe des Strafvollzugs zum (weiteren) Vollzug der verhängten Freiheitsstrafe nach Deutschland, seinen Heimatstaat, überstellt. Dieser Sachverhalt gab angesichts der Zielsetzungen des angeführten Übereinkommens (die soziale Wiedereingliederung strafgerichtlich Verurteilter dadurch zu fördern, dass sie die Sanktion in ihrer Heimat verbüßen dürfen) Anlass zur Überlegung, ob nicht in einem solchen "Überstellungs"-Fall eine versteckte Diskriminierung aufgrund der Staatsbürgerschaft verwirklicht werde, weil die fremde Staatsbürgerschaft in diesen Fällen regelmäßig dafür ausschlaggebend ist, ob ein in Österreich verurteilter Unterhaltspflichtiger seine Freiheitsstrafe in seinem Heimatstaat, somit im Ausland, verbüßt. Eine allfällige dadurch verwirklichte mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit hätte Einfluss auf die Gewährung oder Nichtgewährung des Unterhaltsvorschusses.

Die im Vorabentscheidungsersuchen 6 Ob 132/02h im Hinblick auf eine allfällige versteckte Diskriminierung geäußerten Bedenken bestehen in all jenen Fällen, in denen - wie hier - das Strafverfahren im Ausland geführt wird und sowohl die strafgerichtliche Verurteilung als auch der Vollzug der verhängten Freiheitsstrafe im Ausland stattfinden, nicht. Zunächst ist davon auszugehen, dass § 4 Z 3 UVG keine unmittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit enthält. Diese Bestimmung knüpft an den Ort der Strafverbüßung und nicht an die Staatsangehörigkeit an und betrifft daher österreichische Unterhaltsschuldner gleichermaßen wie Unterhaltsschuldner einer anderen Staatsangehörigkeit. So kann es durchaus eintreten, dass auch ein österreichischer Unterhaltsschuldner seine Strafe in einem ausländischen Gefängnis verbüßt, wenn er dort verurteilt wurde (so im Fall der Entscheidung 4 Ob 260/02t).

Auch eine mittelbare Diskriminierung kommt im vorliegenden Fall nicht in Betracht, weil der unterhaltspflichtige Vater die Haft nicht etwa deshalb in der Schweiz verbüßt, weil er Schweizer Staatsangehöriger ist, sondern weil er aus Anlass eines dort gegen ihn geführten Strafverfahrens in der Schweiz in Haft genommen wurde.

Dass das Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedern einerseits und der schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (BGBl III 2002/133, Abkommen veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L 114/6 vom 30. 4. 2002) Staatsangehörigen der Schweiz keine weiteren Rechte einräumt als den Staatsangehörigen der EWR-Mitgliedsstaaten, haben die Vorinstanzen bereits zutreffend erkannt. Auch dieses Abkommen dient dazu, dem Recht auf Freizügigkeit zum Durchbruch zu verhelfen und sicherzustellen, dass Angehörige der am Abkommen beteiligten Staaten wie Inländer behandelt werden. Sein Ziel ist es (Art 8), die Systeme der sozialen Sicherheit zu koordinieren, um eine Gleichbehandlung sowie die Zahlungen von Leistungen an Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien haben, zu gewährleisten. Aus diesem Abkommen kann ebensowenig wie aus der Verordnung 1408/71 (siehe dazu 4 Ob 260/02t) abgeleitet werden, dass ein Vertragsstaat verpflichtet wäre, nationale Normen zu schaffen, wonach Familienleistungen nach Art des Unterhaltsvorschusses nach dem österreichischen UVG lückenlos für jeden nur denkbaren Fall des Entfalls einer Unterhaltsleistung und damit auch für den Fall gewährt werden, dass der Unterhaltspflichtige wegen einer im Ausland verhängten und vollzogenen Haft seine Unterhaltspflicht nicht erfüllen kann.

Mangels einer inländischen Norm, die die Gewährung eines Haftvorschusses auch dann aufträgt, wenn die Haft über den Unterhaltspflichtigen nicht im Inland verhängt und vollstreckt wird, ist der Antrag auf Vorschussgewährung zum Scheitern verurteilt.

Dem unberechtigten Revisionsrekurs der Kinder wird nicht Folge gegeben.

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